Das Staatstheater Darmstadt erntet bei der Premiere von Camille Saint-Saëns´ Oper „Samson und Dalila“ Beifall und Buhs.
Eine Szene ist symptomatisch für die Inszenierung der israelisch-russischen Regisseurin Inga Levant: Nachdem Samson seine Haare und damit seine Kraft verloren hat, fällt der vormalige „Held“ plötzlich als Clown aus der Heldenmaschine, über die noch zu sprechen sein wird. In die plötzliche Stille ruft eine Frau aus dem Publikum halb spöttisch, halb verwundert „Eieieie“ hinein, und das Publikum antwortet mit einem Gelächter, das die gleiche distanzierte Verwunderung ausdrückt. Nun ist diese Szene der zentrale dramatische Punkt, an dem die Geschichte umkippt, und die Regisseurin hat hier sicherlich kein Gelächter sondern Betroffenheit eingeplant.
Die Szene ist jedoch symptomatisch für eine Inszenierung, die auf die Farce setzt und damit Gefahr läuft, in unfreiwillige Komik zu verfallen. Inga Levant wollte bewusst gegen die abgenutzte weil sich aufdrängende Interpretation des Kampfes „Israelis gegen Palästinenser“ inszenieren. Die meisten ihrer Vorgänger hatten sich dieses scheinbar dankbaren Konzepts bedient. Dagegen will sie den Begriff des „Helden“ zur Disposition stellen. Denn Samson war ein solcher Held, der nicht nur seine menschliche Feinde sondern auch wilde Tiere wie Löwen besiegte oder gar gnadenlos tötete. Erst das Komplott des Philister-Priesters mit Dalila beendet sein Heldendasein. Dalila spielt die treu liebende Frau, und Samson verfällt ihr trotz der Warnung anderer Hebräer. Als er ihr das Geheimnis seiner Kraft verrät, ist es um diese geschehen.
Inga Levant zeigt aber nicht nur das Elend des besiegten („kastrierten“) Helden und seinen am eigenen Volk begangenen Verrat, sie bricht auch den strahlenden Helden ironisch. In ihrer Inszenierung will sie zeigen, dass Helden „gemacht“ werden, wenn man sie zu brauchen meint. Dazu lässt sie den alten Hebräer einen kleinen Jungen aus dem Publikum holen und mit einen gläsernen Fahrstuhl in den Bühnenuntergrund schicken, von wo er ein wenig später als Held Samson wieder an die Oberfläche kommt.
Die Philister stellen in dieser Inszenierung eher ein Panoptikum seltsamer Figuren denn einen ernst zu nehmenden Gegner dar. Erster und zweiter Philister treten in Tierkostümen auf und irren ziellos auf der Bühne herum, bis Samson ihnen die Kostüme vom Leibe reißt. Dabei kommen Frauenkleider zum Vorschein, deren Sinn sich weder aus der Szene noch aus der sonstigen Handlung erschließt. In dieser Inszenierung scheucht der Oberpriester die heulenden und zitternden Philister mit der Peitsche eines Dompteurs in einen Käfig und schwört Samson Rache. Die Metapher der Tiere und des Dompteurs bleibt jedoch trotz des unbezweifelt grotesken Effekts unklar.
Ebenso unklar bleibt der Grund für die Besetzung des Oberpriesters mit einer Frau. Zwar soll diese Inszenierung nicht nur den „Helden“ sondern auch die Geschlechter-Identitäten in Frage stellen, doch das wirkt im Fall des Oberpriesters eher als modischer Gag denn als dramaturgisch zwingende Maßnahme. Da die Rolle für einen Bariton ausgelegt ist, musste eine Frau mit entsprechend tiefer Stimme gefunden werden. Das ist zwar mit Lucia Lucas ausnehmend gut gelungen, bringt jedoch keinen Erkenntnisgewinn. Da Dalila in Wirklichkeit den Oberpriester liebt und diese Liebe im zweiten und dritten Akt auch ausgiebig gezeigt wird, bleibt nur die Schlussfolgerung, dass die Regie mit dieser Besetzung auf – diskriminierte? – gleichgeschlechtliche Beziehungen anspielen wollte. Doch was das mit dem Heldenbild und der Geschichte um Samson zu tun hat, bleibt offen. Schon hier hat man das Gefühl, dass alle möglichen trendigen Themen in diese Inszenierung gepackt wurden, frei nach dem Motto „Darf´s noch ein wenig mehr sein?“.
Ähnliches gilt für die „Heldenproduktion“. Dazu hat Bühnenbildner Charles Edward ein höchst komplexes, bis zum Rand mit verschiedensten Requisiten vollgestopftes Bühnenbild entworfen. Auf der normalen Bühne erhebt sich rechts ein zylindrischer Aussichtsturm, von dem Samson und der Hebräaer anfangs zum Volk reden. Dieses sitzt in Gestalt des Chores zu Beginn hinter der kassettenförmigen Rückwand, so dass nur die Köpfe über den einzelnen Kassetten zu sehen sind. Alle tragen schwarze, dicke Perücken und schwarze Bärte, was wohl einen „ur-hebräischen“, religiösen Eindruck vermitteln soll. Wenn der zum Helden gekürte Samson die Plattform betritt, erscheint auf der Rückwand das Abbild einer Börsen-Kurstafel, auf dem eine fallende Kurve – wohl die der Hebräer – dargestellt wird. Später erscheinen auf der gesamten Rückwand die Logos verschiedener Finanzistitute und Dienstleister, von Mastercard bis zur Sparkassen, in allen Farben und stetem Geflimmer. Zwar kann man die Idee des Börsenwerts eines Helden und seines Volkes nachvollziehen, aber hier wird sie räumlich und zeitlich so lange ausgewalzt, bis auch der letzte Zuschauer es mehr als verstanden hat. Schon hier gilt, und das setzt sich fort, dass weniger mehr gewesen wäre.
Wenn später Dalila und der Oberpriester gegen Samson intrigieren, fährt die Bühne in die Höhe, und unten erscheint die „Heldenfabrik“ als eine Mischung aus „Centre Pompidou“ mit bunten Rohrleitungen und einem gewaltigen, bis hin zu Kurbeln, Manometern und Rostablagerungen naturalistischen Kessel, aus dem der Fahrstuhl zu dem Heldenpodest im ersten Stock führt. Die Aussage ist mehr als deutlich: diese Maschine stellt die benötigten Helden her. Doch stimmt das Ganze von der Logik her nicht. Denn hier unten regiert der Oberpriester, und dem geht es gerade darum, den einzigen existierenden Helden zu vernichten, aber nicht mit Hilfe einer Maschine sondern einer Frau. So muss die Maschine, die anfangs den Helden für die hebräische Welt produziert hat (man sieht es nicht), „um der Metapher willen“ später in unlogisch umgekehrter Richtung arbeiten. Wenn Samson die Nähe Dalilas in ihrer Maschinenunterwelt sucht, fällt er rückwärts als Napoleon aus der Maschine, nachdem er oben als Superman eingestiegen ist. Der Wunsch, die historische Vielfalt des „Helden“ mit der Idee dieser Maschine zu verbinden, treibt sonderbare logische Blüten, und das bewusst Farcenhafte gerät von Zeit zur Zeit an den Rand der Klamotte.
Die seltsame Verkleidung des Chors erklärt sich am Schluss, wenn Samson all seiner Kraft beraubt am Boden liegt. Das Volk legt die strenge schwarze Tracht und die Bärte ab, kleidet sich bunt und huldigt den Philistern. Der König ist tot, es lebe der König. Diese Szene ist im Ansatz durchaus überzeugend und schlüssig, nur wird sie wieder dadurch ausgereizt, dass die Chormitglieder einzeln in mal herausfordernden, mal frivolen Posen an die Rampe treten und sich dem Publikum als Sieger präsentieren. Hier schweift die Regie in sarkastische Kritik der „breiten Masse“ ab, ohne diese aus dem Handlungsverlauf zwingend abgeleitet zu haben. Die Idee bot sich an, und da hat man sie auch noch reingepackt.
Die Musik von Camille Saint-Saëns, je nach szenischer Gegebenheit mit viel spätromantischem Feuer und Schmelz vom Orchester des Staatstheaters unter der Leitung von Elias Grandy interpretiert, erhebt sich über das zeitweise konfuse Geschehen auf der Bühne und rettet den Abend über weite Strecken. Schon allein die weitläufige Bacchanale zu Beginn – sie dient als Ouvertüre – zeigt den ganzen Themen- und Klangreichtum der Musik eines Komponisten, der vor allem im eigenen Land lange unterschätzt wurde. Elias Grandy legt vor allem auf die Interpretation dieser Einleitung viel Wert, da sich die Aufmerksamkeit des Publikums voll auf die Musik konzentrieren kann. In dem einem Oratorium gleichende ersten Akt konzentriert sich die Musik vornehmlich auf den Chor und die einzelnen Sänger, die nacheinander, eben wie in einem Oratorium, Texte vortragen. Hier sind höchste Konzentration und Einfachheit zugleich gefragt, und die Herausforderung liegt darin, die Spannung trotz fehlender Handlungselemente auf der Bühne aufrecht zu erhalten. Grandy und dem Orchester gelingt es, einen weiten Spannungsbogen aufzubauen und den quasi-religiösen Charakter dieser Musik herauszuarbeiten. Später zeigt das Orchester auch bei den dialogischen Elementen der weiteren Handlung seine Stärke in der Betonung und Untermalung der jeweiligen Befindlichkeit der Protagonisten.
Die drei Hauptdarsteller tun sängerisch alles, um dem Stück gerecht zu werden, und an den stimmlichen Leistungen ist nichts auszusetzen. Stella Grigorian überzeugt vor allem in den intensiven Arien, die sie nicht nur ohne große Anstrengung präsentiert, sondern denen sie auch eine gehörige Portion Emotionen mitgibt. Luis Chapa ist ein stimmstarker und präsenter Samson, der leider des Öfteren unter den seltsamen Einfällen der Regie zu leiden hat. Lucia Lucas beeindruckt mit ihrer tiefen, fülligen und durchsetzungsstarken Stimme und lässt zeitweise vergessen, das hier eine Frau einen Männerpart spielt – wenn nicht die Regie mit verschiedenen Accessoires die Weiblichkeit der Interpretin bewusst betonen würde.
Bleibt außer den anderen Sängern – unter anderen Thomas Mehnert als 2. Philister und Vadim Kravets als alter Hebräer – noch der sogenannte „Performer“ zu erwähnen, den Steffen Moddrow spielt. Er tritt gleich zu Beginn vor den Vorhang und stellt dem Publikum eine Frage nach dem Archetypus des Helden, die sich ein wenig wie ein (ober)lehrerhafter Hinweis auf die Interpretation der Inszenierung anhört. Später tritt er noch zwei Mal mit jeweils deutsch gesprochenen Kommentaren – gereimt oder prosaisch – auf, die ebenfalls einen Stich zu sehr ins Belehrende geraten. Man hat bei diesen Einschüben ein wenig das Gefühl, an die interpretatorische Hand genommen zu werden, und ist verstimmt.
Nach dem Schlussakkord der Premiere brach – man hätte es sich denken können – ein Sturm aus „Bravos“ und „Buhs“ aus. Viele Zuschauer empfanden die Beliebigkeit der ungeordneten und nicht logisch nachzuvollziehenden Regieeinfälle als chaotisch und brachten das auch deutlich zum Ausdruck. Andere wiederum schienen gerade an diesem bunten Treiben auf der Bühne ihre Freude zu haben. Ob diese Inszenierung im Sinne des Komponisten ist, lässt sich nicht mehr ergründen, aber die Freiheit der Interpretation ist halt unantastbar. Ob diese Interpretation aber den Sinn des dahinter stehenden Mythos überzeugend wiedergibt, darf bezweifelt werden.
Frank Raudszus
No comments yet.