Im Staatstheater Darmstadt feiert Engelbert Humperdincks Oper „Hänsel und Gretel“ Premiere.
Würde man beliebig ausgewählte Deutschen auffordern, ein Märchen zu nennen, so würden wohl die meisten spontan „Hänsel und Gretel“ nennen. Dieses Märchen vereinigt fast alle Mythen, Ängste und Sehnsüchte von Jahrhunderten in sich, zeigt die Not unschuldiger Menschen und die Erlösung einschließlich der Vernichtung des Bösen. Da ist es nur zu verständlich, dass die Schwester des damals noch unbekannten, jungen Komponisten Engelbert Humperdinck für ihre Kinder ein Singspiel auf der Basis dieses Märchens schreiben wollte. Dank der gutmütigen oder gar begeisterten Unterstützung ihres Bruders wurde daraus ein solcher Erfolg, dass dieser das harmlose Spiel zu einer vollwertigen Oper weiter entwickelte, die bis heute ihren Platz im Repertoire der Theater gehalten hat.
Man braucht niemandem die Handlung der Oper zu erklären. Allerdings haben die Verfasser damals die grausame Handlung ein wenig entschärft, wohl weniger, um die Kinder zu schonen, die Grausamkeiten ganz anders interpretieren als Erwachsene, als um das eigene schlechte Gewissen zu besänftigen. Denn die Vorstellung, dass Eltern – wenn auch aus Not – ihre eigenen Kinder durch Aussetzen im Wald in den sicheren Tod treiben, war wohl nicht nur für Humperdincks und seine Schwester unerträglich. So schickt denn die Mutter die beiden aus Ärger über versäumte häusliche Pflichten in den Wald, um Beeren zu pflücken, wo sie sich verirren. Damit entfällt natürlich auch die Geschichte mit den weißen Kieselsteinen, der neuerlichen – noch grausameren! – Aussetzung der beiden Kindern und dem Verlust der Brotkrumen an die Vögel. In der Oper verirren sich die Kinder nur, der Sandmann singt sie in den Schlaf, und Schutzengel wachen in der Nacht über sie. Der Rest verläuft dann so wie im bekannten Märchen.
Intendant Karsten Wiegand zeichnet selbst für diese Inszenierung verantwortlich und zeigt damit sein Engagement für den Publikumsnachwuchs. Er fügt sich somit nahtlos in die Folge ähnlicher Inszenierungen während der Ära John Dew ein, der ebenfalls – vornehmlich in der Vorweihnachtszeit – diese oder andere Märchenopern auf die Bühne brachte. Wiegand hat dazu eine Inszenierung aus seiner Zeit in Weimar wieder aufgenommen und hier mit einigen Erweiterungen aufgefrischt. Zum Ensemble gehört neben den bekannten Protagonisten ein Kinderchor, der in mehreren Szenen die Bühne belebt, die Schutzengel spielt und am Ende als „lebende Lebkuchen“ die Befreiung des Geschwisterpaares mitfeiert.
Bei dieser Inszenierung geht es ganz offensichtlich nicht darum, das Märchen sozialkritisch zu deuten oder gar eine Anklage gegen die Schlechtigkeit der Welt ins Publikum zu schleudern. Hier sehen wir zwei naive Kinder, ein sorgenvolles wenn auch nicht fehlerfreies Elternpaar (Vater trinkt gern), ein schönes Lebkuchenhäuschen und eine richtige Hexe mit Hakennase und Besen. Bärbl Hohmann hat für diese Inszenierung ein kindergerechtes Bühnenbild geschaffen, das es den Kindern erlaubt, die Geschichte intuitiv zu verstehen und sogar zu lachen. Denn so grausam das Märchen eigentlich ist, so wichtig ist es auch, dass man diese Grausamkeit buchstäblich weglachen kann, ganz gleich, wie alt man ist. Kinder können das eher als Erwachsene, die sofort mit Interpretationen in alle Richtungen beginnen und das Lachen über Grausamkeiten eher als inkorrekt empfinden. Wenn die Hexe sich in kulinarischer Vorfreude auf die beiden stattlichen „Sonntagsbrätlein“ ergeht, beschleicht den Erwachsenen ob der unpassenden Assoziationen bei den Essgelüsten ein ungutes Gefühl, die Kinder aber lachen.
Wenn sich die Kinder im Wald verirren, senkt sich ein Vorhang aus dünnen, glitzernden Fäden auf die Bühne, der an die verminderte Tranparenz eines dichten Waldes erinnert, und ein Labyrinth aus fußhohen Lattenkonstruktionen bildet das unwegsame Wurzelgeflecht zwischen den Bäumen nach. Die Beleuchtung lässt die Fäden in allen Farben schillern und erzeugt damit eine unwirkliche, eben märchenhafte Atmosphäre. Die Schutzengel – in weißer Kleidung und mit richtigen Flügeln (!) – steigen über eine lange Leiter aus dem Himmel hinab, bestreuen die schlafenden Kinder mit Blumen und entschwinden wieder nach oben. Der Sandmann erscheint als überlebensgroßer Fliegenpilz (was diese Assoziation wohl sollte?), und sein Pendant, der morgendliche „Taumann“, weckt die Kinder in einem luftigen Zauberkostüm. Das Hexenhaus schließlich besteht aus großen Lebkuchen, und drinnen steht ein dicker, schwarzer Ofen mit großer Eingangsklappe.
Die Kostüme von Alfred Mayrhofer halten sich ebenfalls dicht an die Märchenvorlage. Hänsel (Ulrika Strömstedt) trägt eine knielange Hose mit Hosenträger und Gretel (Jana BAumeister) geradezu das Klischee eines Mädchenkleides. Doch hier geht es nicht um das Aufbrechen von Kleidungsklischees sondern um die schnelle Identifikatiion der Kinder mit den Figuren, und die erfolgt in erster Linie durch die Kleidung. Die Mutter (Rebecca Teem) kommt im zeitlosen dunklen Kleid, der Vater (Oleksandr Prytolyuk) in rustikaler Bauernaufmachung daher. Die Hexe trägt ein bedrohliches weil schwarzes Kleid und tarnt sich den Kindern gegenüber mit einer freundlichen Küchenkleidung.
Die Darsteller setzen die Vorgabe von Bühnenbild und Kostüme konsequent in eine kindgerechte Aufführung um. Ulrika Strömstedt und Jana Baumeister spielen zwei Geschwisterkinder, die trotz Hunger ihre Fröhlichkeit und ihren Optimismus nicht verloren haben. Rebecca Teem gibt eine sorgenvolle aber von der Not überforderte Mutter, und Oleksandr Prytolyuk spielt den Vater als trinkfreudigen Gesellen, der zwar einen guten Teil der schmalen Einkünfte versäuft, aber im Ernstfall auch treusorgender Vater sein kann. Katrin Gerstenberger bereitet die Rolle der Hexe offensichtlich sehr viel Spaß. Hier kann sie gestisch und mimisch aus dem Vollen schöpfen, das Schmeichlerisch-Falsche und auch das Böse voll ausspielen und außerdem ihre voluminöse Stimme zur Geltung bringen. Dabei schafft sie es, bei den Kindern statt Angst und Schrecken Heiterkeit zu erzeugen, vor allem, wenn Hänsel ihr endgültig die Ofentür vor der Nase zuschlägt.
Die Musik von Engelbert Humperdinck basiert zwar auf einer Reihe bekannter Kinderlieder wie „Suse, liebe Suse“ oder „Ein Männlein steht im Walde“, geht aber weit über das Kinderliedniveau hinaus. Vor allem die Zwischenspiele, aber auch die Soloauftritte und Duette der Erwachsenen, stellen zu recht den Anspruch auf ernst zu nehmende Opernmusik. Dabei sind die Anklänge an Richard Wagner und vor allem Richard Strauss nicht zu überhören. Das gilt ebenso für den Duktus der Gesangsmelodien wie für die Instrumentierung und die Motive der Orchesterpassagen. Wem als Opernliebhaber die auf Kinder zugeschnittene Handlung nicht zusagt, kann auch sich dennoch an der Musik erfreuen, die vom Orchester des Staatstheaters unter der Leitung von Anna Skryleva so präzise wie spielfreudig serviert wird.
Frank Raudszus
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