Das 6. Sinfoniekonzert des Staatstheaters Darmstadt bietet ein breites Spektrum von Weber bis zu Messiaen.
Eine wahrhaft schillernde Vielfalt der Klangfarben prägte das Sinfoniekonzert am 15./16. März, und eine der unterschiedlichen nationalen Musikstile gleichermaßen. Im programmatischen wie geographischen Mittelpunkt stand Carl Maria von Webers Klarinettenkonzert aus dem Jahr 1811, das noch ganz im Banne der Spätklassik steht, sich aber schon ein wenig in die Frühromantik hinauswagt. Für die Interpretation hatte man die – man kann getrost sagen: weltberühmte – Klarinettensolistin Sabine Meyer engagiert. Frankreich und Russland rahmten das deutsche Werk ein: von Olivier Messiaen erklang zu Beginn „L´Ascension. Quatre Médiatations Symphoniques“, und den Schluss bildete Peter Tschaikowskys 5. Sinfonie in e-Moll. Der junge Grazer Dirigent Dirk Kaftan lenkte das Orchester des Staatstheaters durch dieses abwechslungsreiche Programm.
Olivier Messiaen war gläubiger Katholik, war jedoch dank seiner literarisch weit gefächerten Bildung – sein Vater war Englischprofessor und Shakespeare-Übersetzer, seine Mutter Dichterin – auch für andere Glaubenssysteme empfänglich, solange sie seinen Sinn für Spiritualität ansprachen. Die vier sinfonischen Meditationen unter dem Namen „L´Ascension“ entstanden im Jahr 1932 und geben verschiedene liturgische Elemente bzw. Situationen aus dem Leben Jesu wieder. In der ersten Meditation bittet Jesus seinen Vater um Verherrlichung. Messiaen kleidet diese Bitte in einen an Reibungsklängen reichen Satz für Blechbläser, der sich in orgelgleichen Klangfarben getragen und majestätisch gen Himmel richtet. Die zweite Meditation nimmt ein „Halleluja“ aus der Liturgie auf und deutet es als den Wunsch einer Seele nach dem Himmel. Hier dominieren tonale, ja fast lyrische Klangfarben, und erst die Oboe, dann auch die Flöten und die Klarinetten intonieren inbrünstige melodische Linien. Die dritte Meditation, ein „Halleluja auf der Trompete“, ist dann wieder von dissonanten Blechbläsern geprägt, während in der vierten, „Gebet Christi, der gen Himmel auffährt“, ausschließlich die Streicher das Wort haben und das Gebet durch beschwörende Bögen höchster Intensität intonieren. Die vier Meditationen gaben nacheinander den einzelnen Instrumentengruppen des Orchesters Gelegenheit, die eigenen klanglichen Fähigkeiten nicht nur punktuell auszuspielen, und dem Dirigenten oblag die Aufgabe, die unterschiedlichen Klangfarben deutlich herauszuarbeiten. Dirigent und Orchester wirkten äußerst konzentriert und schufen in jeder Meditation eine eigene Welt des musikalischen Ausdrucks, jeweils von hoher Spiritualität und Abgrenzung von Rationalität und Säkularität. Man wurde kurzfristig buchstäblich in fremde spirituelle Welten entführt, für die man keine Worte findet.
Aus dieser Jenseitigkeit führte dann Carl Maria von Webers Klarinettenkonzert in f-Moll wieder in die normale musikalische Welt zurück. Es ist ein ausgeprochen virtuoses Stück, das jedoch auch dem Orchester einen angemessenen Part einräumt und es nicht auf die reine Begleitung reduziert. Sabine Meyer zeigte vom ersten Ton an ihr herausragendes Können an der Klarinette. Nicht nur quirlten die Läufe wie spielerisch aus ihren Fingern und Lippen, sondern vor allem die Intonation begeisterte vom ersten Augenblick an. In jeder Lage bestach der warme, volle Ton, der stets emotional aufgeladen und nie angestrengt wirkte. Tiefe Lagen gewannen bei ihr eine runde Fülle, und in den höchsten Lagen strahlte der Ton hell und klar, doch nie gepresst. Sie legte ein derart forciertes Tempo vor, dass man bisweilen das Gefühl hatte, Dirigent und Orchester müssten sich gewaltig anstrengen, mitzuhalten und im Takt zu bleiben. Sabine Meyer ist keine Solistin, die sich nach dem Orchester ausrichtet oder sich gar an dieses anpasst. Sie ist die Solistin, die das Tempo vorgibt, und das Orchester muss sehr genau hinschauen und -hören, um den Anschluss nicht zu verpassen. Doch das gelang bei den fast überfallartigen Einsätzen der Klarinetten jedes Mal, und das Orchester sekundierte den höllischen Läufen der Solo-Klarinette mit federnden Begleitfiguren.
Besonders schön intonierte Sabine Meyer den zweiten Satz mit seinen getragenen Motiven. Hier konnte sie die warme Fülle ihres Instruments voll zum Tragen bringen und Webers Musik zum Blühen bringen. Dirigent Dirk Kaftan nahm das Orchester dabei so weit wie möglich zurück, um den lyrischen Ton der Klarinette voll zur Entfaltung kommen zu lassen. Dafür durften dann Solistin und Orchester im abschließenden Rondo noch einmal richtig aufdrehen, und sie taten es mit viel Spielfreude und Temperament.
Das Publikum zeigte sich von Sabine Meyers perfektem Spiel derart angetan, dass der Beifall erst versiegte, nachdem sie zusammen mit dem Orchester – aber ohne Dirigent! – noch eine längere Passage wiederholt und den Zuhörern noch einmal das Vergnügen ihres Spiel gegönnt hatte.
Nach der Pause kam dann die pralle Sinfonik zu ihrem Recht. Tschaikowsky hat seine 5. Sinfonie im Jahr 1888 geschrieben, als er sich eigentlich bereits am Ende seiner kompositorischen Laufbahn wähnte. Eine Mischung aus Resignation und Wehmut bestimmt dieses Werk, das bisweilen ein wenig an Schuberts „Achte“ erinnert. Wie ein Leitmotiv geht das vom Komponisten selbst „Schicksalsmotiv“ genannte Motiv durch die ganze Sinfonie, vor allem aber den ersten und den letzten Satz. Das Andante des zweiten Satzes bringt eine fast religiöse Stimmung zum Ausdruck, die der leichte Walzer des dritten Satzes jedoch wieder aufhebt. Man gewinnt den Eindruck, als wolle sich Tschaikowsky mit diesem dritten Satz aus der Depression des zweiten befreien. Doch diese Befreiung ist nur von kurzer Dauer, denn im Finalsatz setzt das Schicksalsmotiv wieder in vollem Umfamg ein, dieses Mal jedoch kompromissloser und schneidender. Was zu Beginn als leise Resignation daherkam, wandelt sich jetzt zu einem verzweifelten Aufbegehren.
Die Instrumentierung ist von einer derartigen Fülle, dass die schneidenden Töne gerne im Rausch der Musik untergehen. Nicht umsonst haben manche zeitgenössische Kritiker das Werk als „Kitsch“ bezeichnet. Bei entsprechend gefälliger Interpretation kann man durchaus die Widersprüche mit dem spätromantischen musikalischen Material dieser Sinfonie wegbügeln. Doch Dirk Kaftan hütete sich vor einer zu gefälligen, nur emotional rauschenden Interpretation. Er arbeitete vor allem im Finalsatz die harmonischen und instrumentalen Schärfen und Gegensätze heraus und ließ damit deutlich werden, in welcher Verfassung Tschaikowsky diese Sinfonie verfasste und welche Kämpfe er mit sich und seinem musikalischen Material ausfocht. Dieser letzte Satz entfaltete ein kompromissloses Eigenleben weit über die träumerische Resignation der ersten drei Sätze hinaus und steuerte zielsicher auf einen musikalischen Höhepunkt zu. Dirk Kaftan verausgabte sich dabei in einem Maße, das man am Einsatz seines gesamten Körpers nachvollziehen konnte. Nach dem Schlussakkord drehte er sich zum Publikum und zeigte einen völlig erschöpften Gesichtsausdruck. Der kam nicht von ungefähr, denn er hatte mit dieser Sinfonie tatsächlich eine großartige Interpretation hingelegt.
Das Publikum zeigte sich ebenso begeistert wie nach dem Solokonzert und spendete dem Dirigenten und dem Orchester lang anhaltenden, streckenweise frenetischen Beifall. Diesen musikalischen Abend wird man in Darmstadt so schnell nicht vergessen.
Frank Raudszus
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