Ein fast poetischer Roman über die letzten Vorwendemonate in der DDR.
Die Wendezeit und das Ende der DDR haben – mit einiger Verzögerung – vor allem ehemalige DDR-Bürgern literarisch verarbeitet. Dabei hat sich Uwe Telkamps Roman „Der Turm“ im öffentlichen literarischen Bewusstsein eingegraben, wohl auch, weil er einer der ersten war, der die DDR-Welt auf diese Weise verarbeitete. Einer seiner Alters- und Landesgenosse ist Lutz Seiler, der ebenfalls das DDR-Leben „von der Pike auf“ kennengelernt hat. In seinem vor wenigen Monaten erschienenen Roman „Kruso“ schildert er die Welt der dahinsiechenden DDR aus der Sicht einer Gruppe von Aussteigern, die sich innerlich längst von ihrem Staat losgesagt haben und sich buchstäblich auf eine „Insel der Seligen“ gerettet haben, wo sie möglichst wenig mit dem sozialistischen Alltag zu tun haben und sich der Illusion persönlicher Freiheit hingeben können, wohl wissend, dass es nur eine Illusion ist.
Der Name der eigentlichen Hauptperson ist Romantitel und Metapher zugleich. Aljoscha Krusewitsch, genannt Kruso, spielt in der Belegschaft des Restaurants „Der Klausner“ auf Hiddensee die Rolle des „primus inter pares“. Sein Name und die Insel-Metapher verweisen nicht zufällig auf Daniel Defoes Roman „Robinson Crusoe“, den man sowohl als spannendes Jugendbuch wie auch als Parabel auf ein neues Menschenbild verstehen kann. Robinson Crusoe lässt die zivilisierte Welt gezwungenermaßen hinter sich und lernt, alleine mit der Natur, deren Unbill und deren Früchten auszukommen. Er baut sich eine eigene kleine Zivilisation als bessere Kopie der gerade verlassenen auf, und mit dem (edlen!) Wilden Freitag legt er zumindest den allegorischen Grundstock für eine gewaltfreie und humane Gesellschaft. Die gleiche Grundstruktur liegt Seilers Roman zugrunde.
Seiler lässt Kruso erst langsam in den Mittelpunkt rücken. Wenn man so will, beschreibt er Krusos Welt aus Freitags Perspektive. Edgar, Ed genannt, studiert 1989 Germanistik in Halle. Der Unfalltod seiner Freundin hat ihn seelisch aus der Bahn geworfen, und zum Beginn der Sommerferien beschließt er, möglichst weit weg zu gehen – soweit man in der DDR halt gehen kann. Die zumindest optisch offene Grenze der Ostsee verspricht eine gewisse Freiheit und Genesung von seinen Depressionen. Doch schon die Reise dorthin ist problematisch, weil nicht jeder reisen kann, wie er will. Doch er schafft es und überlebt die ersten Tage und Nächte am Strand, bis er das Ausflugslokal „Der Klausner“ – den gibt es wirklich! – entdeckt und sich dort um Arbeit und Logis bewirbt.
Die ersten Tage muss Ed ausschließlich Zwiebeln schneiden und fühlt sich durch die Isolation ein wenig wie ein Gefangener, obwohl er sogar ein Zimmer zugeteilt bekommt. Doch langsam wächst er in die Belegschaft hinein, wird zunehmend in kurze Gespräche einbezogen und schließlich dem Abwaschteam zugeteilt, das, wie er bald bemerkt, den Kern der Belegschaft bildet. Doch das liegt nicht an der anspruchsvollen Arbeit, sondern an Kruso, dem Hauptverantwortlichen dieses Bereichs. Durch seine Ruhe, sein Charisma und seine Übersicht ist er der heimliche Leiter des Lokals, und der offizielle Restaurantleiter lässt ihm auch genug Freiraum, um diese Rolle auszufüllen.
Ed schließt sich immer enger an Kruso an, soweit dieser es zulässt, und trägt ihm auch einmal ein Gedicht von Georg Trakl vor, das Kruso die Tränen ins Gesicht treibt. Fortan sind die Gedichte, die Ed mitgebracht hat, ein wichtiger Kommunikationspfad zwischen den beiden, ohne dass sie permanent zitiert werden. Sie schaffen eine Welt von Authentizität und Identität, die in der erstarrten DDR-Gesellschaft nur mehr als ferne Sehnsucht zu erkennen ist. Diese Bildhaftigkeit der Gedichte trifft auch auf andere Elemente des Romans zu. So trifft Ed am ersten Morgen in seinem Versteck am Strand auf einen Fuchs, mit dem er sich virtuell unterhält. Jedes Mal, wenn Ed zum Strand hinuntergeht, liegt der Fuchs schon dort und wartet auf ihn. Seiler baut diesen Fuchs zu einem „alter ego“ auf, das auf die Ängste und Sehnsüchte des jungen Mannes eingeht, und verleiht ihm gleichzeitig eine Aura der Unabhängigkeit und Freiheit, die in der späten DDR eben nur noch einzelgängerische Tiere entwickeln können. Ed selbst ist dieser Fuchs, der sich verkriecht und möglichst wenig mit der Welt zu tun haben will.
Aktuelle politische Verhältnisse oder gar Ereignisse spielen in dieser Geschichte eine untergeordnete Rolle. Seiler beschreibt nicht die reale politische Situation in der DDR am Beispiel verschiedener Figuren sondern die Befindlichkeit der Menschen in diesem System. Alle sind sie in gewisser Weise Füchse, die sich auf einer eigenen Insel verkrochen haben und am liebsten dort überwintern würden. Auch Kruso ist einer von ihnen, er denkt jedoch über sich hinaus, weil er täglich die „Aussteiger“ und „Ausgeworfenen“ erlebt, die auf Hiddensee das suchen, was sie in der DDR nicht finden. Denn Ed ist nicht der Einzige, der hierher geflohen ist. Dutzende geradezu namenloser junger Leute sind hier gestrandet, und Kruso nennt sie die „Schiffbrüchigen“, die man aufnehmen und betreuen muss. Und so muss Ed erst eine Phase der Bewährung durchlaufen, bevor er in die geheimen Strukturen von Krusos Welt eingeweiht wird. So wie Defoes Robinson Crusoe den Wilden Freitag vor den Kannibalen rettet, so rettet Kruso die „Schiffbrüchigen von Hiddensee“ vor der Verzweiflung, indem er ihnen während der Sommermonate nicht nur Nahrung und Unterkunft besorgt – das Ganze natürlich immer heimlich, um nicht die Aufmerksamkeit der allgegenwärtigen Grenztruppen auf sich zu ziehen – sondern ihnen auch Stabilität und damit einen gewissen Trost verleiht.
Ed wird immer mehr in dieses subversive System hineingezogen und erfährt dabei nicht nur Krusos Lebensgeschichte, sondern auch die Schicksale verschiedener „Schiffbrüchiger“, die er in seinem Zimmer für einzelne Nächte aufnehmen muss. Dabei erscheint der allgegenwärtige Überwachungsstaat lediglich in Gestalt der nächtens umherstreifenden Suchscheinwerfer der Patrouillenboote oder als einzelne Patrouillen von Grenzsoldaten, die sich aber leicht – oder gar gern? – täuschen lassen.
Verweise auf die reale Welt außerhalb von Hiddensee kommen aus dem „Viola“ genannten Radio, das unaufhörlich in der Küche des „Klausners“ dudelt und aus unerfindlichen Gründen nur den – westlichen! – Deutschlandfunk empfangen kann. Die Kellner sind zum Teil selbst ehemalige „Schiffbrüchige“, so ein Germanist, der täglich neue Bücher in die Gemeinschaft einschleust, die man in der DDR nicht käuflich erwerben kann. Die gesamte Belegschaft des „Klausners“ hat sich unter Krusos Leitung zu einer verschworenen Gemeinschaft von „Aussteigern“ zusammengerauft, die auf der einsamen Insel so lange zu überwintern gedenken, bis auf dem Festland endlich der Frühling ausbricht. Der Leser weiß natürlich aus den knappen Hinweisen auf die Jahreszahl, dass dieser Zeitpunkt nicht mehr lange auf sich warten lassen wird. Doch bevor der bekannte historische Umbruch erfolgt, schlägt die Staatsmacht auf Hiddensee noch einmal buchstäblich zu und geht mit brutalen Mitteln gegen die vermeintlichen Umstürzler vor….
An diesem Punkt dreht sich auch der Roman. Ging es bis hierher um Solidarität unter heimlichen Dissidenten und subversiven Widerstand einer verschworenen Gemeinschaft, so bricht jetzt diese Gemeinschaft unter dem äußeren Druck auseinander. Nach und nach verlassen die Mitglieder der „Klausner“-Belegschaft die Insel wie Füchtlinge, wobei stets die Frage offen blleibt, ob ein Verräter unter ihnen war. Am Schluss bleibt nur noch Ed, der verzweifelt versucht, den „Klausner“ zumindest als persönliche Illusion am Leben zu erhalten. Als dann überraschend Kruso in erbärmlichem Zustand wieder auftaucht, schwingt sich der Roman zu einem letzten, melancholischen Höhepunkt auf.
Der zweite Teil der Desillusionierung und des Niedergang legt den Gedanken nahe, den Roman als Metapher auf die DDR zu lesen. Die anfängliche, zukunftsfrohe Phase im „Klausner“ steht für die ersten zwölf Jahre der DDR, als nicht nur die Gründer sondern auch viele Einwohner vom Versprechen des Sozialismus beseelt waren und an seiner Umsetzung im Alltag arbeiteten. Hier kann man die stets latent lauernden Grenztruppe als den äußeren. „imperialistischen“ Klassenfeind interpretieren, wie ihn viele aufrechte Sozialisten tatsächlich sahen. Den gewaltsamen Wendepunkt könnte man dann wahlweise mit dem Mauerbau oder – noch besser – mit dem entlarvenden Ende des „Prager Frühlings“ im Jahr 1968 gleichsetzen. Danach hatten der Sozialismus im Allgemeinen und die DDR im Speziellen ihre Glaubwürdigkeit verloren, und es ging politisch und wirtschaftlich nur noch abwärts – wie im „Klausner“. Dann gewinnt auch die mythisch übersteigerte Figur der Sonja, Krusos verschwundene und wohl bei einem Fluchtversuch umgekommene Schwester, metaphorische Bedeutung als die gestorbene und ewig betrauerte Utopie des Sozialismus.
Ein Epilog führt dann in einem Zeitsprung zwanzig Jahre weiter, konfrontiert Ed mit den „toten Seelen“ der in der Ostsee umgekommenen Republikflüchtlinge und endet in einer Pointe, die einem der lange verachteten Figuren dieses Romans späte Ehre erweist und damit die menschlichen Verhältnisse und Vorurteile zurechtrückt.
Lutz Seilers Roman besticht vor allem durch die atmosphärische Dichte, die sich aus seiner poetischen aber nie gefühligen oder gar schwülstigen Sprache ergibt. Ihm gelingt das literarische Kunststück, die seelische Befindlichkeit in ihrem Kern verletzter Menschen im Rahmen einer scheinbar alltäglichen, ja, bisweilen trivialen Handlung darzustellen. Denn viel passiert in diesem Roman nicht. Spektakuläre Aktionen oder Ereignisse gibt es so gut wie nicht, die kleinen Tragödien tragen auch immer einen komischen Keim in sich und berühren gerade darum. Seilers Sprache nimmt den Zuhörer buchstäblich gefangen und führt ihn in eine Welt der Gestrandeten, die sich ihre geistige Freiheit auf Kosten ihrer gesellschaftlichen Position bewahrt haben, jedoch täglich, ja stündlich damit rechnen müssen, auch diese noch zu verlieren, weil die Machthaber die persönliche Unabhängigkeit ihrer Bürger fürchten. Franz Dinda liest das Hörbuch mit einer derart glaubwürdigen Mischung aus erzählerischem Stil und feiner psychologischer Einfühlung, dass man sich dem Sog der Geschichte nicht entziehen kann.
Das Hörbuch ist im Verlag Hörbuch Hamburg erschienen, umfasst sieben CDs und kostet 19,99 €.
Frank Raudszus
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