Asozial oder ausgegrenzt? Ambivalenz einer Lokalgröße

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Der „Datterich“ – im lokaler Mundart auch „Datterisch“ genannt – ist ein Darmstädter Faktotum, das der lokale Literat Ernst Elias Niebergall im Jahr 1841 schuf. Im Laufe der nunmehr fast zwei Jahrhunderte ist der Datterich angeblich zu einem sinnbild des „typischen“ Darmstädters geworden, und die Darmstädter Spielgesellschaft, eine Vereinigung zur Pfelge von Mundartstücken, betrachtet die Posse als ihr zentrales Stück und bietet sie dem begeisterten Publikum nahezu im jährlichen Rythmus an. Dieses Jahr läuft die Inszenierung wiederum im Staatstheater, aber dieses Mal auch mit aktiver schauspielerischer Unterstützung durch das Theaterensemble. Den Datterich selbst hat Matthias Znedaric übernommen, selbst ein alter Arheilger, und neben ihm spielt noch Gerd K. Wölfle als Bennelbächer mit.

Ensemble

Ensemble

Der Datterich ist ein mittelloser Schnorrer, der nicht nur alles weiß und jeden kennt, sondern sich auch mit tausend Tricks und auch Anbiederungen immer wieder Geld oder geistige Getränke zu beschaffen weiß, so dass er bald dem halben Ort Geld schuldet. Wenn die Gläubiger an seine Tür klopfen ist er entweder todkrank oder kjann unter einem Vorwand gerade noch entschlüfen, nicht ohne die Situation mit großen Worten zu seine Gunsten zu drehen. Auch den jungen Drehergesellen Schmidt, der sich in Marie, die Tochter des Drehermeisters Dummbach verliebt hat, weiß Datterich gleich mit flotten Halbwahrheiten und Prahlereien für sich zu gewinnen und um einige Flaschen zu erleichtern. Als er ihm auch noch dabei helfen will, mit seinen angeblichen Beziehungen und Fähigkeiten die Gunst von Vater Dummbach zu gewinnen, gerät er in den nicht ganz falschen Verdacht, den armen Schmidt ins Verderben zu führen, und mittels eines gefälschten Erpresserbriefes landet er schließlich auf der Polizeistation. Mit dem glücklichen „Happy End“ zwischen Schmidt und Marie hat er nichts zu tun, er wird sogar von der Hochzeitsfeier ausgeschlossen, und sein ewiger Gläubiger Bengler – „isch hätt ihn doch so gern gehaare“ – verpasst ihm zusammen mit seinen Gesellen eine kräftige Abreibungen. Am Ende sitzt Datterich alleine auf der leeren Bühne.

Ehepaar Dummbach (Reiner Maurer, Sandra Russo) mit Tochter Marie (Jana Gieß)

Ehepaar Dummbach (Reiner Maurer, Sandra Russo) mit Tochter Marie (Jana Gieß)

Die neue Inszenierung von David Gieselmann hebt das Stück behutsam ins 20. Jahrhundert, was sich aber im Wesentlichen an einem Telefonat Maries und an ihrem hautengen Kostüüm zeigt. Die Einrichtung der Gaststube bleibt zeitlos kleinbürgerlich, und die Kostüme verweisen zwar auf eine zurückliegende Zeit, könnten aber auch nur einen Retro-Look widerspiegeln. So läuft Datterich in einem langen Pelzmantel herum, der auch heute noch einen „Punk“ zieren könnte. Darüber hinaus führt er eine Musikkapelle ein, die auf die „Handlanger“ des ersten Bildes verweist, aber auf Geige und Gitarre eher gängige Schlagermusik des 20. Jahrhunderts erklingen lässt. Dazu dreht sich die Bühne nach Bedarf und zeigt mal die Vorder- und mal die Rückseite des Lokals, die gleichzeitig als Datterichs Verschlag fungiert. Eine Reihe von Statisten im Hintergrund füllen das Lokal als Hochzeitspaar, Laufkundschaft und Polizisten.

Die Musikeinlagen und der Bühnenwechsel führen zu einer Verlängerung des Stücks, die diesem nicht immer gut tut. Schließlich kennen die typischen „Detterich“-Besucher das Stück fast schon auswendig und wollen es gerne so sehen, wie sie es kennen. Da die „Datterich“-Besucher nicht unbedingt deckungsgleich mit dem Abonnementspublikum sind, werden Änderungen der Inszenierung eher skeptisch aufgenommen. Da kommt das Telefon und andere „anachronistische“ Gags nicht unbedingt gut an. Lieber wartet man auf die bekannten Sprüche und spricht sie im Chor mit.

Datterich (Matthias Znidarec, Mitte) und andere Gasthausbesucher

Datterich (Matthias Znidarec, Mitte) und andere Gasthausbesucher

Gieselmann hat jedoch auch eine etwas ambivalentere Interpertation gewagt. Üblicherweise wird Datterich als unsympathischer Schnorrer dargestellt, der am Ende sein verdientes Fett abkriegt. Die Schadenfreude über die Strafe für die ewige Schnorrerei überwiegt jedes eventuelle Mitgefühl. Das lässt sich noch dadurch unterstützen, dass man der Hauptperson fiese Züge verleiht und die anderen Figuren als bodenständige, grundehrliche Typen konturiert. Gieselmann jedoch unterläuft diese Interpretation, indem er zum Einen Matthias Znidarec einen eher verlorenen, bsiweilen fast verzweifelten Datterich spielen lässt, der nicht weiß, wie er den nächsten Tag überstehen soll. Das zeigt sich nicht in textlichen Änderungen, sondern nur in einer etwas weicheren Zeichnung dieses ambivalenten Charakters. Gleichzeitig werden die anderen Wirtshausbesucher zu latent aggressiven Zeitgenossen, die ihre Stimme auch einmal zu früh erheben. Der Schuster Bengler – hier von einer Frau gespielt – wird zu einem gnadenlosen Vertreter der Selbstjustiz, und Drehermeister Dummbach suhlt sich geradezu im selbstgefälligen Schwadronieren über Gut und Böse. Am Ende wird sogar Schmidt, anfangs argloser Freund des Schlitzohrs, zu einem seiner erklärten Feinde, und reiht sich in die Gemeinde derer ein, die Datterich selbstgerecht aus der Gemeinschaft ausschließen. Bei Gieselmann wird Datterich zwar nicht zum armen Opfer, aber der zu Recht bestrafte Bösewicht ist er auch nicht.

Trotz der guten Ansätze einer neuen Sicht dieses Darmstädter Originals bleibt die Schwäche der Überlänge, die angesichts des zu Genüge bekannten Inhalts und der überschaubaren Dramatik nicht zu übersehen ist. Freundlicher Beifall des Darmstädter Publikums bei der vierten Vorstellung.

Frank Raudszus

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