Das Staatstheater Darmstadt inszeniert Carl Maria von Webers Oper „Der Freischütz“.
Das letzte Mal war diese Oper im Jahr 2003 in Darmstadt zu Beginn der Intendanz von John Dew als temporeiche Inszenierung romantischen Aberglaubens und Gruselns zu sehen. Zum Ende dieser Spielzeit hat sich dann die Regisseurin Eva-Maria Höckmayr derselben Aufgabe gestellt. Ihr zur Seite standen Julia Rösler als Bühnen- und Kostümbildnerin sowie Marc Piollet als Gastdirigent des Staatsorchesters. Die Geschichte um den Jäger Max, der wegen seiner plötzlich verschlechterten Schießkünste um den Probeschuss für die Hochzeit mit Agathe fürchtet und sich deshalb mit Hilfe des undurchsichtigen Kaspar vom Teufel Freikugeln besorgt, bietet sich für eine komische Oper mit zusätzlichen Gruseleffekten geradezu an. Doch wissen viele Zuschauer nicht und vergessen manche Regisseure gerne die Tatsache, dass Webers Libretto auf der Novelle von Johann August Apel basiert, bei der die siebente Freikugel Agathe trifft, deren Eltern an Gram sterben und Max im Irrenhaus landen lässt. Das wohlige Schauern bei Webers Oper, das letzten Endes in ein „Happy End“ mündet und nur den bösen Kaspar dem Teufel überantwortet, bildet bei Apel sozusagen ein strukturelles Element und lässt sich als eine existenzielle Bedrohung des menschlichen Daseins verstehen. Dadurch spielt in Apels Novelle auch Maxens ominöse „Schuld“, die immer wieder beschworen aber nie begründet wird, eine zentrale Rolle, während sie in der Oper nur die ratlose Frage eines unschuldigen Opfers darstellt.
Eva-Maria Höckmayr stellt daher auch konsequent die Novelle in den Mittelpunkt ihrer Inszenierung. Zwar ändert sie nicht das Webersche Libretto hin zu einem düsteren Ende, aber Apels Erzählung überlagert die gesamte Aufführung wie eine latente Drohung. Dazu bedient sie sich eines einfachen Regietricks. Zu Beginn – am Vorabend des Probeschusses – sitzen die Hauptpersonen der Geschichte, unter anderen Max, Agathe, Kaspar und Samiel, in trauter Runde um einen Tisch. Der undurchsichtige Samiel, der hier natürlich für den Teufel steht, erzählt Apels Novelle fast in Form eines Menetekels. Die Geschichte wird sozusagen in sich selbst gespiegelt. Max erkennt sich sofort in der Gestalt des Wilhelm und betrachtet diese Erzählung als böses Omen für den nächsten Tag, aber auch als eine Möglichkeit, den Probeschuss zu bestehen. Hoffnung und Grauen sind also vom ersten Augenblick untrennbar miteinander verbunden. Im weiteren Verlauf der Inszenierung werden die zum jeweiligen Stand der Handlung passenden Teile der Novelle von der Stimme Samiels wiederkehrend aus dem Off vorgetragen und lassen sich dadurch als bohrende Gedanken in Max´ Kopf verstehen. Mit zunehmender Gefahr seines Scheiterns als Schütze und Bräutigam sieht er einerseits die Rettung in den Freikugeln, andererseits aber die moralische Schuld und das mögliche tragische Ende als Konsequenz. Wie immer er sich entscheidet, es wird zu seinem Unglück führen. Damit werden auch die gequälten Gespräche zwischen Max und Agathe dieses sowieso recht textlastigen Librettos nachvollziehbar.
Zur Verstärkung dieses Effekts setzt die Regisseurin Videos ein. Zwar ist diese Bühnentechnik durch übermäßigen Gebrauch durch Frank Castorf und seine Epigonen etwas in Verruf geraten, doch setzt Eva-Maria Höckmayr sie nur sparsam und eher hintergründig ein, indem sie die unergründliche, fast mephistophelische Physiognomie Samiels (Andreas Wellano) auf die Rückwand projiziert. Dafür unterstützt Julia Röslers Bühnenbild das Vexierbild von Realität und Wahn auf eindringliche Weise. Das reale Leben der Protagonisten spielt sich in einem holzgetäfelten Raum im Biedermeierstil ab. Hier ist alles gediegen, überschaubar und begrenzt. Doch sobald die Angst Besitz von den Personen ergreift, dreht sich die Bühne und zeigt eine kalt-weiße Architektur, die sich durch verschiedene rechtwinklige Öffnungen in fernen Tiefen verliert. Von dort her nahen immer wieder die tief sitzenden Ängste in Gestalt bedrohlicher Figuren oder eigener Doppelgänger. Auch die Rückkehr aus diesen unergründlichen Tiefen löst nie Erleichterung aus, sondern die psychische Erstarrung bleibt auch im Biedermeiersalon erhalten. Diesen Part müssen dann aber Musik und Darsteller übernehmen.
Die Musik dieser Oper gilt allgemein als volkstümlich, und Stücke wie der „Jungfernkranz“ oder oder der „Jägerchor“ werden als lebensfrohe Weisen rezipiert. Doch Marc Piollet nimmt das Orchester vor allem bei diesen durch die Rezeption vorbelasteten Stücken auf ein solch kammermusikalisches Niveau zurück, dass sie doppelbödige, bisweilen geradezu bedrohliche Züge annehmen. Nicht der plakativ herausgestellte, eben „wohlige“ Schauer steht im Vordergrund, sondern ein existenzielles Unbehagen. Diese Wirkung wird durch minimal verzögerte und sozusagen „aus der Tiefe kommende“ Einsätze des Orchesters noch verstärkt. Nach einer langen, bereits psychisch angespannten Sprechszene erzeugt das Warten auf die Musik zusätzliche Spannung und ein Gefühl der Bedrohung. Auch die Jäger, dargestellt durch den Chor, erscheinen weniger als Gemeinschaft lustiger Schützen denn als eine festgefügte Gruppe von bewaffneten Männern in dunkelgrünen Kostümen, die eher an das Olivgrün von Kampfanzügen erinnern. Auch hier überlagert das Bedrohungspotential die Friedfertigkeit einer sozialen Gemeinschaft.
Die Regisseurin begegnet der Schwäche der Textlastigkeit und der damit verbundenen langen Sprechphasen mit dem Versuch, Webers Oper zu einem „Gesamtkunstwerk“ im Sinne Richard Wagners umzuformen. Zwar steht ihr dafür kein durchkomponiertes Libretto mit gesungenen Texten zur Verfügung, aber dafür gestaltet sie die Sprechszenen soweit möglich nicht als bloße Fortschreibung der Handlung sondern als künstlerische Elemente. Dabei sind ihr einmal die Wiederholungen des Novellen-Textes aus dem „Off“ und die Video-Einspielungen behilflich, andererseits führt sie jedoch auch die Personen ähnlich wie in Wagner-Opern. Sie plaziert sie mit Vorliebe in einiger Distanz voneinander, um so Spannung aufzubauen, und die Stimmen lässt sie streckenweise verstärken, um nicht nur die Verständlichkeit zu erhöhen sondern um auch den Eindruck einer gesungenen Partie zu simulieren. Die latent deklamatorische Sprechweise der Protagonisten in diesen Szenen unterstreicht diesen Ansatz und erzielt eine künstlerisch aufgeladene Wirkung des gesprochenen Wortes, ganz im Sinne Richard Wagners.
Mit diesem gesamtkünstlerischen Ansatz gelingt es der Regisseurin tatsächlich, Webers Oper eine neue Färbung zu verleihen, wenn auch unter weitgehender Aufopferung des so beliebten komisch-volkstümlichen Charakters. Diese Inszenierung fördert die Unsicherheit aller menschlichen Existenz und die dünne Tünche aller Zivilisation zutage und legt die elementaren Ängste der Menschen offen. Da ist es nur konsequent, auch die Kostüme weitgehend in die Jetztzeit zu übertragen. Das geschieht zwar nicht plakativ und mit politischem Impetus, aber es soll zeigen, dass es hier nicht um die Befindlicheiten des Biedermeiers – speziell des Aberglaubens – geht, sondern um zeitlose Grundkonstellation der menschlichen Existenz, die eben nicht durch eine erkennbar positiv gesinnte höhere Instanz abgesichert ist. Man braucht nur nach Syrien, Irak, Afghanistan oder sogar nach Griechenland oder die Ukraine zu schauen, um diese bodenlose Unischerheit nachzuempfinden. Die Leistung der Regisseurin besteht darin, diese Assoziationen zu wecken, ohne sie plakativ an den Bühnenrand zu malen. Ob sie wirklich bei der Inszenierung an die erwähnten aktuellen Unruheherde gedacht hat, ist dabei irrelevant. Allein, dass diese Assoziationen der existenziellen Unsicherheit geweckt werden, kann man als eine Leistung betrachten.
Die Darsteller folgen diesem interpretatorischen Ansatz konsequent. Mark Adler ist ein irreparabel beschädigter, wenn nicht zerstörter Max, auch wenn dieser am Ende auf Agathe hoffen darf. Sowohl sängerisch als auch darstellerisch bringt er dies überzeugend zum Ausdruck. Susanne Serfling folgt ihm dabei als Agathe fast wie ein darstellerischer Zwilling und verstärkt das Gefühl von Not und Angst noch. Die beiden bauen zusammen einen bis zum Schluss haltenden Spannungsbogen auf. Als Gegenpart besetzt Jana Baumeister die Rolle der geradezu verzweifelt optimistischen Zofe Ännchen, die das Unheil ahnt aber am liebsten weglachen möchte. Renatus Mészár gibt einen anfangs hemdsärmeligen und schulterklopfenden Kaspar, der später jedoch in eine geradezu verzweifelte Rücksichtslosigkeit abgleitet und zum Schluss dem Wahnsinn verfällt. Dass er anstelle Agathe erschossen wird, ist eine so unlogische wie angestrengte Verbiegung der ursprünglichen Novelle. Carl Maria von Weber dürfte dies wohl nur dem Publikum zuliebe getan und dabei wohl wenig Freude gehabt haben. Andreas Wellano spielt den Samiel als undurchsichtige Figur, Stephan Bootz den Eremiten – am Ende eine Art „deus ex machina“ – als bayrischen Buben in Kniebundhose. Thomas Mehnert verleiht dem Oberförster Kuno eine patriarchalische aber nie karikierende Note, und David Pichlmaier tritt als Ahnherr zwar mit der Steifheit einer entfernten Autorität auf, gibt dieser Figur jedoch so etwas wie Betroffenheit ob der unerhörten Ereignisse mit, die er nur mühsam hinter seiner autoritären Maske verbirgt.
Herauszuheben ist auch der Chor, der hier wieder eine wichtige Funktion erfüllt und in vielfältiger Gestalt auftritt. Da die Jäger nicht nur Hintergrund sind, sondern bewusst als handelndes Element – mit einigen hervortretenden Einzelfiguren – auftreten, sind hier auch die darstellerischen Fähigkeiten der Chormitglieder und die Synchronisation der Auftritte gefordert. Dieses aktive Agieren des Chores intensiviert noch den bedrohlichen und hintergründigen Charakter der Oper, der sich in dieser Inszenierung überzeugend niederschlägt.
Das Publikum konnte sich nur teilweise mit dieser Inszenierung anfreunden. Neben einhelligem Beifall für die Darsteller und das Orchester gab es geteilte „Bravos“ und „Buhs“ für die Regie. Das lag wohl an der Erwartungshaltung des Publikums, die den „Freischütz“ traditionell eher als abergläubischen Schwank denn als tragische Oper ansieht.
Frank Raudszus
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