Das Staatstheater Darmstadt zeigt die Frankfurter Inszenierung von Günter Grass´“Blechtrommel“.
Eigentlich war für den 23. Mai die Premiere von „Orestes“ geplant, musste jedoch wegen Erkrankung der Hauptdarstellerin kurzfristig abgesagt werden. Doch Schauspieldirektor Jonas Zipf gelang es, die hoch gelobte Bühnenfassung der „Blechtrommel“ von Oliver Reese am Frankfurter Schauspiel für diesen Abend nach Darmstadt zu holen. Ersatz? Von wegen! Ohne die Inszenierung von „Orestes“ in irgendeiner Weise diskreditieren zu wollen – schließlich kennen wir sie nicht -, lässt sich mit Fug und Recht sagen, dass sich diese kurzfristige Spielplanänderung als voller Erfolg erwies.
Oliver Reese hat die Inszenierung des Romans als szenische Lesung angelegt, bei der ein einziger Schauspieler (Nico Holonics) eine stark gekürzte Version des Romans vorträgt. Allerdings liest Holonics den Text nicht vom Blatt sondern lebt ihn buchstäblich vor. Dazu hat ihm Daniel Wollenzin ein Bühnenbild geschaffen, das auch in das kleinste Theater passt und an Einfachheit kaum zu überbieten ist. Eine rechteckige, mit braunem Sand gefüllte Fläche stellt die Lebensbühne des Oskar Matzerath dar, und eine rechteckige Grube in dieser Fläche steht für die Gräber der Verwandten, die Oskar in den Tod begleitet und dient gleichzeitig als Quelle immer neuer Blechtrommeln für den kleinen Protest-Trommler.
Nico Holonics tritt zu Beginn in der Kinderkleidung der Zwischenkriegszeit auf, und die ersten Sätze – „Wie fange ich an?“ trägt er wie ein schüchternes Schulkind vor: unter sich schauend und mit den Händen an der Hosennaht spielend. Dann befreit er sich von diesem vermeintlichen Lampenfieber und erzählt von seiner Großmutter Bronski, die dem flüchtigen Koljaiczek unter ihren vier Röcken Schutz gegen die Polizei gewährt und neun Monate später Oskar Matzeraths Mutter zur Welt bringt. Weiter geht die Geschichte mit Oskars Zeugung und Geburt, wobei die beiden Herren Matzerath und Bronski eine Rolle spielen. Der eine verleiht ihm den Nachnamen und der andere die blauen Augen. Oskar trifft die Entscheidung, ab dem dritten Geburtstag nicht mehr zu wachsen und stattdessen die Wechselfälle des Lebens mit seiner Blechtrommel zu kommentieren. Außerdem hat er festgestellt, dass er mit seiner Kinderstimme Glas zum Bersten bringen kann, und nutzt diese Fähigkeit bei jeder sich bietenden Gelegenheit.
So gehen die Jahre vorbei, und Oskar beobachtet die Welt um sich sehr genau: die Schule mit einer überforderten Lehrer, die „ménage à trois“ zwischen seiner Mutter, Matzerath und Bronski, den frühen Tod der Mutter bei einem Abtreibungsversuch durch übermäßiges Fischessen, Bronskis Ermordung durch die Nazis, als dieser ihm eine neue Blechtrommel besorgen will, und schließlich auch Matzeraths Tod. Alle begleitet er zu der kleinen rechteckigen Grube, und erst, als alle seine Vorfahren mit ihren persönlichen Schwächen und politischen Fehlern gestorben sind, entsorgt er seine Blechtrommel und beschließt, nun endlich über die Gnom-Größe von einem knappen Meter hinaus zu wachsen. Die Parabel auf die unselige deutsche Geschichte vom späten Kaiserreich bis zum Tiefpunkt im Jahr 1945 könnte deutlicher nicht sein.
Nico Holonics zündet ein wahres Feuerwerk der Schauspielerei. Anfangs ist er noch der kleine Junge mit all den verspielten und spontanen Grimassen und Körperverrenkungen. Später ist er zwar noch klein, durchschaut aber seine Umwelt – erst die Mutter und die beiden Onkel, dann die Politik – mit glasklarem Blick. Doch er verbirgt sich hinter seinem vermeintlichen Kindsein, wobei Holonics die wachsende Erkenntnis in einem Kinderkörper mit einer geradezu magischen Ambivalenz verkörpert. Weiterhin ist der zwergenhafte Wuchs des Protagonisten der Schwerpunkt seiner Darstellung, doch zunehmend mit messerscharfem Blick gepaart. Die Diskrepanz zwischen äußerer Gestalt und geistigem Wachstum schält sich dabei als wichtigstes Gestaltungsmerkmal heraus. Holonics schafft es, aus dem Kind Oskar einen Zwerg zu formen, der seiner Umwelt ein Kind vorspielt, weil er die Gemeinschaft mit den Erwachsenen, so wie diese sich ihm präsentieren, ablehnt. Mit seiner ausgefeilten und stets sich wandelnden Körpersprache und einer jeweils dazu passenden Stimmbildung zieht er das Publikum in seinen Bann und lässt keinen Augenblick Langeweile aufkommen. Die bewundernswerte Gedächtnisleistung bei diesem immerhin gut zweistündigen Solo-Vortrag sei nebenbei vermerkt, obwohl Schauspieler diese Leistung gerne herunterspielen. Nico Holonics hat mit dieser Rolle eine wahre Sternstunde erwischt, und Regisseur Oliver Reese hat ihm alle Zutaten – einschließlich passender musikalischer Untermalung – dazu an die Hand gegeben.
Da diese Inszenierung nicht zum Repertoire des Staatstheaters Darmstadt gehört, können wir allen Interessierten nur empfehlen, sich das Stück im Schauspiel Frankfurt anzusehen. Die nächste Vorstellung findet am 12. Juni statt.
Frank Raudszus
No comments yet.