Shakespeares Meisterwerk, gemalt aus Symphonie, Tanz und einem Hauch Oper
Die Deutsche Oper Berlin tritt erhobenen Hauptes einen Schritt aus dem bekannt leuchtenden Bühnenlicht klassischer Opern und des gastierenden Balletts des Berliner Staatsballetts hervor. Ungewohnt scheint der erste Blick, wenn der Strahl des Scheinwerfers nun nicht mehr den Mittelpunkt des Körpers trifft sondern direkt die Augen. Wir erleben eine Inszenierung von Roméo und Juliette, die fast unmerklich am bekannten handwerklichen Perfektionismus des Hauses kratzt und sich dabei in der Darstellung von dem Dogma der überwältigenden Präsenz prunkvoller Ausdruckskraft lossagt. Wer es nicht schon wusste, erkennt sehr schnell, dass es sich bei Hector Berlioz´ “Roméo et Juliette” nicht um eine Wiedergabe von Shakespeares Original handelt, sondern um eine Form, die tief hinab sinkt in die menschliche Gefühlswelt und Ebenen der Wahrnehmung, die uns für gewöhnlich und im wahrsten Sinne des Wortes unsichtbar bleiben.
Handlung ist Nebensache, und so konzentriert sich Berlioz mit seiner “Symphonie dramatique” auf die geistige und seelische Aufarbeitung einer tragischen Liebesgeschichte im feindlich gestimmten Umfeld. Mit der Wahl der Symphonie als Stilmethode hat Berlioz sich für eine hochanspruchsvolle und technisch komplexe Musikgattung entschieden, die mit ihrer formalen Ästhetik dem romantisch-dramatischen Libretto von Romeo und Julia zu widersprechen scheint. Jedoch überträgt er impulsive Gefühle in seine Musik und gibt der Symphonie somit einen ungewöhnlichen Drall aus Exzessivität und rücksichtsloser Intensität – entfernt erinnernd an Beethovens “Neunte”.
Inszenierung und Choreographie sind das Werk von Sascha Walz. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, all die niederträchtige Spannung, den Ekel der Feindschaft, die Völlerei der wohllebenden Familien und die als Gegenpol wirkenden Liebe, Romantik und Leichtigkeit des Seins eines jungen Paares sichtbar zu machen. Man kann nicht sagen, dass sie ein Ballett gewählt hat, um ihr Ziel zu erreichen. Ohne Frage steht Körperlichkeit und Tanz im Vordergrund der Inszenierung – allerdings in vielfältiger Form von fragiler Ästhetik über schroffes Agieren und körperlich eingängige Qualen hin zu schauspielerischen Gesten mit echten Sinnbildern. Die kontrastreiche Musik versinnbildlicht einen Schmelztiegel von Poesie, Humor und Gewalt, wie Walz meint, und bietet ihr hierbei einen großen Reichtum an choreographischen Möglichkeiten. Ohne Frage hat sie diesen ausgeschöpft.
Das Bühnenbild ist Reduktion pur. Einziges Artefakt ist ein weißes, zu Beginn schräg gefaltetes Rechteck, auf dem sich das Geschehen großenteils abspielt. Nach dem Duett zwischen Romeo und Juliette hebt sich die obere Hälfte, scheinbar gezogen und gehalten von zwei schmalen Tauen. Ist es Sinnbild für die am seidenen Faden hängende Liebe des Paares? Juliette (Yael Schnell) erscheint ein letztes Mal an der oberen Kante der gehobenen Fläche und blickt auf Romeo hinab – die charakteristische Balkonszene. Technisch ist diese Konstruktion wohl ein immenser Akt. Jeder interessierte Zuschauer kann sich die Komplexität im Ansatz vorstellen, und zu Beginn der Premierenfeier erwähnte der Intendant die besondere Herausforderung, vor der man hier gestanden habe.
Mit dem scheinbaren Tod Juliettes kommt es zum Höhepunkt von Romeos Schmerzensakt. Das Oberteil der Bühnenkonstruktion hat sich nun vollständig aufgerichtet und ist dann leicht nach hinten abgeknickt. Mit der Erschlaffung von Juliettes Körper fließt schwarzes Blut über die weiße Fläche und verleiht der Szene eine grotesk melancholische Stimmung. Hierzu beginnt Romeos stiller Trauerkampf. Die Musik ist verklungen, und unter völliger Stille arbeitet sich Romeo (Joel Suárez Gómez) an der Situation ab. Es mag etwas tänzerisches haben, aber tatsächlich ist es ein Kampf gegen die Physik der steilen Fläche, die er zu erklimmen versucht. Die Darbietung ist nicht zuletzt aufgrund der Abwesenheit von Musik beklemmend. Nur das Hämmern von Beinen und Körper gegen die Konstruktion beschallt den Raum. Die zeitliche Dimension ist völlig unüberschaubar, was zu einer gewissen Unerträglichkeit führt. Sicher ist dies ein bewusst hervorgerufenes Gefühl – unangenehm aber passend. Sascha Walz bemerkt, dass sie davon träume, einmal ein ganzes Stück ohne Musik zu machen, um somit noch mehr mit der Stille des Tanzes zu experimentieren. Vielleicht nicht eine Sache des allgemeinen Geschmacks.
Musikalisch getragen wird der ganze Akt mit Ausnahme der nahezu stillen Szene von dem herausragenden Chor und Orchester der Deutschen Oper Berlin unter Leitung von Donald Runnicles. Zudem treten drei Solisten auf, die einen Hauch von Oper einwehen, welcher allerdings unter der gewaltig präsenten Tanzakrobatik etwas blass erscheinen mag.
Malte Raudszus
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