Die Kammerspiele des Staatstheaters Darmstadt zeigen Heinrich von Kleists „Der Prinz von Homburg“.
Zwei Kleist-Premieren in einer Woche im Staatstheater Darmstadt. Wer diese Kleist-Häufung auf einen etwas ungeschickten Zufall zurückführte, lag falsch, denn sie war beabsichtigt. Sowohl in der „Penthesilea“ als auch im „Prinzen“ geht es einerseits um den Krieg, eine oder gar „die“ elementare Form der Auseinandersetzung zwischen Menschen, und andererseits um den Konflikt zwischen zwei gegensätzlichen oder zumindest orthogonalen Weltsichten: im einen Fall Frauen- gegen Männerwelt und im anderen die Welt des spontan agierenden Individuums gegen die Prinzipien einer Gemeinschaft, denen sich eben dieses Individuum zu unterwerfen hat, soll die Gemeinschaft bestehen.
In Darmstadt war das Stück das letzte Mal im Jahr 2007 in einer Inszenierung von Axel Richter zu sehen, der damals die kreatürliche Angst vor Krieg und Tod in den Mittelpunkt stellte. Juliane Kann dagegen hat das Stück in ihrer Inszenierung radikal gekürzt und als reines Kammerstück – folgerichtig auch in den Kammerspielen – auf die Bühne gebracht. Das Bühnenbild, von der Regisseurin selbst entworfen, besteht lediglich aus einem Podest, auf dem anfangs ein naturgetreues Gipspferd in Originalgröße steht, und aus dem später einige Stücke herausgelöst und zu einem „Brandenburg-Puzzle“ zusammengesteckt werden. Im Hintergrund ist über die gesamte Rückwand das Foto eines rechtwinklig eingefassten Schlossgartens zu sehen, der durchaus in Darmstadt zu finden sein dürfte – ortskundige Zuschauer sind hier gefragt. Die Kostüme der Figuren sind durchweg in Weiß gehalten und korrespondieren mit den weiß geschminkten Gesichtern. Nur der Prinz, gespielt von Samuel Koch, trägt eine goldene Schminkschicht auf dem Gesicht. Hier ist eine Anmerkung wichtig: Samuel Koch ist weitgehend gelähmt und kann lediglich den Kopf und – ein wenig – die Arme bewegen. Ein tragisches Opfer einer Fernsehshow vor einigen Jahren, fand er nach einer Schauspielausbildung eine Anstellung im neuen Darmstädter Ensemble. Allerdings müssen Inszenierungen, die ihn in zentralen Rollen einsetzen, speziell auf ihn zugeschnitten sein, da er sich nicht bewegen kann. Zu Beginn sitzt er auf dem Pferd und spricht von dort den Text auch der Szenen, in denen der Pronz nicht auf einem Pferd sitzt. Um dennoch nicht zu sehr gegen den Text zu spielen, erhält er in dieser Inszenierung mit Tim Wiebus einen „Schatten“, der die notwendigen Gesten beisteuert. Später werden ihn seine Mitspieler buchstäblich auf ein großes Kissen umbetten, von dem er seinen Text weitgehend im Liegen spricht. Da Koch als Prinz nicht mit der Körpersprache spielen kann, müssen einerseits die Mitspieler den größten Teil des dramatischen Potentials aufbauen, und andererseits muss die Regie eine gewisse Abstraktionsebene erreichen, die ein realitätsnahes Spiel überflüssig werden lässt.
Das erreicht die Regisseurin einerseits mit dem geradezu puristischen Bühnenbild, den stilisierten Kostümen und den geweißten Gesichtern, die die Personen in Archetypen des preußischen Systems verwandeln. Darüber hinaus lässt sie die handelnden Personen auch die Regieanweisungen im Sinne eines Erzählers vortragen, und schließlich platziert sie den Kurfürsten – und anfangs auch Natalie – mitten in die Zuschauerränge auf eine erhöhte Position. Von dort her erteilt der Kurfürst seine Befehle, was vor allem für die Zuschauer in den ersten beiden Reihen den Eindruck einer anonymen, nicht fassbaren und fast kafkaesken Autorität erweckt. Später wird sich der Kurfürst, gespielt von Frank Albrecht, auch auf die Bühne begeben, sich dort aber vor allem durch seine abgezirkelten Bewegungen und seinen herrschaftlichen Umhang von den anderen Figuren des Stücks abgrenzen. Der Kurfürst ist in dieser Inszenierung kein Onkel und auch kein Ehemann – die Rolle der Kurfürstin ist vollständig gestrichen – sondern der Vertreter eines höheren Prinzips.
Mit dramaturgischem Mut hat Juliane Kann auch die „Bettelszene“ ziwischen der Kurfürstin und dem Prinzen gestrichen, in der dieser unter Aufgabe aller (soldatischen) Ehre um sein Leben bettelt. Die Plädoyers für den angeklagten Prinzen liegen hier allein bei den beiden Militärs Hohenzollern und Kottwitz sowie bei Natalie. Vor allem letztere rückt Juliane Kann in den Vordergrund. Katharina Hintzen stellt sich vor den im Publikum aufragenden Kurfürsten und schleudert ihm ihre Aufforderung zur Menschlichkeit mit aller Glut einer Gerechtigkeit einfordernden jungen Frau ins Gesicht. Der Regieeinfall, den Kurfürsten ins Publikum zu versetzen, hat dabei zur Folge, dass Katharina Hintzen scheinbar zum Publikum spricht und damit die Wirkung wesentlich verstärkt.
Hatte Axel Richter in seiner Inszenierung noch die kreatürliche Todesangst in den Vordergrund gerückt, so steht hier der Antagonismus zwischen der spontanen Tat des Individuums und dem unerbittlichen Prinzip von Befehl und Gehorsam im Mittelpunkt. Doch Juliane Kann verzichtet auf eine billige Denunziation der kurfürstlichen Prinzipien und damit dieser Person. Der Kurfürst verfällt nicht in den schnarrenden Ton eines tumben Militärs, der auf blindem Gehorsam besteht, sondern sieht sich als Sachwalter einer höheren Verantwortung, in deren Schatten nicht jeder nach eigenen spontanen Einfällen handeln darf. So gerinnt denn auch das durchaus doppelbödige Angebot des Kurfürsten, den Prinzen freizulassen, falls dieser sich ungerecht behandelt fühle, nicht zum billigen Zynismus, der sich an der moralischen Zwickmühle delektiert, sondern zu einer ernsthaften Aufforderung an den geradezu bräsig selbstzufriedenen Prinzen, über seine Handlung nachzudenken.
Die Erkenntnis des Prinzen, zu Recht verurteilt worden zu sein, und seine Annahme des Urteils müssten eigentlich mit zielsicherer Logik zur Hinrichtung führen, und ein prinzipienfester Kurfürst wie dieser dürfte sich durch reine Appelle nicht zu einem Gnadenbeweis erweichen lassen – immer im Sinne einer stringenten Aussage des Stücks. Schließlich ist dieses Stück kein auf „Happy End“ getrimmter Hollywood-Schinken und Kleist kein auf Leserakzeptanz schielender Drehbuchautor. Andererseits erscheint das Todesurteil tatsächlich sehr hart, und Kleist wollte wohl diesen Stoff auch nicht zur antiken Tragödie mit dem Charakter der Unausweichlichkeit stilisieren. Das Dilemma dieser Situation löste er dann sehr elegant mit der Metapher des Traums. Die träumerische Abwesenheit des Prinzen zu Beginn ist ganz offensichtlich die dramaturgische Begründung der plötzlichen Wende im letzten Augenblick. Nicht Kottwitz und Hohenzollern, ja nicht einmal Natalie haben den Kurfürsten umgestimmt, sondern der Prinz ist einfach aus einem düsteren Traum erwacht, den er am Vorabend der Schlacht geträumt hat. Wie diese wirklich ausgehen wird, ist nicht mehr Gegenstand des Stückes und interessiert auch nicht. Die Konflikte sind anhand dieses hypothetischen Ablaufs abgehandelt und bis zum Äußersten getrieben worden, ohne den Zwang zur letzten Konsequenz. Um das Ganze am Ende nicht in eine triviale Lachnummer zu verwandeln, wahrt jedoch der Verweis auf den Traumcharakter eine gewisse Ambivalenz und verleiht dem Stück zum Schluss einen Glanz höherer Ironie.
Die kräftigen Kürzungen tun der Inszenierung durchaus gut. Das Stück gewinnt dadurch an Dichte und auch an logischer Schärfe. Der Gegensatz der beiden Prinzipien und ihrer Vertreter kommt unverfälscht und ohne jegliche vordergründige politische Polemik zum Ausdruck. Die Regisserin hütet sich, Partei zu ergreifen, sondern lässt die Weltsichten aufeinanderprallen. Obwohl die Plädoyers der Fürsprecher des Prinzen mit hohem Einsatz vorgetragen werden, sind sie nicht automatisch als moralisch höherwertige Anklagen gegen ein unmenschliches Prinzip sondern eher als persönliche Parteinahme für einen Menschen in Not zu verstehen. Ob gerade diese im höchsten Maße selbstlosen Einsprüche – schließlich riskieren alle drei Karriere oder Status – den Sinneswandel beim Kurfürsten bewirken, bleibt genauso offen wie die Frage, ob alles nur ein Traum ist.
Die Darsteller zeichnen sich durchweg durch starke Leistungen aus. Katharina Hintzen überzeugt mit hoher Präsenz als Natalie und verleiht dieser Rolle mehr Gewicht als üblich, neben ihr fallen jedoch Frank Albrecht als Kurfürst, Mathias Znidarec als Hohenzollern und Nicolas Fethi Türksever um keinen Deut ab. Frank Albrecht ist ein prinzipienfester aber durchaus zuhörender Herrscher, der jedoch das Gemeinwohl im Auge zu behalten hat. Mathias Znidarec spielt einen mal ausgleichenden, mal besorgten und mal tief betroffenen Hohenzollern, der an dem realitätsfremden Optimismus des Prinzen fast verzweifelt, und Nicolas Fethi Türksever schließlich brilliert sowohl mit seinem – aus szenischen Gründen doppelt vorgetragenen – Schlachtbericht als auch mit seinem hochemotionalen Verteidigungsrede für den Prinzen. Samuel Koch schließlich bietet eine angesichts seiner begrenzten Möglichkeiten ebenfalls beeindruckende Leistung.
Das ausgesprochen junge Premierenpublikum bedankte sich bei dem gesamten Ensemble mit lang anhaltendem, begeistertem Beifall.
Frank Raudszus
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