Die Entstehung einer Choreographie

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Die Compagnie Lanabel zeigt als „Artist in Residence“ Arbeitsproben ihrer neuen Choreographie „Atropos“.

Seitdem das Staatstheater Darmstadt keine eigene Tanzsparte mehr betreibt, sondern mit Wiesbaden zusammen das Hessische Staatsballett besetzt, versucht man, die Präsenz des Tanztheaters auf andere Weise im Hause sicherzustellen. Dazu hat man die „Residenzen“ eingeführt. Dabei gastiert eine auswärtige Compagnie, vorzugsweise aus dem Ausland, für gewisse Zeit am Staatstheater und entwickelt hier ihre Choreographie. Derzeit ist es die französische Compagnie Lanabel, kurz: Cie Lanabel. Am 21. November stellte sie ihre Arbeiten einem kleinen Zuschauerkreis im Balletsaal in der Tiefe des Theaterkellers vor.

Atropos war eine der drei Moiren der griechischen Mythologie und für den Tod zuständig. Annabel Bonnery, die Leiterin der Compagnie, hat diese düstere Figur als Titel für ihre Choreographie gewählt, die derzeit in Darmstadt entsteht und im Januar 2015 in Frankreich uraufgeführt werden soll. Der Titel stammt nicht von ungefähr, denn Annabel Bonnery hat ihre Anregungen bei einem längeren Besuch von Burkina Faso gewonnen, das derzeit von schweren Unruhen und einem Militärputsch erschüttert wird. Ob diese aktuellen Ereignisse bereits in die Arbeit eingeflossen sind, sei dahingestellt, aber auf jeden Fall ist Afrika heute geprägt von ethnischen und religiösen Säuberungen, von Korruption und Mord, so dass sich die zerstörerische Moira durchaus als Namenspatronin anbietet. Annabel Bonnery äußerte sich in einer kurzen Zusammenfassung auf die Frage von Kurator Bruno Heynderickx über ihre Beweggründe dahingehend, dass sie das Raum- und Zeitgefühl anderer Kulturen erfahren und tänzerisch verarbeiten wolle. Ihr zur Seite stehen bei dieser Choreographie die Tänzerin Maëlle Desclaux und der Tänzer Adrien Boissonet. Die Musik – oder soll man besser sagen „Akustik“? – stammt von Thierry Ronget, Jean-Pierre Sarzier und Jéròme Vion, die ebenfalls in Darmstadt mitarbeiten.

Die erste Arbeit beginnt mit langsam anschwellenden Gesprächsgeräuschen aus dem Hintergrund, so dass man im ersten Augenblick sogar denkt, im Flur vor dem Übungsraum werde zu laut gesprochen. Dann betreten die drei Tänzerischen Protagonisten den Tanzboden, den Annabel Bonnery selbst aus Burkina Faso mitgebracht hat, um eine weitgehend authentische Umgebung schaffen zu können. Alle sind nur mit einem knappen Slip bekleidet, sodass man sämtliche Muskeln spielen sehen kann. Zeit vergeht, wenig geschieht; der Mann sitzt abgewandt auf einem kleinen Hocker und starrt nur die Wand an, während sich die beiden Frauen in verschiedenen Posen mal synchron, mal asynchron durch den Raum bewegen. Dabei überwiegen Bewegungsmuster, die an Tiere – etwa hochbeinige Vögel – oder an schwer arbeitende Frauen auf dem Feld erinnern. Der Mann steht derweil als Statue am Rand des Tanzareals, was sich auch als unterschwellige Kritik an dem Geschlechterverhältnis in Afrika deuten lässt.  Erst spät beginnt auch er, sich zu bewegen, dann mit Paarübungen bis hin zu einfachen Hebefiguren. Dazu verteilen die drei kleine afrikanische Statuen im Raum, die besondere rituell- magische Bedeutung haben. Sie können sich mit dieser Bedeutung aufladen, aber nach „Benutzung“ auch wieder entladen und dann zu nutzlosem Kunsthandwerk verkommen. Am Ende laufen alle drei Darsteller mal hintereinander, mal umeinander, mal vor-, mal rückwärts durch den Raum und geben damit ein fließendes Lebensgefühl wieder, wie Annabel Bonnery es empfunden haben mag. Die akustische Untermalung dieser Choreographie besteht aus den bereits erwähnten Gesprächsfetzen im „O-Ton“ und Musikfragmenten von eher kratzenden und schabenden Rhythmusinstrumenten

Das zweite Stück besteht aus Lauffiguren und ekstatischen bis abwehrenden Armbewegungen. Ein harter Rhythmus, anfangs eher als Marsch, dann zunehmend wie Rockmusik anmutend, unterlegt diese Bewegungen. Körpersprache und Armbewegungen drücken zeitweise Angst oder gar Erschrecken und Fluchtgedanken aus. Man kann auch dies als Zeichen der von Kriegen und Kämpfen geprägten Situation in den Ländern Afrikas interpretieren, ohne dass dies plakativ oder gar platt zum Ausdruck kommt.

Im anschließenden Publikumsgespräch verwies Annabal Bonnery auf die Langsamkeit des Lebens in Afrika hin, die auf Europäer wie eine Dehnung der Zeit wirke. Man könne sich dieser Verlangsamung kaum entziehen, auch wenn man sich anfangs an das alltägliche Wartzen erst gewöhnen müsse. Das Publikuk beteiligte sich an dem Gespräch mit spontanen Kommentaren und interessierten Fragen.

Das Hessische Staatsballett hat mit der „Residenz“ ein attraktives Format eingeführt, das in Zukunft sicher noch mehr Interessenten des Tanztheaters anziehen wird.

Frank Raudszus

 

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