Eine ungewöhnliche Hommage an die Mathematik.
Daniel Tammet, geboren 1979, gehört zu den sogenannten „Inselbegabungen“, Menschen, die über außergewöhnliche Fähigkeiten auf einem ganz speziellen Gebiet verfügen. Bei ihm sind es die Zahlen, und in dem vorliegenden Buch gibt er ein ganz persönliches Bekenntnis zu der Welt der Zahlen ab, die vielen Menschen ein Gräuel ist und Anlass zu unendlich (auch so ein problematischer Begriff) vielen Anekdoten und Glossen über die Schulmathematik gegeben hat.
Wer in diesem Buch ein wissenschaftliches Werk über die Primzahlen erwartet, das zudem diesen Zahlenkategorie eine gewisse Schönheit oder eben Poesie zugesteht, irrt sich. Der Titel ziert zwar die Vorderseite des Buches und ebenso eines seiner Kapitel, verweist jedoch keinesfalls auf eine wissenschaftlich tiefgründige Erörterung. Wie die meisten Kapitel dieses Buches zeigt auch der Artikel über die Poesie der Primzahlen nur einen bestimmten Aspekt auf, nämlich die Eigenart bestimmter Zahlenfolgen, hier am Beispiel einer Gedichtform, der „Sestine“ , aufgezeigt.
In 25 voneinander unabhängigen Essays, Anekdoten und Abhandlungen beleuchtet Tammet die unterschiedlichsten Aspekte und Erscheinungsweisen von Zahlen, oftmals in Umgebungen, die nicht gerade von der Mathematik geprägt sind. Dabei ist er stets bemüht, einerseits den allgemeinen Charakter der Phänomene in den Vordergrund zu stellen und andererseits die Verständlichkeit auch für mathematisch nicht geschulte Leser zu wahren. So beginnt er – didaktisch geschickt – mit Zählsystem verschiedener Ethnien. Gewisse, meist abgelegene Stämme kennen entweder nur Zahlen in der Größenordnung des praktischen Alltags, was meist auf die Zahlen von 1 bis 5 herausläuft, oder sie verbinden, wie das Isländische, Zahlenangaben mit einem konkreten Zählvorgang. Je nachdem, ob es um fünf Schafe oder die abstrakte Größe „5“ geht, wird ein anderes Wort benutzt. Ähnliche Phänomene findet er im Chinesischen und anderen Sprachen, die darauf verweisen, dass die Abstraktion der Zahlen nicht in allen Kulturen so konsequent vorangetrieben wurde wie in unseren westlichen.
Ein Kapitel widmet er der Null, die erst relativ spät in das Zahlensystem eingeführt wurde, was sich zum Beispiel in Shakespeares Werken an verschiedenen Stellen in existenziellen oder grotesken Ausführungen über das „Nichts“ niedergeschlagen hat. In einer anderen Abhandlung geht es um die großen Zahlen und die Unmöglichkeit, diesen noch einen sinnlichen Wert, eine Fassbarkeit, abzugewinnen. Schon die Antike hat sich mit den „Myriade“ und ihren Multiplikationen („Myriaden Myriaden“) beschäftigt und den darin aufscheinenden Begriff der Unendlichkeit zumindestens erahnt.
Eine nahe liegende Erklärung für unser Dezimalsystem findet man in unseren zehn Fingern (und Zehen). Tammet überlegt in einem eigenen Beitrag, welches Zahlensystem sich bei elf Fingern ergeben hätte (angeblich hatte Anne Boleyn elf Finger) oder gar bei zwölf, über die angeblich ein Mexikaner einst verfügt hat. Auf diese anekdotische Weise gelingt es Tammet, Struktur und Bedeutung von Zahlensystemen anschaulich darzustellen.
Seine besondere Liebe gilt der Kreiszahl PI, die für ihn wegen ihrer Endlosigkeit und des Fehlens jeglicher zyklischer Wiederkehr bestimmter Ziffernfolgen eine Singularität darstell. Er beschreibt seinen gelungenen Versuch, einen Rekord der aus dem Kopf vorgetragenen Dezimalstellen aufzustellen. Während er die 20.000 ersten Dezimalstellen vor einem ausgewählten Publikuk vortrug, empfand er die Ziffernfolgen, ihre Struktur und ihren Rhythmus wie ein Gedicht. Er referierte nicht nur austauschbare Ziffern, sondern modellierte in seinen eigenen Augen ein Stück Kunst geradezu mythischen Charakters.
Die Schönheit mathematischer Gleichungen beschwört er anhand Albert Einsteins Gleichungen, vor allem der berühmtesten: E=mc², und zitiert darüber hinaus Größen wie Leibniz, der den Zahlen Schönheit zusprach, oder Pythagoras, dessen berühmter Satz über Hypothenuse und Katheten schon in der Antike als schön gepriesen wurde. Auch die Musik vergisst er nicht zu erwähnen, deren als schön empfundenen Klänge als ganzzahlige Verhältnisse von Frequenzen dargestellt werden können.
Über das „Buch der Bücher“, das hier nicht die Bibel meint sondern ein abstraktes Buch, das sich automatisch durch die vollständige Permutation aller Buchstaben erstellen ließe und alle geschriebenen und (noch) nicht geschriebenen Bücher enthalten würde, kommt er zum Schachspiel, dass für ihn ein einziges faszinierendes Zahlensystem der möglichen Spielsituationen darstellt, dann zum Wesen (und Unwesen) der Statistik und anschließend zu einigen mathematischen Betrachtungen der Zeit, allerdings selbst hier nicht in abgehobenen Formeln sondern in griffigen Beispielen.
Tammets Buch liest sich informativ und unterhaltsam zugleich. Er weckt das Interesse an der Mathematik, ohne den Leser mit unverständlichen Formeln abzuschrecken. Da er jedes Mal eine kleine Geschichte aus seinem Leben oder aus Kultur und Alltag erzählt, wirken seine Ausführungen auch nie oberlehrerhaft oder langweilig. Man kann dieses Buch einzeln lesen, aber auch in einem Stück. Im letzteren Falle erhält man einen besseren Überblick über die Welt des Verfassers und vor allem über die Welt der Zahlen.
Das Buch „Die Poesie der Primzahlen“ ist im Hanser-Verlag erschienen, umfasst 316 Seiten und kostet 19,90 €.
Frank Raudszus
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