Das Hessische Staatsballett präsentiert die neue Produktion „Aschenputtel“.
Timm Plegge, der Leiter des Hessischen Staatsballetts, arbeitet bei seiner Choreographie zu dem bekannten Märchen „Aschenputtel“ mit zwei Räumen: im ersten zeigt er Aschenputtels Alltagswelt. Tod liegt in der Luft. In schwarze Gewänder gehüllte Tänzer mit Vogelmasken vor den gesichtern umflattern die sterbende Mutter, die immer kraftloser erscheint. Aschenputtel im weißen Kleid steht isoliert im Hintergrund des Bühnenraums. Ihre Einsamkeit, ihr Zurückgelassensein werden damit offenbar. Mit einer liebevollen Geste legt ihr Vater ihr eine wärmende Strickjacke um. Noch sind Vater und Tochter eine Einheit und trösten einander.
Doch schon bald betritt die neue Frau des Hauses im giftgrünen Kleid mit ihren beiden Töchtern die Szenerie. Während die beiden Mädchen Aschenputtel zu gemeinsamen Spielen animieren und sie dann doch immer wieder ausgrenzen, umgarnt die Stiefmutter ihren zukünftigen Ehemann. Symbolhaft wirkt der Esszimmertisch der neuen Patchwork-Familie mit nur vier Stühlen. Für Aschenputtel ist hier kein Platz mehr eingeplant.
Wenn sich der zweite Raum öffnet, zeigt sich der Prinz im Raumfahreranzug. Durch ein Fernrohr betrachtet er den Sternenhimmel. Sein Kostüm verweist deutlich auf seine Abnabelung von seinen Eltern. Er ist anders und will woanders hin als sie. Vielleicht ins Weltall entschwinden. Den von den Eltern vorgezeichneten Weg will er jedenfalls auf keinen Fall beschreiten. Sein „freakiger“ Freund liegt sehr auf seiner Wellenlänge. Die beiden tollen wie junge Halbstarke und bauen Papierflieger als Einladung zum Ball.
Tim Plegge hat seine Choreographie in zwei Akte eingeteilt. Der erste beschreibt in zwölf Szenen die trostlose Situation von Aschenputtel und die Vorbereitungen zum Ball. Programmatische Szenentitel wie „Abschied“, „Tyrannei“, „Einladung zum Ball“ und „Wut“ geben Hinweise auf Handlungselemente oder Befindlichkeiten der Protagonisten. Der zweite, kürzere Akt besteht aus nur acht Szenen, die Titel wie „Ball“, „Der erste Tanz“ oder gar „Vögel hacken den Schwestern die Augen aus“ tragen.
Wie Aschenputtel und der Prinz schließlich zueinander finden, funktioniert nur über Reifeprozesse, die beide durchlaufen müssen. Erst dann schaffen sie es, alle Konventionen abzustreifen, innere Freiheit zu gewinnen und bewusst aufeinander zu zu gehen, Das Schlussbild zeigt im Vordergrund das junge Paar, während am nächtlichen Abendhimmel ein Astronaut durch den Äther schwebt.
Die Musik zu dieser Choreographie stammt weitgehend aus Sergej Prokofjews „Cinderella“ (ein anderer Name für Aschenputtel“). Darüber hinaus hat der zeitgenössische Komponist und Musiker Jörg Gollasch eine Komposition mit dem Titel „Und wenn sie nicht gestorben sind…“ beigesteuert.
Tim Plegge hat das ursprüngliche Märchen bewusst erweitert, um die Personen deutlicher zu charakterisieren. So erhält der Prinz im ersten Akt eine eigene Szene mit dem Ziel, ihn als Menschen mit Problemen und Sehnsüchten zu zeigen. Auf der anderen Seite stellte die Todesszene von Aschenputtels Mutter ein traumatisches Erlebnis für das junge Mädchen dar, das ihren fehlenden Protest gegen das Mobbing von Stiefmutter und Stiefschwestern erklärt.
Bühnenbildnerin Judith Adam und Kostümbildner Sebastian Hank haben bewusst auf historisierende oder gar märchenhafte Requisiten verzichtet, um der Choreographie einen realistischen Charakter mit einem gewissen Aktualitätsbezug zu verleihen.
Mit jubelndem Applaus belohnte das Darmstädter Publikum diese gelungene weil phantasie- und kraftvolle Choreographie über das uralte Märchen vom ausgestoßenen, unterdrückten Mädchen.
Barbara Raudszus
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