Das Schauspiel des Staatstheaters Darmstadt inszeniert Kleists Trauerspiel „Penthesilea“.
Vor zehn Jahren haben wir die Frankfurter Inszenierung dieses selten gespielte Stück kritisch rezensiert. Ein Grund für die Schwierigkeiten jeder Inszenierung liegt in der extremen Textlastigkeit des Stücks, in dem große Teile der „Handlung“ von unbeteiligten Personen berichtet werden, so wie man früher auch Schlachten – aus bühnentechnischen Gründen – nicht darstellte sondern von Herolden schildern ließ. Das führt zu vielen Szenen, in denen sich die Protagonisten gegenseitig die Ereignisse an anderen Orten und zu anderen Zeiten in – immerhin nicht gereimten – Versen erzählen.
Die neue Darmstädter Inszenierung von Simone Blattner überrascht bereits beim Eintritt in den Zuschauerraum: gegenüber den üblichen Zuschauerrängen erhebt sich auf der Bühne eine zweite Tribüne, so dass das Publikum zumindest optisch in das Spiel einbezogen wird. Wie sich später zeigen wird, sind sogar einzelne Plätze in den jeweiligen ersten Reihen als szenische Rückzugsorte für die Darsteller vorgesehen. Zwischen den beiden Zuschauerrängen spannt sich ein Kletternetz aus rechteckig miteinander verknüpften Seilen über die gesamte Breite und Höhe der Bühne, quasi wie eine transparente Trennwand. In diesem Netz spielt sich ein großer Teil der Handlung ab. Zu Beginn sieht man dort drei Griechen – Odysseus, Antilochos und Diomedes – wie Bergsteiger in den Seilen hängen und mieinander über Troja und die Amazonenkönigin Penthesilea diskutieren. Durch Abnehmen der Bärte und Perücken verwandeln sich die drei Schauspielerinnen noch im Netz in die Amazoninnen Penthesilea, Prothoe und Asteria. Die Doppelbesetzung der Nebenrollen erlaubt dabei die Verdichtung des Geschehens durch Rollenwechsel.
Es stellt sich natürlich die Frage nach den Gründen sowohl für das Bühnenbild als auch die Besetzung, vor allem für die Tatsache, dass auch alle Männerrollen von Frauen gespielt werden. Die Annahmne, hier versuche die Regie sich einfach mal an einer „neuen Idee“ greift wohl zu kurz, und man darf annehmen, dass sich die Regisseurin gedanken über die Doppeltribüne und das Netz gemacht hat. Ausgehend von dem trojanischen Krieg als Hintergrund könnte man annehmen, die beiden seiten der Tribüne spiegelten die Seiten des trojanischen Krieges wider, aber das lässt sich aufgrund der geringen dramaturgischen Bedeutung Trojas nicht aufrechterhalten. Wohl eher will die Regisseruin damit die getrennten Welten der Griechen und der Amazonen symbolisieren. Patriarchat hier, verschärftes Matriarchat dort, und in der Mitte sozusagen der Grenzzaun, auf dem sich die Antipoden bekämpfen.
Doch dieser Grenzzaun, das Netz, weist für beide Seiten dieselbe Struktur auf. Das Netz steht für die saubere, rechtwinklige und fest in sich verankerte Welt der jeweiligen Regelsysteme. Dabei gleichen sich die Systeme trotz ihres – inhaltlich diametralen – Gegensatzes. Beiden Systemen wohnt das Prinzip der Macht und der Unterwerfung inne, und beide Volksstämme – oder besser: Gesellschaften – haben ihre Identität und ihre Existenz auf diese Prinzipien gegründet. Solange sie den Gesetzen folgen, bewegen sie sich sicher in dem Netz der Regeln auf und ab, wobei die jeweilige Kletterhöhe schon fast zum Abbild der Hierarchie gerinnt.
Doch sobald die Gesetze gebrochen oder nur hinterfragt werden, verliert das Netz der Regeln seine innere Festigkeit und fällt irgendwann in sich zusammen. In dieser Inszenierung wird dies deutlich, wenn Penthesilea und Achill sich küssen. Für beide gilt – und für Penthesilea in besonderem Maße -, dass sie ihre Sexualpartner eigentlich nur durch Raub oder Unterwerfung gewinnen können. Erotische Liebe, gar selbstlose, ist in den jeweiligen Gesellschaften nicht vorgesehen, und wo sie aufflammt, bringt sie das gesamte Gefüge zum Einsturz. Auf der Bühne fällt der Vorhang unmittelbar nach dem Kuss krachend zu Boden.
Penthesilea wird an dem Dilemma zwischen Staatsraison und Emotionen buchstäblich irre. Bei ihr als Königin sind Pflichtgefühl und Loyalität natürlich besonders stark ausgeprägt. Schon der Wunsch, Achilles als „Brutpartner“ zu erobern, kollidiert mit dem Amazonen-Gesetz, dass nur der Zufall des Kampfes diese Wahl treffen kann. Schon hier gerät sie in einen Konflikt. Als sie später erfährt, dass Achill sie im Kampf besiegt hat, ohne sein Recht der Tötung wahrzunehmen, empfindet sie das als Missachtung, da er sie nicht mehr als Gegnerin sondern nur noch als bemitleidenswertes Opfer gesehen hat. Als Königin der Amazonen muss sie das als existenzielle Kränkung auffassen, als Frau jedoch würdigt sie die dahinter aufscheinende Emotion. Dieser innere Konflikt zerreißt sie, und als sich Achilles – aus gutgläubiger Liebe – zu einem zweiten Kampf ohne Waffen stellt, hält sie die weitere Steigerung dieses Konflikts nicht aus, verfällt in Wahnsinn und bringt Achill in einem wahren Amoklauf um. Als sie aus dem Wahn erwacht und blutüberströmt erfährt, dass sie den verstümmelt vor ihr liegenden Achill eigenhändig umgebracht hat, schwört sie den Gesetzen der Amazonen ab und tötet sich selbst durch reine Willenskraft.
Die Darmstädter Inszenierung fährt diese dramaturgische Linie durchaus überzeugend nach. Trotz der fast ermüdenden Textfülle und der weitgehend nur indirekt vermittelten Handlung entwickelt die Inszenierung mit zunehmender Spieldauer intensive Dichte. Es stellt sich jedoch die Frage nach dem Grund für die rein weibliche Besetzung. Nach dem „Kaufmann von Venedig“ ist dieses die zweite Inszenierung mit dieser Tendenz, allerdings noch konsequenter, da kein einziger Mann auf der Bühne steht. Ein soziales „Gender“-Bekenntnis der Schauspielleitung kann kaum dahinter stecken, denn dann hätte man – ähnlich dem Berliner Gorki-Theater mit seinem Migrantenschwerpunkt – das Ensemble mehrheitlich mit Frauen besetzen können. Derzeit stehen dreizehn Männer acht Frauen gegenüber. Damit bleibt nur noch eine dramaturgie-immanente Begründung. Die will sich jedoch auch nach gründlicher Überlegung nicht ergeben. Das Stück positioniert eindeutig die reine Frauenwelt der Amazonen gegen die „normale“, d.h. männlich geprägte Welt, ja, es lebt gewissermaßen davon. Die erotische Komponente zwischen Penthesilea und Achill könnte man zwar auch homosexuell umdeuten, jedoch ohne Unterstützung durch den Text. Die Regisseurin setzt auch nicht auf eine dramaturgische Austauschbarkeit der Geschlechter, denn die Darstellerinnen spielen die Männerrollen – abgesehen von den fast unfreiwillige Heiterkeit auslösenden Perücken und Bärten – mit typisch männlicher Attitüde: laut bis unflätig und aggressiv. Und Nadja Stübiger verleiht dem Achill sogar eine ausgesprochen „coole“, fast gockelartige Männlichkeit. Die Inszenierung zeigt durch die rein weibliche Besetzung nicht etwa, dass es keinen grundlegenden Unterschied zwischen Männern und Frauen gibt, sondern die Männerrollen werden bewusst und durchaus mit kritischem Unterton ausgespielt. Damit aber entfällt ein zwingender Grund für die Besetzung, und es verstärkt sich der Verdacht, dass hier der Selbstzweck im Sinne forcierter Originalität die Regie geführt hat. Dafür ist dieser Regieeinfall jedoch weder neu noch ausgefallen genug, sondern er wurde in den letzten Jahrzehnten in beiden Richtungen mehr als zu Genüge angewandt.
Unabhängig von diesem Kritikpunkt sind jedoch die schauspielerischen Leistungen durchaus ansprechend. Jeanne Devos wird als Penthesilea mit zunehmender Spieldauer immer stärker und setzt mit der Wahnsinnsszene noch einen wirkungsvollen Schlusspunkt. Ihr nimmt man auch – trotz Kleists gewundener Verssprache – den inneren Konflikt ab, der sich von Szene zu Szene verschärft. Nadja Stübiger setzt einen mit allen männlichen Marotten und Manieren behafteten Achill dagegen und imitiert die typische männliche Körpersprache fast bis zur Karikatur. Doch hinter der männlichen Fassade stattet sie ihn auch mit den Emotionen aus, die Penthesilea so verunsichern. In gewisser Weise erfolgt zwischen diesen beiden tatsächlich eine Vertauschung der Rollen.
Karin Klein spielt eine hellsichtig warnende Oberpriesterin, die das Unheil ahnt, ihm aber nur im Rahmen der herkömmlichen Gesetze begegnen kann und darob selbst in eine düster klagende Verzweiflung fällt. Saskia Taeger, Yana Robin la Baume und Hanna Eichel spielen in Doppelrollen die anderen Griechen (Odysseus, Antilochos, Diomedes) und Amazonen (Prothoe, Meroe, Asteria) mit zupackender Realitätsnähe.
Das Netz dient neben dem dramaturgischen – soweit die Interpretation der Absicht entspricht – auch einem bühnentechnischen Zweck. Da die Schauspielerinnen nach zwei Seiten agieren müssen und auch das Publikum jeweils auf der anderen Seite sichtbar sein soll, ist ein transparentes und möglichst symmetrisches Bühnenbild erforderlich. Das Netz mit seiner einfachen Struktur erfüllt diese Anforderung nahezu perfekt und bedient gleichzeitig die Interpretation.
Kleists Stück steht wegen der Textlastigkeit und der etwas ausgefallenen und nicht leicht zu aktualisierenden Aussage zu recht selten auf den Spielplänen deutscher Theater. Die Darmstädter Inszenierung versucht hier, neue Akzente zu setzen, und teilweise gelingt ihr das auch. Der Konflikt zwischen den starren Regeln einer Gemeinschaft und den individuellen Bedürfnissen kommt deutlich zum Ausdruck, wobei allerdings die Verständlichkeit wegen der „Rundum“-Darstellung nicht immer in ausreichendem Maß gegeben ist. Außerdem ist die rein weibliche Besetzung dramaturgisch nicht ausreichend begründet und hinterlässt daher den leicht schalen Eindruck einer zeitgeistigen Attitüde. Ausgefallene Ansätze einer Inszenierung sollten sich aus dem Stück oder aus einer naheliegenden Aktualisierung bzw. Interpretation ergeben. Das ist hier nicht der Fall oder zumindest nicht erkennbar.
Das Publikum spendete freundlichen Beifall.
Frank Raudszus
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