Ein Bilderbuch, das nur auf den ersten Blick ein Comic ist.
Richard McGuire illustriert die Titelseiten des berühmten Blattes „The New Yorker“. Seine Graphiken zeichnet eine Hintergründigkeit aus, die dem dargestellten Sachverhalt neue Dimensionen hinzufügt und dabei auf Polemik oder den vordergründigen Effekt verzichten kann. In dem vorliegenden „Comic“ – wir wollen ihn der Einfachheit halber mit diesem nicht ganz zutreffenden Begriff belegen – steht ein Haus an einem beliebigen Platz in den USA im Mittelpunkt. Jede Seite enthält dabei mehrere wie Fenster auf einem Computer-Monitor überlagerte Teilbilder, die jedes einen anderen Zeitpunkt eben dieser Örtlichkeit beschreiben. Jedes dieser Bilder trägt eine Jahreszahl, die insgesamt einen Zeitraum von 80 Millionen Jahren abdecken. Dabei gibt das jeweilige Hauptbild, das mit den Abmessungen der Buchseiten identisch ist, in gewissem Sinne die Hauptaussage vor, während in den kleinen Bildern andere Zeiten und Epochen zum Leben erwachen.
Trotz der gewaltigen Zeitspanne spielt sich das Hauptgeschehen, wenn man von einem solcchen überhaupt reden kann, im 20. und frühen 21. Jahrhundert ab. Das mag daran liegen, dass der Autor die eigene Familiengeschichte als Vorlage genommen hat, ohne dass diese sich konkret in Gestalt von wiedererkennbaren Menschen oder Situationen – von fremden Lesern – nachvollziehen ließe. Will sagen: seine eigene Biographie und die seiner Familie mag Ideen geliefert haben, aber an einer Familiengeschichte ist ihm offensichtlich nicht gelegen.
Im Mittelpunkt steht immer das Wohzimmer in einem alten Kolonialbau, das einen alten Kamin als einzigen unveränderlichen Ankerpunkt enthält. Sparsame Möbel und Bilder gruppieren sich im epochalen Wandel vor diesem Kamin und an den Wänden. Der aufmerksame Leser entdeckt gewisse „Markenzeichen“ wie einen stilisierten Vermeer („Briefleserin am offenen Fenster“), der in einer anderen Epoche als Ausstellungs-Plakat erscheint. Im Übrigen achtet McGuire penibel darauf, die Einrichtung des Raumes bei wiederkehrenden Jahreszahlen weitestgehend deckungsgleich zu gestalten, ohne sie deswegen handwerklich zu kopieren. Die wiederkehrenden Elemente wandern dabei wie ein Leitmotiv durch die Bilder.
Menschen spielen in diesen Räumen zwar eine Rolle, aber es geht dabei nicht um die Erzählung einer komplexen Geschichte, sondern lediglich um familiäre Schnappschüsse. Gerade die Entwicklung der Fotografie als Mittel der Erinnerung, dargestellt an den beliebten Familienfotos, schägt sich in vielen ähnlichen Bildern wieder. Personen werden in Alltagssituationen dargestellt, die – bis auf einen Fall – besonderer Dramatik entbehren und die wir mehr oder weniger selbst erlebt haben.
Der zeitliche Horizont der Bildkompositionen weitet sich im Fortgang des Buches. Es beginnt in der Mitte des 20. Jahrhunderts mit den braven Hauseinrichtungen und Kleidern der vierziger, fünfziger und sechziger Jahren, weitet sich dann langsam in beide Richtungen zum frühen 20. und 21. Jahrhundert aus und wandert dann ins 19. Jahrhundert und die Kolonialzeit bis hin zu den Indianern, die einst auf dem Gelände des Hauses gelebt haben. Auf der anderen Seite der Zeitskala lassen sich Projektionen auf die nächsten beiden Jahrhunderte ablesen, und später kommen als Bildhintergrund die Urzeit der Erde und eine ferne Zukunft ohne Menschen ins Spiel.
All die dargestellten Epochen, Menschen und Situationen kommen ohne moralisierende Klagen oder Vorwürfe an das Wesen des Menschen aus und bleiben stets im Privaten der auf diesen wenigen Quadratmetern jemals ihr Leben verbringenden Menschen. Auch die wenigen Sprechblasen enthalten nur alltägliche Bemerkungen, verzichten auf vordergründigen Witz und liefern das Menschlich-Allzumenschliche. Damit gewinnt das Buch einen menschlichen Zug jenseits aller Ideologien und aufdringlichen Weltverbesserertums. Die graphisch intelligent konstruierten Kombinationen der Bildelemente aus verschiedenen Epochen, ihre kleinen aber bewegenden Kalamitäten und Sorgen sowie die farbliche und zeichnerische Gestaltung machen dieses Buch zu einem Kunstwerk eigener Art, das weit über den Begriff des „Comics“ hinausgeht. Es ist eher die graphische Gestaltung des in den USA so beliebten Familienromans mit nahezu endlosem Zeithorizont als eine Vorlage für schnelle Lacher. Das ideale Geschenk für Liebhaber epischer Romane, die aber auch Sinn für hintergründige Graphik haben.
Das Buch „Hier“ ist im Dumont-Verlag erschienen, umfasst ungezählte(!) Seiten und kostet 24,99 €.
Frank Raudszus
No comments yet.