Ein apokalyptischer Roman über die Entwicklung der IT-Technologie
Im Wirtschafts- und Politikteil großer Zeitungen wir derzeit viel über die Macht von Google und über die Zerschlagung des angeblichen Monopolisten diskutiert. Dahinter stehen meist wirtschaftspolitische Überlegungen. Gleichzeitig steht jedoch in anderem Zusammenhang „Big Data“ zur Debatte, worunter man die Zusammenfassung und automatische Auswertung aller personenbezogenen Daten versteht, die – unter anderem – im Internet anfallen. Dazu gehören Webzugriffe, Handydaten, Kreditkarten-Informationen, Kaufverhalten (Payback!), Fotos einschließlich Gesichtserkennung sowie weitere einschlägige Spuren, die ein Mensch bei der Nutzung moderner Kommunikations-, Einkaufs- und Bezahlsysteme hinterlässt.
Der US-Autor Dave Eggers hat zu dieser Thematik jetzt einen Roman geschrieben, der alle Zutaten eines guten Thrillers aufweist, dabei aber auf jegliche Zugeständnisse an den Publikumsgeschmack verzichtet – Stichworte „Sex“, „Crime“ und „Happy End“ – und die Kritik an einer bedrohlichen und bereits gegenwärtigen Entwicklung im Sinne einer „clear and present danger“ unmissverständlich zum Ausdruck bringt.
Im Mittelpunkt des Romans steht die Internet-Firma „Circle“, die ein quasi-Monopol auf die Internetsuche besitzt und das Geld vor allem über Werbung verdient. Das Vorbild ist ganz offensichtlich Google, und damit ist die Handlung auch recht gut in der Realität verankert. Wie Google und andere Internet-Firmen, investiert der Circle sehr viel Geld in den Firmen-Campus und stellt seinen Mitarbeitern alle denkbaren sozialen Leistungen und Freizeitangebote zur Verfügung, so dass es der Traum aller jungen Menschen innerhalb und außerhalb der USA ist, für den Circle zu arbeiten.
Die junge Mae wird von einer ehemaligen Mitstudentin von ihrem langweiligen Job bei einem Gas- und Wasserversorger zum Circle geholt, wo sie in der Kundenbetreuung anfängt. Mae muss den ganzen Tag mit Werbekunden telefonieren und sich nach jedem Gespräch per Web bewerten lassen. Ziel sind 100 von 100 möglichen Punkten, bei Bedarf auch durch eine gezielte Nachfrage bei geringen Punktabzügen. Bereits hier erkennt man den auf den Mitarbeitern lastenden Druck. Der erste Schock kommt jedoch, als man Mae nach einer Woche mehr oder minder vorwurfsvoll mitteilt, sie habe sich noch gar nicht an dem firmeninternen sozialen Netzwerk beteiligt. Kommunikation wird beim Circle groß geschrieben, und jeder Mitarbeiter wird angehalten, sich an allen internen, nicht dienstlichen(!) Aktivitäten in Wort und Tat zu beteiligen. Auch dort herrscht ein automatisches Echtzeit-Ranking, das täglich den Grad der Partizipation ausweist. Mitarbeiter mit geringem Ranking werden allein durch den Gruppendruck zur aktiven Teilnahm „erzogen“, und Mae erfährt das bereits nach kurzer Zeit in einem fast absurden Fall, den man in einem herkömmlichen Firmenumfeld als paranoide Empfindlichkeit einstufen würde. Doch Mae akzeptiert diese Vorgaben nicht nur, sie steht auch voll hinter der Begründung, eine enge, auch private Kommunikation zwischen den Mitarbeitern auch und vor allem außerhalb der Arbeitszeit sei eines der höchsten Ziele beim Circle. Schon Wochenend-Besuche bei ihren Eltern werden als nicht unbedingt förderlich für das Firmenklima betrachtet, und Mae hat auch bei jedem Besuch ein schlechtes Gewissen, obwohl ihr Vater an einer schweren Krankheit leidet.
Die Führung des Circle besteht aus drei Männern. Den eigentlichen technischen Visionär sieht man nie, einen noch jüngeren Mann, da er angeblich in irgendeinem abgelegenen Ort neue Ideen ausheckt. Diese Figur erinnert in ihrer Anlage ein wenig an Steve Jobs von Apple. Das operative Geschäft obliegt einem eher väterlich auftretenden Visionär, der an die ultimative Basisdemokratie glaubt, und einem eher undurchdringlichen Managertyp. Diese Aufteilung erinnert an einige reale Firmen, in denen ebenfalls die technischen Visionäre und Gründer bald durch erfahrene Manager ersetzt wurden.
Der neueste Clou beim Circle sind kleine Webcams mit Mikrofon und langlebiger Batterie, die überall aufgestellt werden können und visuelle wie akustische von Menschen und Ereignisse automatisch ins Web übermitteln. Wegen ihres geringen Preises verbreiten sie sich wie ein Virus nicht nur in den USA und erlauben die Überwachung auch der entlegensten Gegenden. Das Argument dahinter lautet, die Kameras würden alle Menschen über alle Ereignisse informieren und außerdem die Kriminalitätsrate senken. Beide Argumente sind auf den ersten Blick nicht oder nur schwer von der Hand zu weisen.
Auf der Rückfahrt von ihren Eltern leistet sich Mae eine nächtliche Bootsfahrt mit einem eigenmächtig „ausgeliehenen“ Boot bei der ihr gut bekannten Bootsvermieterin. Als diese Fahrt durch die auf dem Gelände installierten Webcams an die Polizei weitergemeldet wird und Mae nur von der eigens herbeizitierten Vermieterin vor einer Festnahme bewahrt wird, beunruhigt weniger die polizeiliche Maßnahme ihre Vorgesetzten als vielmehr die Tatsache der privaten „Lustfahrt“. Die wird ihr als unsozialer „Privatspaß“ ausgelegt, da sie ihre Kollegen und die Internet-Welt nicht durch einen entsprechenden Foto-Post daran teilnehmen ließ. Auch hier operiert die Firmenleitung mit dem Argument, dass viele kranke, behinderte und arme Menschen sich eine solche Bootsfahrt nicht leisten könnten und Mae sie aus eigennützigen Motiven nicht daran hat teilnehmen lassen.
Aus Reue beschließt sie, „transparent“ zu werden, eine neue Idee des Circle, die darauf hinausläuft, dass bedeutenden Menschen – vor allem Politiker – rund um die Uhr eine Kamera mit Mikrofon am Körper tragen, die den gesamten Alltag des Betreffende – bis auf wenige ganz intime Momente – in Echtzeit der Welt übermittelt. Von diesem Augenblick an wird Mae zu einer der berühmtesten Personen der gesamten (Web-)Welt, da sie den ureigensten voyeuristischen Zug in uns allen bedient. Mae selbst ist restlos von ihrer selbstlosen Offenheit als Fanal der totalen Demokratie erfüllt und kommt ihrer Pflicht als transparentes Mitglied der Gesellschaft mit Inbrunst nach.
Mae führt eine lose Beziehung zu einem Kollegen, die sie zwar nicht befriedigt aber in mancher Beziehung praktisch ist. Daneben erlebt sie unerwartet eine heftige Beziehung zu einem geheimnisvollen Fremden, der kommt und geht wann und wie er will, keinen Wohnort zu haben scheint und mit äußerster Vorsicht agiert. Er entpuppt sich schon bald als intimer Kenner und Gegner des Circle-Systems und appelliert an Maes kritisches Bewusstsein. Doch je mehr er sie an Dinge wie Privatheit und Selbstbestimmung erinnert, desto mehr vermutet sie in ihm einen wirtschaftlichen oder politischen Spion. Dies umso mehr, als die Transparenz auch ihren Eltern zugute kommt, denn die Firma hat die medizinische Versicherung ihres Vaters übernommen und dafür im Haus ihrer Eltern ei Dutzend Webcams installiert, die in Echtzeit das gesamte Leben ihrer Eltern, angeblich aus medizinischen Gründen, überwacht und auch ins Internet überträgt, um angeblich das Mitgefühl der weltweiten Webgemeinde zu wecken. Mae findet das nachvollziehbar und sogar großherzig, während ihr Ex-Freund heftig protestiert und auch ihr geheimer Geliebter vor dieser Art der Überwachung warnt.
Mae selbst schlägt bei einer Ideen-Sitzung vor, jedem Bürger einen Circle-Account zu verpassen und über diesen Dinge wie Behördengänge und staatsbürgerliche Aktivitäten zu steuern. Auch Wahlenthaltung könne man dadurch verhindern, indem man den Account bei Nichtwahl deaktiviere. Diese Idee findet großen Anklang bei der Firmenleitung, den Kollegen und den „Viewern“ ihres transparenten Lebens. Nur ihr geheimnisvoller Freund ist entsetzt. Als ihre Freundin aus Neid über Maes plötzlichen Aufstieg zum „Transparentstar“ über das Internet und „Bid Data“ ihren eigenen Stammbaum ausleuchten lässt, dabei Schreckliches über ihre Vorfahren bis in die jüngste Vergangenheit erfährt und ihre Familie damit ins Unglück stürzt, sieht Mae das nicht als Grund für ein Umdenken sondern als unangenehmen Kollateralschaden, den man aber in Kauf nehmen müsse.
Der Höhepunkt des totalen Überwachungsterrors naht, als die neue Funktion der Personensuche online vorgestellt wird. Innerhalb von knapp einer Viertelstunde wird eine seit langer Zeit untergetauchte Kindsmörderin mit Hilfe von Fotos, Gesichteserkennung und Millionen Webteilnehmern identifiziert, lokalisiert und festgesetzt. Aus Begeisterung und Überschwang probiert Mae diese Funktion auch noch an einer unbescholtenen Person aus, nur um zu zeigen, das man jeden findet. Ihr Ex-Freund, der sich in die Wälder zurückziehen wollte, ist dafür ein ideales Objekt, doch die Suche endet nach kurzer Zeit in der Katastrophe.
Normalerweise erwartet man von einem Thriller dieser Art, dass die Protagonistin von dem geheimnisvollen Liebhaber in letzter Minute umgestimmt wird, die Machenschaften des Circle öffentlich enttarnt, die Schuldigen bestraft werden und sich das Liebespaar im Happy End findet. Ähnlich lässt sich auch hier die Schlussphase an. In einer Aktion mit hohem metaphorischen Charakter lässt die Geschäftsführung drei seltene Tiefseefische ín das Firmen-Aquarium einsetzen, um zu zeigen, dass ein friedliches Nebeneinander von Raubfischen mit den anderen Meeresbewohnern möglich ist. Doch das Experiment läuft nicht nur völlig aus dem Ruder, sondern Mae erkennt plötzlich Zusammenhänge, die sie so nicht erahnt hat. Schließlich wird sie vor die ultimative Entscheidung zwischen Loyalität und Menschenwürde gestellt und weicht dieser Entscheidung nicht aus. Wie sie entscheidet, soll an dieser Stelle interessierten Lesern nicht verraten werden, aber auf jeden Fall sollte man das letzte Kapitel nicht überschlagen.
Dave Eggers hat einen spannenden Roman geschrieben, der nicht nur ein brisantes Thema der Informationsgesellschaft in lebendige Handlung umsetzt, sondern der darüber hinaus den Vorzug aufweist, nicht aus der moralisch korrekten Perspektive des Autors zu sprechen sondern aus der Sicht eines ideologisch überzeugten „Täters“. Das Brillante an diesem Buch liegt darin, dass viele Argumente der Befürworter der totalen Offenheit und Überwachung für sich genommen nachvollziehbar sind, in ihrer Konsequenz und vor allem in der Summe jedoch zu einem Überwachungsstaat führen, der George Orwells „1984“-Albtraum noch in den Schatten stellt. Als Teil dieser Informationsgesellschaft ist man auf nahezu jeder Seite mit diesen scheinbar „guten“ Argumenten konfrontiert und muss sich mit ihnen auseinandersetzen, anstatt die politisch korrekte Empörung des Autors einfach zu übernehmen.
Alle uneingeschränkten Befürworter von „Big Data“ sollten sich dieses Buch unbedingt zulegen und es von Anfang bis Ende gründlich lesen. Spannend ist es auf jeden Fall, da sich Eggers keine epischen Abschweifungen gestattet, sondern mit einem zupackenden, gradlinigen Stil alle Figuren und Handlungsstränge in den Dienst seines Themas stellt.
Das Buch „Der Circle“ ist im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen, umfasst 560 Seiten und kostet 22,99 €.
Frank Raudszus
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