In Folge 98 „Die Supermarktkatastrophe“ zeigt das Prime Time Theater Hintergründe zu den ersten schwäbischen Migrationswellen in die Hauptstadt
Es gedeiht und gedeiht. Seit unserem letzten Besuch vor einem Jahr hat sich im Prime Time Theater oder „Gutes Wedding, Schlechtes Wedding“ wieder einiges getan. Und damit spielen wir nun nicht auf das Mobiliar im „Foyer“ an. Hier ist der Stilmix und Charme der späten 80er bis frühen 2000er noch erhalten geblieben. Buntes Mobiliar mit teils guter Patina und eine Cocktailbar begrüßen die Gäste. Schon eine Stunde vor Vorstellungsbeginn ist dieser Saal prächtig gefüllt – es herrscht ein recht heiteres Beisammensein. Witziges Highlight ist zudem die Promi-Fotowand – also ein Sponsorenwandimitat, wovor sich Stars und Sternchen gerne auf dem roten Teppich ablichten lassen. Auch hier ein sehr beliebtes Motiv!
Vorstellung und Bühne sind es, die sich wieder in erfrischter Form zeigen. Oliver Tautorat, Mitbegründer und Ikone des „Guten Wedding“, schüttelt das Publikum erst einmal ordentlich wach. Eine besonders heitere Tradition ist es, die letzten zwei Gäste vor Eintritt in den Saal zurückzuhalten, dann namentlich einzuführen und unter Applaus auf ihre Plätze zu geleiten. Da sieht man dann schon die ersten Grinser in herrlich roter Fassung. Tautorat moderiert mit seinem, so hatte es unser damaliger Volkswirtschaftsprofessor stets stolz benannt, von Bier und Döner wohl geformten Körper lautstark weiter. Nun heißt es noch die Gäste aus allen Landesteilen zu begrüßen. Und die fernen Länder sind aus Weddinger Sicht gar nicht so fern – da gibt es die schnöseligen Zehlendorfer, provinziellen Steglitzer, bonzigen Mittezöglinge, die hassgeliebten Prenzlberger, und schließlich wird alles darüber hinaus in den bäuerlichen Spandauern zusammengefasst. An diesem Abend haben wir auch das große Glück, ein Geburtstagskind begrüßen zu dürfen, wobei die Tochter sichtlich im Erdboden versinkt, als die Mutter sich unter Gesang im Scheinwerferlicht der Aufmerksamkeit sonnt. Dafür gibt’s dann eine Tüte Gummibärchen als Belohnung!
Und sogleich dienen die Prenzlberger als Berlins bestes Klischee. Wir befinden uns im Esszimmer bei Volker (Robert Martin) und Lore (Julia Franzke) – ein hübsches Räumchen eines herrlichen Altbaus, der sicher keine zwei Minuten Gehweg vom Kollwitzplatz entfernt liegt. Die Zimmerpflanzen hängen ganz hip umgekehrt von der Decke, und als Prenzlberger Mutter trägt meinen seinen natürlichen Stolz der Muttermilchernährung sichtbar nach außen vor. Volker fragt zum wiederholten Mal, wie lange seine Frau denn das Ei gekocht habe, denn es sei schon wieder hart. Die gewünschten viereinhalb Minuten könnten es ja nicht gewesen sein, denn sonst müsse es ja weich sein. Lore erwidert etwas zornig und mit tiefer Stimme, dass sie der Diskussion um Volkers Eier überdrüssig sei, und ruft Juanita, ihre mexikanische Haushälterin, herein. Diese lateinamerikanische Furie im edlen Hausdamentütü bestätigt nochmal explizit, dass sie des Hausherren Eier immer viereinhalb Minuten koche. Worauf sich Volker wieder echauffiert, wie es dann manchmal weich und manchmal hart sein könne, wenn man es exakt nach der Eieruhr koche. Juanita wiegelt ab – nicht nach der Uhr, sie mache das wie in Mexico “exakt viereinhalb Minuten nach Gefühl“. Schon Volkers Augenaufschlag bringt ihn jedoch in die bedrängte Ecke des Menschenfeindes und kapitalistischen Ausnutzers einer unterprivilegierten Existenz. Juanita habe schließlich, so Lore, den ganzen harten Weg von Mexiko auf sich genommen, nur um Volker ein Viereinhalbminutenei zu kochen und nicht einmal das könne er nun entsprechend würdigen und respektieren. Volker schnappt nach Luft und verstummt.
Zeitgleich spielt sich im Supermarkt „Cash“ ein ähnlich amüsantes Schauspiel ab. Ein tiefschwäbischer Gymnasiallehrer trifft auf eine ehemalige Schülerin, die sich gerade für ein dreijähriges Praktikum in Hoffnung auf eine anschließende Festanstellung bewerben möchte. Und gleich beginnt er sie „vollzusallen“, aber nicht ohne wiederkehrend zu erwähnen, dass er eigentlich keine Zeit habe. Sie kommt mitunter nur zum Atmen und ab und zu einem „Ja, ähm“ oder „Aber“, welches der Lehrer, sichtbar vom anderen Ufer, gleich als Neugier interpretiert und sein Wortfeuerwerk fortsetzt. Als schließlich der Supermarktleiter interveniert, sieht sich der Schwabe bestätigt, dass es mal wieder nur um die junge Dame gehe, die ihn hier zugequatscht habe, obwohl er doch mehrfach erwähnt habe keine Zeit zu haben. Sie schaut ganz verdattert drein, während der Marktleiter ihr ein Tablett mit Biorindfleischhäppchen von den Kindlinger Wiesen aus dem Ländle in die Hände drückt und den Auftrag mitteilt, dies nun unter die Marktgäste zu bringen. „Kindlinger Wiesen“ – so einen Ort kenne der Exilschwabe nicht „es müsse sich hierbei um Betrug handeln“. Das Echtheitszertifikat der Marktleiters erstaunt den Lehrer umso mehr, weshalb er nur auf Nachforschungen gehen muss.
Zeitgleich ist Lore beim genüsslichen Studieren der Westzeitung nun auf die Anzeige des Supermarkts „Cash“ gestoßen und wird ganz bleich, als sie das beworbene Fleisch aus Kindlingen entdeckt. Sie springt auf und berichtet Ihrem Mann in hektischem Ton von ihrer Erfahrung, als sie einst an einem Camp junger Prenzlberger Mütter in Kindlingen teilnahm. Nach nur wenigen Tagen seien alle Mütter durchgedreht und nackt in die Berge geflüchtet. Sie habe als einzige überlebt und auch nur deshalb, weil sie sich von ihrer eigenen Muttermilch ernährt habe. Was auch immer all diesen Schrecken hervorgerufen haben mag, es liegt irgendwo in den Kindlinger Wiesen verborgen, und Fleisch von dort darf auf keinen Fall in Berlin verkauft werden!
Von hier an nimmt das Schauspiel seinen Lauf. Über die Seuchenbehörde und die örtliche Polizeidirektion bis hin zu Kiffer Curly und der Kietzschlampe Sabrina werden alle in die furchtbare Geschichte verstrickt. Ein wirklich sehenswertes Theaterstück, wo viel aus vollem Herzen gelacht werden kann. Zudem haben sich die Macher mit der von hinten projizierten Bühneninstallation eine ausgezeichnete Methode einfallen lassen, wie man sehr zügig neue Räume schaffen kann, was die situative Komik nochmal sehr schön unterstützt.
Wer noch mehr sehen möchte, den erwarten ab nun auch Folgen der neuen Serie „CSI Wedding“ oder ganz bald die Folge 100 von „Gutes Wedding, Schlechtes Wedding“, die ein ganz besonderes Highlight werden soll. Hierfür werden auch noch Sponsoren gesucht – wer Interesse hat gerne beim Theater melden. Und nun viel Vergnügen!
Malte Raudszus
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