Die hebräische Compagnie L-E-V gastiert in Darmstadt mit der Choreographie „House“.
Das hebräische Wort LEV steht für das Herz. Gleichzeitig ist es – durch Bindestriche gestreckt – der Name dieser kleinen aber feinen Tanzgruppe der Israelin Sharon Eyal. Am 13. März war das Kleine Haus für das Gastpiel von L-E-V reserviert, und man fragte sich, ob diese Truppe das Haus würde füllen können. Sie konnte es, wenn auch nicht bis zum letzten Platz, aber die Kammerspiele wären eindeutig bei weitem zu klein gewesen für das Interesse des Publikums.
Trance durch Musik
Wie bei modernem Tanztheater üblich, benötigt die Truppe außer einer geräumigen Bühne und einer gut funktionierenden Beleuchtung keine weiteren Requisiten. Der Fokus liegt allein auf den Bewegungen der sieben Tänzer und Tänzerinnen. Für die Produktion „House“ haben Sharon Eyal und ihr Co-Choreograph Gai Behar eine Techno-Musik zusammengestellt, die einerseits durch ihre wiederkehrenden, ostinaten Rhythmen eine suggestive Wirkung bis hin zu Trance-Zuständen entfaltet, andererseits den Namen der Compagnie assoziativ ins Spiel bringt. Denn diese Rhythmen hören sich streckenweise wie ein unwissend aber unablässig schlagendes Herz an. Man kennt ähnliche Assoziationen, wenn man im Fernsehen ein schlagendes Herz hört: ein Konglomerat aus unterschwelligen Ängsten und Beklemmung tut sich auf, wenn man von Schlag zu Schlag einem Herz zuhört, immer in der Befürchtung, es könne beim nächsten Mal aussetzen. Schließlich ist man davon in gewisser Weise selbst betroffen. Ebenso wirkt diese Musik, die nur selten die menschliche Stimme einbezieht, aber auch dann aufgrund akustischer Verfremdungen keinen unmittelbaren Zugang oder gar platte Identifikation ermöglicht. Die Musik bleibt bis zum Ende der einstündigen Choreographie unzugänglich, einer eigenen Welt verpflichtet, eben wie ein Herz, das nur die Aufgabe hat zu schlagen.
Der „nackte Mensch“ und die Gruppe
Die sieben Personen, unter ihnen Sharon Eyal selbst, bewegen sich in ähnlich distanzierter, emotional kontrollierter und undurchschaubarer Art zu der Musik. Zu Beginn dreht sich eine einzelne Tänzerin in einem hautengen schwazen Lackanzug auf der halb abgedunkelten Bühne in trance-artigen Figuren, die wegen ihrer Flüssigkeit ein wenig an neoklassischen Tanz erinnern, ohne jedoch dem Publikum irgendwelche vordergründigen Assoziationen zu liefern. Schon schnell wird klar, dass Sharon Eyal hier keine Geschichte mit psychologischem, gesellschaftlichem oder gar politischem Hintergrund erzählen will. Sie stellt eher Befindlichkeiten der Spezies Mensch dar, die über momentane Emotionen wie Angst, Sehnsucht, Liebe oder Einsamkeit hinausgehen. Einzig das Spannungsfeld zwischen dem Einzelnen und der Gruppe wird immer wieder aufgebaut und durchtanzt. Dabei geht es jedoch nicht um direkte Konflikte zwischen diesen beiden Positionierungen des Menschen sondern um die Wesensart. Die Gruppe schält sich nach dem Verschwinden der Einzeltänzerin aus dem Hintergrund der Bühne in hautengen, fleischfarbenen Kostümen heraus, die bewusst den Eindruck der Nacktheit erwecken sollen. Wie antike Statuen drehen und wenden sich die Tänzer und zeigen dabei Figuren, die einerseits dem Körper natürlich zu entströmen scheinen, andererseits in bewusst artifiziellen Posen verharren. Dabei lässt sich bei genauerem Hinsehen feststellen, dass die einzelne Figur sich immer wieder durch freie Bewegungen aus der Bindung der Gruppe lösen will, diese sie jedoch jedes Mal in die strenge Ordnung der gemeinsamen Figuren zurückholt. Ein besonders starkes Beispiel: die gesamte Gruppe verharrt mit breit ausgestellten Beinen tief in der Hocke und rückt als Ganzes abwechselnd nach links oder rechts, wodurch eine äußerst exakte und kontrollierte Gruppenfigur hoher Artifizialität entsteht.
Nachlassende Spannung, leichte Längen
Im Weiteren wird der Wechsel von schwarz gekleideten und „quasi-Nackten“ variiert, mal in paritätischer Besetzung von Schwarzen und „Nackten“, dann Fleischfarbene mit schwarzen Strümpfen, eine einzelne schwarzgelackte Tänzerin und gegen Schluss sogar die gesamte Truppe in Schwarz. Diese Variationen können aber die einzige Schwäche dieser faszinierenden Chroeographie nicht ganz kompensieren: der fehlende narrative Aspekt der Choreographie hat eine gewisse Statik der Entwicklung zur Folge. Wie bei der „minimal music“ ändern sich im Laufe der Zeit nur Kleinigkeiten, die zwar in der Summe eine durchaus spürbare Änderung der gesamten Choreographie bewirken, aber keine neue Spannung aufbauen. Da auch die Musik ihren Grundtenor beibehält, treten nach etwa einer halben Stunde gewisse Längen auf. Trotz hervorragender tänzerischer Leistungen wird die Konzentrationsfähigkeit des Publikums auf eine harte Probe gestellt. Gegen Ende der Choreographie kommt dann durch etwas deutlichere Wechsel der tänzerischen Gruppierungen, der Kostümierung und der Raumnutzung wieder mehr Spannung auf die Bühne.
Die Verlockungen des Bösen
Die tänzerische Interpretation folgt der Musik auf dem Fuß, nicht nur rhythmisch sondern auch inhaltlich. Die ganze Verlorenheit dieser technoartigen Musik, die auf eine fortschreitende Entwicklung verzichtet, um scheinbar in Trance auf der Stelle zu stehen, spiegelt sich in den Figuren der Tänzer wieder, die streckenweise Züge existenzieller Verzweiflung annehmen, ohne dass sie den Grund dafür zu wissen scheinen. Denn diese Wesen sind ebenso ratlos wie auf der Suche. Mit Händen, Köpfen und Beinen suchen sie nach festem Halt, suchen ihn aneinander, um doch wieder enttäuscht auseinanderzugehen. Doch hier geht es nicht um alltägliche menschliche Enttäuschungen sondern um die existenzielle Unmöglichkeit, den festen Halt in der Welt überhaupt noch zu finden. Und so geistern die Tänzer zu der motivisch im Kreise sich drehenden Musik auf der Suche nach Orientierung auf der Bühne herum. Die zwischenzeitlich auftretenden schwarzen Tänzer könnte man durchaus als Bedrohung auffassen, vor allem, wenn sie als Gruppe auftreten. Das Böse ist wegen seiner Konsequenz und Geradlinigkeit stets faszinierend und stellt damit eine latente Bedrohung dar, und der „nackte Mensch“ ist ihm im besonderen Maße ausgesetzt.
Man braucht diesen Antagonismus gar nicht detaillierter auszuführen, und Sharon Eyal hütet sich, vordergründige Identifikationsbilder im Guten oder Schlechten zu liefern. Dieser Verzicht auf die plakative Aussage und die Fokussierung auf den körperlichen Ausdruck äußerst subtiler Befindlichkeiten sind die großen Stärken einer Choreographie, die nach dem Schlussvorhang kräftigen bis begeisterten Beifall vom Publikum erntete.
Frank Raudszus
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