Das Staatstheater Darmstadt bringt William Shakespeares „Romeo und Julia“ in ungewohnter Form auf die Bühne.
Natürlich geht man mit einer gewissen Erwartungshaltung ins Theater, wenn ein Klassiker gegeben wird. Wenn es sich darüber hinaus auch noch um „Romeo und Julia“, die Liebestragödie schlechthin, handelt, sind stereotype Assoziationen um so stärker geweckt. Selbst wer offen ist für Überraschungen einer Inszenierung, geht von gewissen Gesetzesmäßigkeiten aus, die sich nicht ändern. Eines dieser ungeschriebenen Axiome lautet bei „Romeo und Julia“, dass im Mittelpunkt des Geschehens ein Liebespaar aus Mann und Frau steht.
Die Darmstädter Inszenierung bricht mit all diesen Sicherheiten und stellt die übliche Konstellation auf den Kopf. Bei Shakespeare war es üblich, dass Frauenrollen von Männern gespielt wurden, da sich die – öffentliche! – Schauspielerei für Frauen nicht schickte; rangierte dieses Gewerbe im öffentlichen Ansehen doch nur knapp über dem der Prostitution. Doch man versuchte zumindest, für die Frauenrollen schmächtige Männer mit jugendlichem, wenn nicht gar femininem Aussehen auszuwählen, um den Zuschauern die Illusion nicht zu rauben. In Darmstadt greift Regisseur Robert Gerloff diesen Ansatz auch ohne dramaturgische Not auf und führt ihn gerade deswegen konsequent zu Ende. Er besetzt in dieser Inszenierung alle Rollen mit Männern, sozusagen als dramaturgisches Gegengewicht zu Kleists „Penthesilea“ in diesem Hause, in der nur Frauen auftreten. Diese im ersten Augenblick seltsame Entscheidung ist beim zweiten Hinsehen jedoch nicht so widersinnig, da das Stück eigentlich ein Männerstück ist, in dem außer Julia keine zentralen Frauenrollen vorkommen. Julias Mutter spielt wie die Amme dramaturgisch nur eine Nebenrolle, und beide sind im Grunde genommen verzichtbar, das heißt, sie können auch von Männern gespielt werden.
Wenn man die reine Männerbesetzung nicht aus der Not mangelnder Verfügbarkeit von Frauen – wie bei Shakespeare – wählt, sondern sich bewusst dafür entscheidet, braucht man auch nicht auf ein möglichst weibliches Aussehen der Darsteller zu achten, sondern kann die dramaturgische Linie auch hier konsequent einhalten. Gerloff tut dies dahingehend, dass er für die Rolle der Julia mit Miguel Abrantes Ostrwoski einen mittelgroßen Mann um die Vierzig auswählt, der zwar als Mann nicht ausgesprochen athletisch wirkt, im weiblichen Dress jedoch – zumindest äußerlich – ein wahres Mannweib abgibt. Als Pendant besetzt Gerloff den Romeo mit einem Schauspieler (Christian Bayer), den eher weiche Züge und eine helle Stimme auszeichnen. Entsprechend lässt Gerloff auch beide von Anfang an spielen. In einer Vertauschung der Rollen tritt Julia als selbstbewusste und erotisch aggressive junge Frau auf, während Romeo eher den feinsinnigen, allen Macho-Allüren abgeneigten jungen Mann gibt.
Zumindest bei Romeo ist dies nicht ganz falsch, denn auch in Shakespeares Text ist er eher der verliebte Träumer, der sich immer wieder aus der gutgemeinten Umklammerung seiner Freunde löst. Bei Julia ist dieser Identitätswechsel jedoch problematischer. Sie ist gefangen im engen Korsett ihrer Familie und der Konventionen und über weite Strecken auf eine eher passive Rolle fixiert. Liest man den Text jedoch genau, dann hört man zwischen den Zeilen ihren Protest gegen Überbehütung, Entmündigung und Zwangsverheiratung durch. Ohne zu zögern geht sie auf das vom Priester angezettelte Komplott gegen ihre Eltern und den ausgewählten Heiratskandidaten vor und stellt sich damit gegen ihre Familie und die gesellschaftlichen Normen. So gesehen ist es konsequent, dass Gerloff diesen Widerstand durch ein männliches Gebaren offen zum Ausdruck bringt. Ähnliches gilt für den Dialog mit Romeo, in dem sie an seiner Treue zweifelt und gleichzeitig darum fleht. Das kann man als auch als „klare Ansage“ formulieren, wie es Julia alias Ostrowski in dieser Inszenierung tut. Diese Julia hat ihren Romeo von vornherein im Griff und lässt ihn das auch ziemlich deutlich spüren. Dass dieser Rollentausch nicht bierernst gemeint ist sondern mit einer gehörigen Portion Humor befrachtet ist, nimmt ihm etwas von seiner optischen Drastik.
Überhaupt verfährt diese Inszenierung nach dem uralten Theatermotto, dass sich jede Tragödie auch als Komödie darstellen lässt, was nichts anderes bedeutet, als dass die großen, oftmals übersteigerten Emotionen und Erschütterungen der Seele umso kleiner erscheinen, je weiter der Kreis um sie gezogen wird. Die Tragödie verengt den Blick stets auf das Individuum, die Komödie weitet ihn sowohl räumlich und gesellschaftlich wie auch zeitlich und ordnet das individuelle Schicksal in den unaufhaltsamen Strom der Geschichte ein.
Der humoristische, zeitweise groteske Zug zeigt sich auch in anderen Szenen. Der Fluchtpunkt der Religion, hier in dem komplizenhaften Priester angesiedelt, wird bei Gerloff zu einem Schnellrestaurant mit den üblichen „Burger“-Plakaten. Der Priester wird zum Chef des Imbisses, und ein angedeuteter Rock macht ihn ansatzweise zur Frau. Das lässt sich zwar im frühen 21. Jahrhundert in einer säkularen Umgebung nicht mehr als Provokation verkaufen, birgt jedoch ein gewisses komisches Potential, insofern das Publikum sich darüber im Klaren ist, dass es sich ursprünglich um einen Priester der Kirche Roms handelt. Diesen hat allerdings bereits Shakespeare durch sein Komplizenschaft mit dem weltlichen Liebespaar gegen die herrschenden Konventionen in den Widerstand verschoben. Es bleibt der Inszenierung also in dieser Hinsicht kein großes Provokationspotential. Man könnte es allerdings als hintergründigen Gag verstehen, dass Julia durch einen „Fast Food“-Trank in eine scheintodähnliche Starre fällt….
Ein wichtiger Aspekt des Stücks sind die jeweiligen familiären und gesellschaftlichen Umgebungen der beiden Liebenden. Dabei sind die Capulets durch Julias sich streng an die Konventionen haltende Eltern geprägt, die den Gang der Handlung eher bremsen, während Romeo von seinen Freunden Mercutio und Benvolio umgeben ist, die als Vertreter der jungen Generation für Leben und Unruhe sorgen. Romeo ist umgeben von aufmüpfigen Männern, Julia von konservativen Eltern, und es ist kein Zufall, dass Romeo den einzigen jungen Mann aus Julias Umgebung, Tybalt, tötet, nachdem dieser Mercutio umgebracht hat. Diese Asymmetrie der Umgebungen betont zusätzlich die geschlechtsspezifischen Identitäten, die Shakespeare noch als gegeben betrachtete und die diese Inszenierung aufbrechen will.
Gerloff bringt diese Unterschiede deutlich zum Ausdruck. Das Paar Benvolio (Stefan Schuster) und Mercutio (Nicolas Fethi Türksever) wird zu einer tragenden Säule dieser Inszenierung. Die beiden verstehen sich blind und beherrschen mit ihren jugendlich-frechen Sprüchen, einem dynamischen Spiel und viel Sinn für Situationskomik zeitweise die Bühne. Dabei kommen sie auch mal mit einem uralten Fiat auf die Bühne gerollt oder radeln auf Fahrrädern durchs virtuelle Verona. Damit bilden sie ein Gegengewicht zu Romeo und Julia einerseits und der erstarrten Capulet-Welt andererseits.
Auch der Musik räumt Gerloff einen großen Raum ein. Liebeslieder aus verschiedenen Epochen zieren den Weg von Romeo und Julia, wobei neben Richard Wagner („Oh du schöner Abendstern“) vor allem Elvis Presley im Playback von verschiedenen Sängern zu Gehör kommt. Dabei werden dann stets alle Strophen durchgesungen, wodurch die Handlung leider ins Stocken gerät. Die Verliebtheit in solche musikalische Gags verbaut leider des Öfteren die Einsicht in den dramaturgischen Bruch, den solche – wenn auch noch so bühnenwirksame – Gesangseinlagen zur Folge haben.
Die Verdichtung der Handlung und den komischen Effekt reichert auch das Prinzip der Mehrfachrollen an, dass diese Inszenierung in besonderem Maße prägt. So tritt Julius Bornmann in vier Rollen auf (Tybalt, Pater Lorenzo, Capulet und Peter) und Nicolas Fethi Türksever sogar in fünf (Mercutio, Lady Capulet, Balthasar, Page und Diener). Stefan Schuster bringt es noch auf drei (Benvolio, Paris und Bruder Jakob) Rollen, und Gerd K. Wölfle gibt neben der Julia noch den Apotheker, der den tödlichen Trank an Romeo verkauft. Den Fürst von Verona mit Pappkrone und im standesgemäßen Elektrowagen spielt Hans Peter Grothe. Das hat wegen der schnellen Kostümwechsel streckenweise komische Seiten, vor allem, wenn wieder Männerbeine aus Frauenkleidern schauen. Um diese Kostümwechsel zu schaffen, bleiben alle Darsteller auf der Bühne und ziehen sich nach ihrem Auftritt einfach an die Seitenwände zurück, wo sie sich dann auch ungeniert umziehen, während das Spiel auf der Bühne weitergeht. So ähnlich muss es auch zu Shakespeares Zeiten zugegangen sein, weil die Garderoben damals wohl nicht so großzügig bemessen waren wie heute, und daran will die Regie offensichtlich anschließen.
Auch die Bühne orientiert sich an „originalen“ Shakespeare-Aufführungen. Zwar gibt hier kein sandgefülltes Oval wie im „Globe Theatre“, aber auch kein Bühnenbild, sei es nun historisch oder modern. Die Regie nutzt stattdessen extensiv die technischen Möglichkeiten, indem sie Teile der Bühne hoch- und wieder runterfahren und mal oben, mal unten spielen lässt. Wenige Utensilien – ein erleuchtetes Kreuz, eine Sitzgruppe aus dem Schnellrestaurant, vom Bühnenhimmel regnende Pommes Frites – ergänzen das nicht vorhandene Bühnenbild nach Bedarf. Der Fokus richtet sich auf die Darsteller, nicht auf das Ambiente.
Bleibt die Frage, ob diese Version des großen Liebesklassikers funktioniert, und diese Frage muss man mit einem „Jein“ beantworten. Manches gelingt, etwa die Szenen mit Benvolio und Mercutio oder die Anfangsszenen zwischen Romeo und Julia, wenn statt eines schüchternen Mädchens eine starke junge Frau (als Frau muss man sie sich denken) ihre Wünsche bis ins Erotische hinein deutlich artikuliert. Später, wenn Julia verzweifelt an der Sturheit ihrer Eltern, tritt deutlich ein Bruch zwischen der Anlage der Julia und dem Text auf, der sich auch mit gutem Spiel kaum kitten lässt. Eine verzweifelte, weinende Julia passt nicht mehr zu dieser als stark und selbstbewusst angelegten Figur. Damit steht dann auch der sensible Romeo plötzlich ohne Gegenüber da, und der Witz der vertauschten Identitäten des Anfangs schwindet dahein, unter anderem auch deshalb, weil sich der groteske Witz nicht mit dem Doppelselbstmord am Ende verträgt.
Geht man davon aus, dass die meisten Inszenierung dieses Stücks – vielleicht abgesehen von der Inszenierung der Berliner „Schaubühne“ von Lars Eidinger – in einem engen Rahmen eines herkömmlichen Liebesdramas bleiben, so ist der Versuch, das Stück als Groteske zu inszenieren, durchaus gerechtfertigt und letztlich konsequent. Die durchgehende Männerbesetzung sieht jedoch ein wenig nach kramphafter Originalität aus, da sich das Spiel mit den Identitäten nicht in jedem Fall erschließt. Außderdem steht, wie bereits erwähnt, der Text bisweilen der gegen den Strich der Geschlechterrollen gebürsteten Besetzung sperrig im Wege. Und dann funktioniert plötzlich auch der Witz nicht mehr so wie geplant.
Das Premierenpublikum war eindeutig polarisiert: einige (wenige!) verließen den Zuschaerraum bereits vor der Pause, die verbliebenen spendeten am Ende entweder begeisterten Beifall oder empörte „Buh“-Rufe. Auf jeden Fall gibt es jetzt Anlass zu heftigen Diskussionen in Darmstadt, und die werden sicher auch geführt werden.
Frank Raudszus
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