Hans Magnus Enzensberger, Jahrgang 1929, gehört zu den profiliertesten deutschen Schriftstellern und Intellektuellen des späten 20. Jahrhunderts und engagierte sich in den Sechzigern und Siebzigern vor allem für linke Protestgruppen. In dem vorliegenden Band gibt er zum ersten Mal eine autobiographischen Rückblick auf diese nicht nur für die BRD sondern auch für ihn „tumultuösen“ Jahre.
Die Aufzeichnungen beginnen mit einer Reise in die Sowjetunion Mitte der sechziger Jahre im Rahmen einer Einladung für bekannte westeuropäische Schriftsteller, zu denen unter anderen auch Jean Paul Sartre, ebenfalls ein erklärter Linker, gehörte. Enzensberger betrachtet sich in koketter Bescheidenheit wegen seiner Jugend und angeblichen Bedeutungslosigkeit als diesem Kreis eigentlich gar nicht zugehörig, reist aber gerne mit. Schon hier überlegt der Leser, ob diese Bescheidenheit von heute – aus der Rückschau – datiert oder ihn schon damals ausgezeichnet hat. Man darf daran zweifeln, dass er sich damals wirklich als kleines Licht betrachtete. Ähnliches gilt für seine Beobachtungen, denn diese werfen ein ziemliches schlechtes Licht auf die Sowjetunion: Trostlosigkeit, Mangelwirtschaft, Repression, Duckmäusertum, Überwachung und ideologischer Realitätsverlust prägten die Welt seiner Gastgeber, wie Enzensberger mit glasklarem Blick feststellt(e). Damals hat man jedoch solche Töne nicht von ihm gehört, und heute sind sie nach dem Zusammenbruch des „real existierenden“ Sozialismus Allgemeingut.
Bei mehreren dieser Reisen lernt er auch eine junge Russin kennen, trennt sich von seiner norwegischen Frau – ein Kind hat er auch – und heiratet schließlich die Russin. Dann nimmt er – ausgerechnet zur Zeit des kulminierenden Vietnam-Krieges – eine Einladung als Gastprofessor an einer US-Universität an, die ihn und seine junge Frau für ein Jahr finanziell großzügig ausstattet. Doch kurz nach dem Antritt seiner Tätigkeit erhält er eine Einladung nach Cuba, das nach Fidel Castros Revolution und dem „heldenhaften“ Widerstand gegen die USA – Stichwort „Schweinebucht“ – vor allem für deutsche Linksintellektuelle ideologischen Fluchtpunkt und visionäre Referenz gleichermaßen darstellte, und verlässt seine amerikanischen Gastgeber Hals über Kopf und mit dürftigen Erklärungen. In Cuba entlarvt Enzensberger mit souveräner Abgeklärtheit all die Widersprüche, ideologischen Phrasen und die ökonomische Inkompetenz der Revolutionsregierung, wobei man sich wiederum fragt: heute oder damals? Denn heute wissen alle, dass Cuba gescheitert ist und nach dem Versiegen der sowjetischen Subventionsquelle buchstäblich am Hungertuch nagt, da es keine nennenswerte volkswirtschaftliche Wertschöpfung vorzuweisen hat. Natürlich lesen sich Enzensbergers desillusionierende Beschreibungen des verarmten Landes und der repressiven Regierung immer noch sehr gut, und leicht kann man der Vorstellung erliegen, hier erzähle einer direkt aus der damaligen Sicht und schlage sozusagen der versammelten internationalen Linken ihre eigenen Illusionen um die Ohren. Doch leider kann man sich an ähnliche Berichte Enzensbergers aus der damaligen Zeit – genau wie im Fall der Sowjetunion – nicht erinnern. Nach späteren Besuchen im Mutterland des Sozialismus hat er dann wohl einige kritische Bemerkungen von sich gegeben und auch offene Briefe gegen bestimmte repressive Akte der sowjetischen Regierung unterzeichnet, wodurch er dort angeblich in Ungnade fiel. Das wollen wir ihm durchaus glauben, aber es ist ein Unterschied, ob ein engagierter Linker in den späten sechziger Jahren die Fassaden der potemkinschen sozialistischen Dörfer einreißt oder dies knappe fünfzig Jahre später – sozusagen am toten Objekt – nachholt.
Später ging es dann auch nach Kasachstan, damals noch eine sowjetische Republik, und dort erlebte er dieselbe trostlose Repression und Realitätsverleugnung. Auch Cuba wurde er nicht los, weil er dort, wie auch in der Sowjetunion, integre Schriftsteller kennengelernt hatte, die mit den jeweiligen Regimes innerlich abgeschlossen und sich in die innere Emigration zurückgezogen hatten. Für diese Opfer der Revolution war natürlich jeder Kontakt mit einem kritischen westlichen Schriftsteller ein Gottesgeschenk, wobei sie natürlich selbst nicht wussten, gegen wen sich diese kritische Denkart Enzensbergers wirklich richtete. Denn öffentlich konnte er sie nicht ohne ernsthafte oder zumindest unangenehmen Konsequenzen – und wenn nur bei den linken Genossen zu Hause – äußern, und auch im kleinen Kreis im Land der Gastgeber war er nie vor Spitzeln sicher. So dürfte er sich mit Kritik dort ziemlich zurückgehalten haben und seine Diskussionen mit den Schriftstellerkollegen weitgehend aufs Literarische beschränkt haben. Seine Berichte lassen sich auf jeden Fall in dieser Richtung deuten.
Einen wesentlichen Teil bildet auch die tumultuöse Beziehung mit seiner russischen Ehefrau Mascha, die sich im Westen nicht zurechtfand und von der er sich nach wenigen Jahren wieder scheiden ließ. Es ist zwar durchaus legitim und nachvollziehbar, einen solchen Rückblick auch mit privaten, ja: intimen Details anzureichern, und Enzensberger ist auf jeden Fall weit entfernt vom Verdacht der „Boulevardisierung“ dieses Resumees der sechziger Jahre. Aber bisweilen fragt man sich doch nach dem Erkenntniswert dieser privaten Geschichten für die Leser.
Enzensbergers Aufzeichnungen erstrecken sich nur über wenige Jahre, etwa von 1963 bis 1970. Die Zeit der RAF streift er nur in Form früher Kontakte zu der noch nicht so genannten „Baader-Meinhof-Gruppe“, wobei er den frühen Terror-Schülern zwar kurzfristig Hilfe gewährt, sie dann aber wieder wegschickt, offenbar, weil er die Konsequenzen für sich abwägt. Überhaupt war Enzensberger immer dann weit weg, wenn irgendwelche Aktionen der von ihm verbal unterstützten linken Protestler anliefen. Wir wollen ihm sogar glauben, dass sich dieses „Unbeteiligtsein“ an allen eventuell strafrechtlich relevanten Ereignissen rein zufällig ergeben hat, aber es bleibt dennoch ein leicht fades Gefühl im Mund, wenn jemand (damals jedenfalls) verbal der APO (nicht unbedingt den späteren Terroristen!) den Rücken stärkte, dann aber bei allen konkreten Aktionen durch Abwesenheit glänzte. Besonders delikat, wenn er zu den fraglichen Zeiten als Gast in „Kernländern“ des Sozialismus weilte, wie er selbst schreibt.
Trotz dieser kritischen Einwände gegen den Grundtenor seines Buches muss man dem Autor einräumen, dass er viele Befindlichkeiten und Zustände der damaligen Zeit auf den Punkt bringt, von den restaurativen Zuständen in der BRD der frühen sechziger Jahre über die Notstandsgesetze bis hin zum Beginn der heißen Phase der RAF. Das ist lebendig und mit viel Einsicht in die jeweiligen Verhältnisse und Querbeziehungen geschrieben, und man kann den meisten Feststellungen in ihrer lakonischen Form nur zustimmen. Die allgemeinen Betrachtungen über verschiedene Ereignisse, gesellschaftliche Verhältnisse und ideologische Auswüchse der siebziger Jahre in einer Art Epilog („1970ff“) wirken jedoch aufgesetzt und in ihrer plakativen Kürze fast schon wie Plattitüden, ohne ihm in der Sache dort widersprechen zu wollen. Heutige Erkenntnisse über diese Zeit, auch wenn sie als Notizen aus dieser Zeit vorgestellt werden, in fast lexikalischer Gestalt wirken dann doch etwas zu wohlfeil, weil sie nur das wiederholen, was eh schon allen klar ist.
Für junge Menschen, denen die sechziger Jahre nichts sagen, ist dieses Buch allerdings eine gute und leicht geschriebene subjektive(?) Einführung in eine Zeit, die tatsächlich von Tumulten aller Art geprägt war. Aber ist das heute anders – Griechenland, Ukraine, Syrien, Irak, ff.??
Das Buch „Tumult“ ist im Suhrkamp-Verlag erschienen, umfasst 287 Seiten und kostet 21,95 Euro.
Frank Raudszus
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