Das Staatstheater Darmstadt bringt Modest Mussorgskis Oper „Boris Godunow“ auf die Bühne.
Alle Dramatiker und Opernkomponist stehen bei der Bearbeitung historischer Stoffe vor dem selben Problem: sollen sie die tatsächlichen Ereignisse genauso schildern, wie sie die Überlieferung berichtet, oder sollen bzw. dürfen sie sie im Sinne der logischen Konsistenz und der dramatischen Wirkung schärfen und zuspitzen? Denn das Leben verläuft nicht oder sehr selten nach den Regeln des dramatischen Theaters, sondern in Sprüngen, Kreisen und zufälligen Bewegungen. Und die dramatischen oder tragischen Ereignisse ergeben sich nur selten zwingend aus der vorgegebenen Situation oder aus den Charakteren.
Das trifft auch auf den Fall des Boris Godunow zu, der im 16. Jahrhundert unter Iwan dem Schrecklichen eine bedeutende Stellung einnahm und nach dessen Tod von den Bojaren, der adligen Oberschicht, dazu gedrängt wurde, die Zarenkrone anzunehmen. Fast zeitgleich mit der Annahme der Krone starb der noch kindliche Thronfolger, und bis weit ins 19. Jahrhundert nahm man an, Boris Godunow habe das Kind mit eigener Hand umgebracht, um die Gefahr eines Putsches zu beseitigen.
Ein junger Priester mit Machtambitionen erfuhr von den Zusammenhängen, behauptete, er sei der angeblich verstorbene Thronfolger und schaffte es, die Gegner des neuen Zaren gegen diesen in Stellung zu bringen und mit einem Heer gegen Moskau zu ziehen. Die Tatsache, dass Godunow plötzlich vestarb, eröffnete ein neues Feld für Spekulationen. Puschkin verarbeitete diesen mit vielen Unklarheiten befrachteten Stoff zu einer bitteren Komödie über Macht und Unterdrückung, und Mussorgski nahm diese Komödie als Grundlage für seine Oper.
Da die Quellenlage damals denkbar schlecht war, ging er von den umlaufenden Gerüchten aus und nahm sie als Tatsachen. Er erzählte die Geschichte nach der ihm bekannten Faktenlage, wobei es ihm jedoch im Wesentlichen um das Leiden des Volkes ging. Deshalb verlieh er diesem in Opern sonst nur als homogener Hintergrund agierenden Element eigene Ausdruckskraft, indem er den Chor nicht nur deutlich erweiterte, sondern ihm unterschiedliche, auch gegeneinander agierende Charaktere zuwies. Als Gegenpol gegen diese sowohl stimmlich als auch dramatisch machtvolle Rolle etablierte er Boris Godunow als tragische Figur, die an dem eigenen schlechten Gewissen zugrundegeht.
Diese dramaturgischen Voraussetzungen und die eher etwa chaotische denn konsistente Folge der historischen Ereignisse ließen sich natürlich nicht in eine spannungsgeladene und sich bis zu einem Höhepunkt steigernde Handlung umsetzen. Mussorgski war sich dieser Tatsache bewusst und machte aus der Not eine Tugend: sein Bestreben war, die russische Geschichte und das Leiden des Volkes möglichst naturgetreu wiederzugeben, sozusagen als Rückbesinnung der Gesellschaft auf ihre Vergangenheit. Diesem Konzept folgt nicht nur die Handlung als eher beschreibende Funktion, sondern auch die Musik, die einen breiten Strom der emotionalen Zustände erzeugt, sowohl des Volkes als auch des vom Gewissen geplagten Boris Godunow.
Obwohl Mussorgski sich gegen die seiner Meinung nach kritiklose Bewunderung und Nachahmung westlicher Musik sträubte, folgt er dennoch – vielleicht unbewusst – den von Richard Wagner aufgestellten Regeln. Seine Oper ist durchkomponiert wie Wagners Opern, es gibt keine Rezitative mehr und keine Arien mit Wortwiederholungen, Koloraturen und Strophen. Wie bei Wagner singen die Darsteller den Text inhaltlich so, wie sie ihn sprechen würden. Für den Ausdruck sorgt dann die Musik, sowohl gesanglich als auch orchestral.
Mussorgski verzichtet auch auf die klassische Einteilung in drei oder gar fünf Akte. Stattdessen wählt er acht aufeinander folgende Bilder, die das Geschehen als Sequenz ohne explizit ausgewiesene Höhepunkte darstellen. Darüber hinaus fehlt bei dieser Oper auch die fast schon obligatorische Liebesgeschichte, mit der andere Opernkomponisten im 19. Jahrhundert ihr Werke emotional aufgeladen und dem Publikum emotionale Identifikationsmöglichkeiten geboten haben. Das wurde Mussorgksi auvh von seinen Kritikern vorgeworfen, so dass er in einer zweiten Version eine Liebesgeschichte förmlich in die Handlung hineinpresste.
Das Staatstheater Darmstadt entschied sich jedoch für die ursprüngliche, sozusagen „authentische“ Version, die noch nicht von Vermarktungsüberlegungen beeinflusst war. Erotik oder Liebe spielen hier keine zentrale Rolle und kommen eher als Negation vor, so wenn Boris Godunows Tochter in einem Bild den Tod ihres Verlobten beklagt.
Dafür hat Regisseur Christian Sedelmayer den Schwerpunkt auf die Chöre gelegt. Um Mussorgskis Anforderungen erfüllen zu können, hat er die Chöre der Staatstheater von Darmstadt und Wiesbaden gemeinsam auf die Bühne gebracht und ihnen noch den Darmstädter Kinderchor zur Seite gestellt. Wie bereits erwähnt, folgen die beiden Chöre einer komplexen Choreographie, in der sie als rivalisierende Volksgruppen gegeneinander antreten. Das führt zu dramatischen Massenszenen, etwa zwischen dem Volk und den Bojaren oder zwischen verschiedenen Volksgruppen. Vor allem zu Beginn und gegen Ende überwiegen diese Volksszenen, in denen die Solisten nur Nebenrollen spielen. Dafür stehen Boris Godunow (Vladimir Baykov), der undurchschaubare Schuiskij (Jevgenij Taruntsov) und der Leibbojar Schtschelkalow (David Pichlmayer) in den mittleren Szenen im Mittelpunkt, dort, wo die politischen Fäden gezogen werden. In zwei Nebenszenen werden der „falsche Dmitri“, hinter dem der Mönch Grigorij (Mark Adler) steckt, sein Abt Pimen (Vadim Kravets) und Godunows Kinder Feodor (Ulrika Strømstedt) und Xenia (Jana Baumeister) vorgestellt. Allerdings verzichtet Sedelmayer darauf, die Hofintrigen um Schuiskij weiter auszuführen. Sie sind für ihn nur dramatische Staffage, und ihn interessieren nur Boris Godunows zunehmendes Schuldbewusstsein und seine Verzweiflung, die schließlich zum Tod führen.
Die Konzentration auf die Partitur und die Handlung der ursprünglichen Fassung und der Verzicht auf jegliche „originelle“ Aktualisierung der Oper bekommen Sedelmayers Inszenierung ausgesprochen gut. Die psychologische Charakterisierung der Titelrolle und die konsequente Gestaltung der Massenszenen sprechen für sich und benötigen keine weiteren Regieeinfälle, um ihre Wirkung zu entfalten. Die Sänger überzeugen stimmlich wie darstellerisch, allen voran Vladimir Kaykov als Boris Godunow. Aber auch die anderen Darsteller tragen zum Erfolg dieser Inszenierung bei, sei es Jevgenij Taruntsov als geschmeidiger Schuiskij, David Pichlmayer als präsenter Schtschelkalow, Andreas Wagner als Gottesnarr oder Katrin Gerstenberger als Schankwirtin auf Inlinern, um nur einige zu nennen. Nicht zu vergessen außerdem Elisabeth Hornung als Amme und Mark Adler als Grigorij alias „Dmitri“.
Mussorgskis Musik beschränkt sich nicht auf die Untermalung der Gesangspartien, sondern gestaltet die Oper aus dem Orchestergraben sozusagen parallel. Die Musik präsentiert sich derart intensiv und mit einem so breiten Spektrum an Klangfarben und dynamischen Effekten, dass sie eigentlich nie in den Hintergrund tritt. Das bedeutet jedoch nicht, dass GMD Will Humburg am Pult das Bühnengeschehen und die Sänger übertönt, sondern er weiß die Dynamik des Orchesters stets an die Bedürfnisse der Bühnenakteure anzupassen, so dass sich dem Zuhörer eine geschlossene Gesamtwirkung präsentiert. Auch wenn diese Oper keine klassische dramatische Handlung aufzuweisen hat, beeindruckt die Inszenierung doch durch ihren homogenen Gesamteindruck aus Bühnenhandlung und Musik.
Das Premierenpublikum zeigte sich beeindruckt von dieser Leistung und spendete kräftigen, mit „Bravo“-Rufen angereicherten Beifall.
Frank Raudszus
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