Martin Helmchen spielt beim 7. Kammerkonzert des Staatstheaters Darmstadt Variationen von Schubert, Webern, Schumann und Beethoven.
Variationen bekannter oder eigener Themen waren schon immer ein beliebtes Betätigungsfeld der Komponisten. Vor allem das Klavier eignet sich für diese musikalische Form, da sie es erlaubt, die ganze Klangvielfalt dieses Instrument sich entfalten zu lassen. Klaviersonaten sind dagegen üblicherweise von einem bestimmten musikalischen und klanglichen Typus, der sich auf ein Klangbild konzentriert. Der noch junge Martin Helmchen – Jahrgang 1982 – hat bereits verschiedene renommierte internationale Preise gewonnen und tritt mit den bekanntesten Orchestern und Dirigenten auf. Daneben bildet die Kammermusik einen Schwerpunkt seiner Arbeit, was er im 7. Kammerkonzert schlagend bewies.
Den ersten Teil des Konzerts bildeten eher selten gehörte Variationen von Franz Schubert (1797 -1828), Anton von Webern (1883-1945) und Robert Schumann ((1810-1856), Sie waren sozusagen die „Anlaufstrecke“ für das Hauptwerk des Abends, Ludwig van Beethovens „Diabelli-Variationen“.
Die „Dreizehn Variationen über ein Thema von Anselm Hüttenbrenner“ entstanden im Jahr 1817 nach einem Streichquartett des guten Schubert-Freundes. Dem langsamen Thema in a-Moll verlieh Helmchen vom ersten Augenblick nach eine solche Spannung, dass es sich dem aufmerksamen Publikum sofort einprägte. Mit der Modulation nach A-Dur kehren Lebendigkeit und Frische ein, die dann der Wechsel nach Moll wieder einfängt. In der Folge wechseln sich Dur und Moll ab, bis die letzte Variation – in a-Dur – mit den letzten Akkorden in Moll endet. Gerade der stete Wechsel zwischen beiden Tonart-Geschlechtern macht den Reiz dieser Variationenfolge aus, und Martin Helmchen arbeitete die Struktur deutlich heraus, wobei er vor allem auf die typisch Schubertsche Atmosphäre einer unverkennbaren Wehmut achtete.
Mit der zweiten Folge wagte Helmchen einen Sprung um über hundert Jahre. Anton von Weberns „Variationen für Klavier op. 27“ stellen eine hochkomplexe musikalische Anordnung dar, die sich dem bloßen Hören kaum erschließen. Auf der Basis der Zwölftontechnik folgt der erste Satz („Sehr mäßig“) dem Prinzip des Krebskanons (die Stimmen sind horizontal gespiegelt), der zweite („Sehr schnell“) entspricht einem Umkehrungskanon (die Stimmen sind vertikal gespiegelt), und der dritte („Ruhig fließend“) bildet aus diesen beiden Prinzipien eine Variationenfolge. In diesem Sinne passte Weberns Werk in dieses Konzert. Für das Publikum stellte dieses kurze Werk eine hohe Herausforderung dar, da nur ausgesprochene Experten die Struktur aus der Interpretation heraushören konnten. Die übrigen Zuhörer, wohl die überwiegende Mehrheit, musste die ungewohnten, artifiziell und jenseitig wirkenden Tonfolgen einfach auf sich wirken lassen. Helmchen gelang es allerdings, eine hohe Spannung zwischen den einzelnen Tönen aufzubauen, die sich dem Publikum sozusagen subkutan mitteilte. Man hörte gespannt zu und war überrascht, als das Stück plötzlich verklang, denn solche Kompositionen pflegen nicht in dem rauschenden Schlussakkord wie etwa Beethoven-Sonaten zu enden.
Danach folgte für den Abonnementsbesucher wieder eine Erholungspause mit Robert Schumanns „ABEGG-Variationen“ op.1. aus dem Jahr 1930. „ABEGG“ steht dabei für die ersten sechs Töne des Themas, ähnlich den BACH-Variationen. Obwohl Schumanns erstes Werk, sind diese Variationen technisch äußerst anspruchsvoll und fordern die volle Konzentration des Pianisten. Nach dem Vortrag des gemäßigten akkordischen Themas folgt eine Reihe von rhythmisch und melodisch hoch verdichteten Variationen in F-Dur, mit einer Ausnahme in f-Moll. Hier müssen beide Hände Schwerstarbeit verrichten, wobei das Ganze leicht und eher innig als brilliant wirken muss, denn Schumanns Musik war alles andere als auf vordergründigen Effekt bedacht. Martin Helmchen präsentierte diese Variationenfolge mit eben dieser technischen Leichtigkeit und seelischer Tiefe, die man von Schumanns Klaviermusik kennt.
Nach der Pause wagte sich Helmchen dann an das anerkanntermaßen größte und schwierigste Variationenwerk der Klaviermusik heran, an Beethovens Diabelli-Variationen op. 120. Den Namen haben sie von dem Verleger Diabelli, der für eine musikalische Sammlung von jedem Komponisten eine Variation eines von ihm vorgegebenen Themas erbat. Beethoven hielt das Thema wohl für – milde ausgedrückt – recht schlicht und ließ lange auf seine Variation warten. Dann lieferte er jedoch statt dieser einen gleich dreiunddreißig, in denen er das Thema nicht nur nach allen Regeln der Kunst durch die musikalische Mangel drehte, sondern auch die Schwächen bis an die Grenzen der Satire parodierte. Dabei sprach er in seinem Kommentar nicht mehr von „Variationen“ sondern von „Veränderungen“. Damit wollte er offensichtlich ausdrücken, dass er das Thema nur noch als Anregung nahm und darauf verzichtete, es nur mit rhythmischen und melodischen Verzierungen zu umspielen. Man könnte Diabellis Thema auch als „Steinbruch“ für Beethovens musikalische Architektur bezeichnen, denn er weitet das Thema in alle Richtungen aus, verdichtet es mal, verändert es das nächste Mal bis zur Unkenntlichkeit und packt seine gesamte musikalische Erfahrung hinein, so dass diese Komposition den krönenden Abschluss seines Klavierwerks darstellt. Die Tatsachen, dass sein letztes Klavierkonzert die Opuszahl 73 trägt und dass seine Klaviersonaten mit der Opuszahl 111 endet, ergeben die abschließende Stellung der Diabelli-Variationen im Sinne eines „pianistischen Testaments“ fast zwangsläufig. Nur noch die „Sechs Bagatellen op. 126“ folgten danach.
Lange galten diese Variationen als unspielbar, und erst Hans von Bülow wagte sich fast dreißig Jahre nach Beethovens Tod an eine öffentliche Aufführung. Martin Helmchen empfand die Angst vor diesem Stück offensichtlich nicht mehr in dem Maße wie seine frühen Vorgänger, Respekt dürften und müssen sie ihm jedoch ob ihrer Dichte und ihres pianistischen Anspruchs eingeflößt haben. Doch ging er sie vom ersten Moment in dynamisch zupackender Manier an, ohne sich auf hämmernde Beethoven-Klischees einzulassen. Auf der Basis einer perfekten Technik, die keinen Augenblick den Eindruck von Nachlässigkeit oder gar Unsicherheit aufkommen ließ, modellierte er die einzelnen Variationen mit viel Gespür für die rhythmischen und motivischen Veränderungen. Mit seiner Interpretation dieses Werkes präsentierte er auch eine Erklärung, warum Beethoven von „Veränderungen“ sprach, denn er lieferte nicht den üblichen Reigen von Variationen eines stets erkennbaren Themas, sondern eine Folge von dreiunddreißig eigenständigen Klavierwerken, die entfernt eine gemeinsame Basis haben aber jeweils einen eigenen musikalischen Mini-Kosmos aufbauen. Wer Beethovens Sonatenwerk auch nur einigermaßen kennt, fand hier in gewisser Form alle seine Klaviersonaten in den Variationen widergespiegelt, die nicht umsonst – neben dem Thema – aus zweiunddreißig(!) Klavierstücken bestehen. Es wäre einen Versuch wert, die einzelnen Variationen mit seinen Klaviersonaten zu vergleichen und nach Parallelen zu suchen.
Martin Helmchen öffnete den pianistischen Kosmos dieses Werkes mit einem Höchstmaß an technischem Können und fein abgestimmter Interpretation und schaffte es, den Spannungsbogen bis zur letzten Variation aufrecht zu erhalten. Das sichtlich beeindruckte Publikum dankte dem ebenso sichtlich erschöpften Solisten mit so begeistertem Applaus, dass er noch einen Choral von Bach als Zugabe drauflegte.
Frank Raudszus
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