Vexierspiel um Musik und Religion

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Das Rheingau-Musik-Festival eröffnet die diesjährige Saison mit Wagner und Rossini.

Das Wetterglück ist in diesem Jahr mit den Veranstaltern des Rheingau-Musik-Festivals – jedenfalls am Eröffnungstag. Hatte der Himmel noch am Nachmittag seine Schleusen zu unwetterartigen Regenfällen mit Blitz und Donner geöffnet, so herrschte am Abend im wahrsten Sinne des Wortes wieder eitel Sonnenschein, und die Gäste des Eröffnungskonzerts konnten in sommerlicher Kleidung von ihren geparkten Wagen zur Basilika des Klosters Eberbach schlendern. Der Regen hatte nur für ein wenig Abkühlung gesorgt, was den meisten Besuchern wohl recht gewesen sein dürfte.

Die Veranstalter hatten in diesem Jahr ein fast doppelbödiges Eröffnungsprogramm zusammengestellt. Die Namen der beiden Komponisten – Wagner und Rossini – schienen Altbekanntes anzukündigen, denn schließlich sind beide keine neuen Entdeckungen fleißiger Musikwissenschaftler sondern gehören zum Standardrepertoire aller Konzerthäuser. Doch so, wie sie an diesem Abend präsentiert wurden, verband sie eine besondere Botschaft, die neue Perspektiven eröffneten.

Marina Rebeka, Sopran Marina Comparato, Mezzosopran Michele Angelini, Tenor Marco Spotti, Bass MDR Rundfunkchor hr-Sinfonieorchester Andrés Orozco-Estrada, Leitung

Basilika des Klosters Eberbach
hr-Sinfonieorchester
Andrés Orozco-Estrada, Leitung

Richard Wagner ist nicht als gläubiger Christ im Sinne religiöser Unterwürfigkeit bekannt. Politisch eher ein Rebell gegen Autoritäten, wenn auch bisweilen im Sinne eines Salonsozialisten, hielt er es mehr mit völkischen, vor allem germanischen Mythen als mit der buchstabengetreuen Anbetung der christlichen Ikonen. In seinen Opern spielt die Institution der Kirche jedenfalls keine Rolle. Gioachino Rossini dagegen war lange Zeit ein getreuer Gefolgsmann der katholischen Kirche und zeichnete sich nicht durch revolutionäre Ansichten oder Aktionen aus. Er komponierte sogar eine beträchtliche Anzahl geistlicher Werke. Beide Komponisten wirkten eine Zeit lang parallel, wobei Rossini sein Opernschaffen bereits beendet hatte, bevor Wagner damit begann. Auf den ersten Blick können zwei Opernkomponisten unterschiedlicher nicht sein: Rossini mit einer Beschwingtheit, die dem Leben die heiteren und ironischen Seiten abgewinnt, Richard Wagner mit seinem wahrhaft teutonischen Ernst und dem Drang zum ultimativen, nicht mehr zu überbietenden Kunstwerk. Rossini sah die Welt durch die Musik, Wagner sah sich in seinen Werken.

Das Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks übernimmt traditionell das Eröffnungskonzert des Festivals im Kloster Eberbach und spielte in diesem Jahr unter seinem neuen Chefdirigenten Andrés Orozco-Estrada. Der erste Teil bestand aus zwei Vorspielen zu Wagner-Opern, dem Vorspiel zu „Parsifal“ und der Ouvertüre zu „Tannhäuser“. Man beachte die unterschiedliche Bezeichnung der jeweiligen Eröffnungsmusik. Wagner verzichtete bei seinem letzten Werk bewusst auf den Begriff „Ouvertüre“, weil dieser zu sehr an die Oper mit all ihren Schattierung der Weltlichkeit erinnert. „Parsifal“ war für ihn jedoch keine Oper im landläufigen Sinne sondern mehr eine abschließende Messe, nach der eigentlich nichts mehr folgen kann. Da fragte man sich natürlich, warum zuerst dieses Vorspiel und erst danach die – chronologisch vorangehende – Ouvertüre zu „Tannhäuser“ erklang. Erst als letztere einsetzte, wurde diese Wahl nachvollziehbar. Das Vorspiel zu „ParsiFal“ ist von abgehobener Schlichtheit und Strenge und verlangt Versenkung und Verinnerlichung. Im Grunde genommen stellt es metaphysische Musik dar, die jeder weltlichen Sinnlichkeit entsagt und eine geradezu jenseitige Verklärung zum Ausdruck bringen soll. Diese Musik hätte jedoch nach der „Tannhäuser“-Ouvertüre ihre Wirkung eingebüsst, weil jene mit ihrer kraftvollen, sinnlich-bewegten Dynamik die Rezeptionsfähigkeit für die Strenge des „Parsifal“-Vorspiels eingeschränkt wenn nicht gar zerstört hätte. So konnten sich die Zuhörer ganz auf die sogartige Wirkung dieser Musik mit ihren langen, ruhigen, aber deswegen nicht weniger intensiven Themenbögen einlassen und einen Eindruck davon gewinnen, was Wagner damit zum Ausdruck bringen wollte. Die darauf folgende Ouvertüre wirkte dann wie ein Aufatmen, ein Loslassen und eine Rückkehr ins Leben. Denn darum geht es ja im „Tannhäuser“: um den Wettstreit sowie um den Konflikt zwischen asketischer Kunst und sinnlichem Weltgenuss – Stichwort „Venusberg“.

Gerade im „Parsifal“ wird Richard Wagner zum religiösen Komponisten, obwohl diese Religiosität nicht der institutionell verordneten der Kirche entspricht sondern einem ganz persönlichen Verhältnis zum Absoluten und Transzendenten. Wagner fasst in diesem Werk – und stellvertretend dafür im Vorspiel – sein persönliches Credo über die Welt, den Menschen und die Kunst zusammen: Loslösung von allem Individuellen, Ephemeren und Sinnlichen und Hinwendung zu einer Metaphysik der Erhöhung und Entsagung. Daher auch die über längere Zeit nahezu symbiotische Verbindung zwischen Wagner und Nietzsche.

Andrés Orozco-Estrada lenkte das hr-Orchester mit fast magischer Körpersprache. Jede seiner Bewegungen glich einer Beschwörung, und das Orchester ließ sich gerne von ihm bannen. Das „Parsifal“-Vorspiel war ein einziges jenseitiges Sehnen, jedoch bereits mit dem Anflug einer höheren Seligkeit, wie sie ein unmittelbar vor den Augen stehendes Ziel erwecken mag. Von dieser Spannung lösten sich die Musiker in der „Tannhäuser“-Ouvertüre, bei der sie auch die sinnliche Seite der Musik wieder zu ihrem Recht kommen lassen konnten.

Marina Rebeka, Sopran Marina Comparato, Mezzosopran Michele Angelini, Tenor Marco Spotti, Bass MDR Rundfunkchor hr-Sinfonieorchester Andrés Orozco-Estrada, Leitung

Marina Rebeka, Sopran
Marina Comparato, Mezzosopran
Michele Angelini, Tenor
Marco Spotti, Bass
MDR Rundfunkchor
hr-Sinfonieorchester
Andrés Orozco-Estrada, Leitung

Der scheinbar angepasste Rossini schaffte es auf ganz andere Art und Weise, die geistigen und geistlichen Konventionen seiner Zeit zu unterlaufen. Geistliche Musik war bis dahin stets von einem tiefen Ernst geprägt. Man denke nur an die Requiems verschiedener Komponisten oder die großen Messen Johann Sebastian Bachs. Humor und Ironie hatten hier nie Platz, ging es doch um Leiden und Tod Christi und die Sünden der Welt. Das „Stabat mater“ war ursprünglich ein mitteltalterliches Gedicht in lateinischer Sprache über die Leiden Marias angesichts ihres am Kreuz sterbenden Sohnes. Zwischen 1480 und 2007 sind etwa fünfzig Vertonungen dieses Gedichts entstanden, unter anderen von Palestrina, Johann Sebastian Bach, Joseph Haydn, Franz Schubert – und eben Rossini. Letzterer war jedoch nicht bereit, sich den tiefernsten Interpretationen seiner Vorgänger anzuschließen, sondern blieb seiner Musikauffassung treu, die sich in 39 Opern gefestigt hatte. So vertonte er dieses Gedicht im Stil einer typischen Rossini-Oper, das heißt, er entriss dem Text die jenseitige, am Leiden orientierte Thematik und setzte stattdessen in seiner Version eine am Leben orientierte Sicht durch. Man könnte dies so interpretieren, dass der Tod als natürliches Ende des Lebens auch dessen unlösbarer Teil ist und zur Natur des Menschen gehört. Übergroßes metaphysisches Leiden ist angesichts dieser unbestreitbaren Tatsache fast schon lächerlich. Man kennt diese Haltung aus dem „schwarzen Humor“, der sich am überzeugendsten im englischen Humor niederschlägt, der den Tod durchaus zum Gegenstand eines Witzes machen kann. Man könnte durchaus argumentieren, dass der christliche Mensch in der übersteigerten Trauer über den Tod Christi am Kreuz nichts anderes als die eigene Sterblichkeit beweint. Rossini scheint diese Erkenntnis bewusst in seinem „Stabat mater“ umgesetzt zu haben, indem er konsequent melodische und harmonische Figuren aus seinem Opernschaffen übernahm und damit dem Tod ein Stück seiner Alltäglichkeit zurückgab. Der scheinbar „linientreue“ Katholik erweist sich hier sozusagen als Ironiker, was natürlich bei seinen Zeitgenossen gar nicht gut ankam, warfen sie ihm doch geradezu ein Sakrileg vor.

Das „Stabat mater“ wird abwechselnd von einem Sopran, einem Mezzosopran, einem Tenor und einem Bass sowie einem Chor gesungen. Das ergibt streckenweise großartige, mal düstere, mal aufbegehrende, mal resignierende musikalische Momente. Und dennoch schleicht sich immer wieder die Opernmusik hinein, vor allem in die Zwischen- und Vorspiele. Die Sänger und Sängerinnen füllten die Basilika mit voluminösen und in allen Lagen sicheren Stimmen. Die Lettin Marina Rebeka brillierte mit einem strahlenden Sopran, Marina Comparato aus dem italienischen Perugia lieferte dazu das Gegengewicht eines warmen Mezzosoprans. Bei den Männern überzeugte der krankheitshalber kurzfristig eingesprungene Michele Angelini mit seinem durchsetzungsstarken Tenor, und Marco Spotti, wie Angelini Italiener, füllte die unteren Lagen mit einem ebenso präsenten Bass. Dazu lieferte der Chor des MDR-Rundfunks eine so präzise wie stimmstarke Ergänzung, die nicht nur einen vokalen Hintergrund darstellte sondern dem Ganzen erst die musikalische Fülle gab. Das Orchester war die verbindende Instanz, die nicht nur für die Zwischenspiele zuständig war, sondern auch die Vokalisten harmonisch stützte und die Klangfarben eines großen Orchesters beisteuerte.

Das Publikum zeigte sich begeistert und dankte den Künstlern mit stehenden Ovationen.

Frank Raudszus

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