Das Staatstheater Darmstadt bringt Albert Sánchez Piñols Roman „Im Rausch der Stille“ auf die Bühne.
Nach Flauberts „Madame Bovary“ findet in der neuen Spielzeit bereits der zweite Roman seinen Weg auf die Theaterbühne. In Piñols Roman geht es konkret um einen irischen Freiheitskämpfer, der des Mordens und Kämpfens überdrüssig ist und sich für ein Jahr als Wetterbeobachter auf einer einsamen Insel nahe der Antarktis verdingt. Seinen Vorgänger findet er nicht mehr vor, dafür aber einen nicht ansprechbaren und offenbar geistig verwirrten Mann in dem Leuchtturm der Insel. Als er in der ersten Nacht in seinem kleinen Haus von seltsamen Zwitterwesen zwischen Frosch und Mensch angegriffen wird, schießt er erst um sich und sucht dann Schutz bei dem Mann im Leuchtturm, der ihn erst nicht aufnehmen will und den er fast erschießt. Doch dann beschließen sie beide, mit den Vorräten und den Waffen des Wetterbeobachters die nächtlich anrückenden Froschmonster aus der sicheren Festung des Leuchtturms abzuwehren. Diese nächtlichen Kämpfe werden bald zur Routine, und jede Nacht schießen die beiden Dutzende der Monster ab, die ihre eigenen Toten scheinbar vertilgen. Die Sicht der beiden Männer im Leuchtturm erweist sich schnell als die anthropologische Sicht des „weißen Mannes“, der alles andersartig Belebte im Reich der Tiere und Monster verortet. Das erinnert an die Konquistadoren in Süd- und Mittelamerika, an die Europäer in Afrika und an die Siedler in Nordamerika. Indianer und Schwarze galten ihnen ebenfalls als „Untermenschen“ ohne Recht auf das Land, das die Weißen aus der Ferne plötzlich besetzten.
Der Leuchtturmbewohner erweist sich bald als der vorherige Wetterbeobachter Batis Caffó, der sich vor den Froschmonstern in den wegen veränderter Schiffsrouten sinnlos gewordenen und unbemannten Leuchtturm gerettet hatte. Batis hat sich auf irgendeine Woche ein weibliches Wesen aus dem Stamm der Froschmenschen zugelegt, das ihm etwas zur Hand geht und ihm offensichtlich auch für gewisse Stunden zur Verfügung steht. Der Protagonist findet diese Beziehung zu Beginn seltsam wenn nicht abstoßend, verfällt jedoch nach einiger Zeit selbst der ungreifbaren erotischen Wirkung des weiblichen Wesens. Die Einsamkeit verschiebt im Laufe der Zeit die moralischen Werte und Grenzen, und das äußerliche Erscheinungsbild der beiden Männer – ungepflegte Bärte und Haare, dreckige Kleidung – spiegelt den schleichenden inneren Verfall wider.
Als die Munition zu Ende zu gehen droht, beschließen die beiden, aus einem dicht am Ufer liegenden Wrack Sprengstoff zu holen und damit größere Mengen der „Monster“ gleichzeitig zu erledigen. Das Unternehmen gelingt, doch nach kurzem Aufatmen wird dem Protagonisten klar, dass die Froschmenschen immer wieder kommen werden. Langsam beginnt er, an dem sinnlosen Morden zu zweifeln, wobei die erotische Bindung an das weibliche Wesen eine gewisse Rolle spielt. Er beginnt an dem Recht der Eindringlinge – das sind er und sein Kumpel – zu zweifeln und sieht die nächtlichen Angriffe zunehmend als den Versuch der „Ureinwohner“, ihre Insel von den Fremdlingen zu befreien. Batis, der dieser Sichtweise nicht folgen kann, verlässt irgendwann aus Perspektivlosigkeit und Verzweiflung den Leuchtturm und wird wahrscheinlich ein Opfer der Gegner. Der Erzähler dagegen verkriecht sich in zunehmender Verwirrung ins Bett, und als schließlich der nächste Wetterbeobachter eintrifft, wiederholt sich die Szene vom Anfang.
Man kann diesen Roman als Anklage gegen den Imperialismus des „weißen Mannes“ betrachten, der bedenkenlos alles in Besitz nimmt, was er vorfindet, solange er auf keine technisch (und militärisch) überlegene Zivilisation trifft. Die dabei bedenkenlos angewendete Gewalt zeigt die Arroganz und den Überlegenheitswahn desjenigen, der zufällig über entsprechende Waffen verfügt.
Es bieten jedoch auch andere Deutungsmuster an. Die „Monster“ kann man als die inneren Ängste und Traumata des Menschen betrachten, die immer dann zum Vorschein kommen, wenn der Mensch einsam und auf sich zurückgeworfen ist. Dann tauchen – vornehmlich nachts – die Monster aus den Tiefen der Seele auf, und das Meer ist dabei eine Metapher für die Seele. Man kann diese Monster mit Gewalt – Medikamente und Drogen – bekämpfen, sie aber dadurch nicht vertreiben. In der konkreten Handlung zündet Batis die Sprengladungen mit den leicht brennbaren Büchern des Wetterbeobachters, und dieses Vorgehen lässt sich nahtlos in die psychologische Parabel einbetten: Bücher sind als Zünder für die Befreiung von den inneren Ängsten eine Hoffnung, doch sie sind nicht allmächtig. Am Ende gehören die seelischen Monster zum innersten Wesen des Menschen, und er muss mit ihnen bis an sein Lebensende auskommen. Wer das nicht kann – Batis Caffó -, geht früher zugrunde. Die Wiederholungsschleife am Ende verweist auf die endlose Wiederkehr des Gleichen in der Geschichte der Menschen: Gewalt gegen andere und sich selbst aus Angst.
Regisseur Samuel Hof hat sich für diese Inszenierung einiges einfallen lassen. Die namenlose weibliche Froschmenschen-Figur (Anna Illenberger) legt er als fremdartiges doch ästhetisch ansprechendes Wesen mit geschupptem, eng anliegendem Body und mit einer Halbmaske an, die ihre Stimme nur zu betörenden Gesängen einsetzt. Dazu spielt ein ebenfalls fischartig transparent gekleideter Mann (Michael Fiedler) auf dem Keyboard und dem Synthesizer. Diese gesanglichen Einlagen, verbunden mit verschiedenen Video-Einspielungen auf der Rückwand, üben eine starke Wirkung aus und verlagern die Aufführung streckenweise in eine von menschlicher Rationalität nicht erfassbare Zwischenwelt. Die anfängliche Dissonanz zwischen den beiden Männern spiegelt sich in einem Gazevorhang wieder, der Rationalität und dumpfe, angstgetriebene Abwehrreaktion voneinander trennt. Bühne und Kostüme von Nina Malotta zeichnen sich durch Kargheit und Kompromisslosigkeit aus. Der Leuchtturm, ein einfaches, dreistöckiges Gerüst, wird zum Symbol einer Zivilisation, die sich in dieser vermeintlich feindlichen Umwelt nur durch Gewalt halten kann, und die Kostüme spiegeln den moralischen Verfall der beiden Protagonisten wider.
Stefan Schuster als Batis Caffó und Folkert Dücker als der ankommende Wetterbeobachter verleihen dem spannungsgeladenen und verzweifelten Zusammenleben der beiden überzeugenden Ausdruck. Vor allem Stefan Schuster glänzt mit einer urwüchsigen, sich allen zivilisatorischen Überbaus entledigenden Batis, dem es nur noch ums Überleben geht, obwohl er gerade an dieses schon lange nicht mehr glaubt. Folkert Dücker ist lange Zeit der rationale, nachdenkende Mensch, der Reste von Strukturen erhalten oder neue schaffen will, aber zunehmend an der Realität scheitert. Am Ende steht seine Figur so verzweifelt da wie Batis Caffó zu Beginn.
Über lange Strecken, vor allm im ersten Teil, überzeugt diese Inszenierung; im zweiten Teil treten dann jedoch unübersehbare Längen auf, wenn nach der Sprengstoffaktion nichts mehr geschieht und die beiden nur noch auf das Ende warten. Zum Schluss setzt Folkert Dücker zu einem endlos anmutenden Monolog an, in dem er dieselben Sätze immer wieder vor sich herbrummelt, ohne Reaktion seiner weiblichen Mitbewohnerin und ohne eigenen Erkenntnisgewinn. Den zweiten Teil hätte man deutlich kürzen können. Noch besser wäre es wahrscheinlich gewesen, das ganze Stück vom Ende her zu kürzen und auf die Pause zu verzichten. So jedoch zeigte das leider nicht sehr zahlreich erschienene Premierenpublikum deutliche Ermüdungserscheinungen, die sich in der überschaubaren Stärke des Beifalls niederschlugen. Schade eigentlich, denn das Stück hat etwas zu sagen und zeigt auch deutliche Stärken.
Frank Raudszus
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