Im Schauspiel des Staatstheaters Darmstadt kommt Gustave Flauberts Roman „Madame Bovary“ auf die Bühne.
Die Diskussion über die Theatralisierung von Romanstoffen beherrscht seit einiger Zeit wieder einmal das Feuilleton. Dabei scheiden sich die Geister, und die Gegner fragen, warum man denn unbedingt epische Stoffe für die Bühne verbiegen müsse, wenn es genug junge Theaterautoren mit aktuellen Stücken gebe. Ob die Neigung zu Romanbearbeitungen finanzielle Gründe hat – Lizenzgebühren – oder durch mögliche Einschränkungen der Inszenierung seitens der Theaterautoren motiviert ist, lässt sich im Einzelnen nicht beurteilen, aber die Frage nach dem Sinn von Romanbearbeitungen stellt sich jedesmal von neuem.
Das epische Theater von Brecht hatte bereits seit den späten Neunzigern den Reiz des Neuen verloren, und die Regisseure setzten wieder auf lebendige Darstellungen individueller Schicksale oder seelischer Befindlichkeiten. Ähnliches gilt für den Einsatz von Videoclips bei Theaterstücken. Kurz nach der Jahrhundertwende groß in Mode – so etwa in Frank Casdorfs Inszenierung von Bulgakovs „Der Meister und Margarita“ (auch ein Roman! ) -, war diese Komponente wegen Überbeanspruchung außer Mode und fast schon in Verruf geraten.
Regisseur Moritz Schönecker, der auch zusammen mit Katharina Raffalt die Bühnenfassung erarbeitet hat, führt bei seiner Inszenierung alle diese Elemente wieder ein. So verzichten die beiden auf „authentische“ Dialoge und lassen den Autor – Flaubert – selbst zu Wort kommen. Den Romantext lässt Schönecker jedoch nicht von einem externen Erzähler sprechen, sondern im Wechsel von den Darstellern, wobei nach Möglichkeit die jeweils im Text im Vordergrund stehenden Figuren erzählen und dabei die jeweilige Szene nachstellen. Nur in besonders expressiven Phasen – unter anderen Emmas Tod am Ende – gehen die Darsteller je nach Situation zu einem Dialog oder Monolog über. Durch diese Erzählperspektive erreicht Schönecker eine gewisse Distanzierung von den Handlungen und Personen, die es den Zuschauern ermöglichen soll, frei nach Brecht die Situation rational zu beobachten und zu bewerten anstatt sich emotional zu identifizieren.
Das Bühnenbild von Benjamin Schönecker besteht aus einem stufenförmig angeordneten Berg aus Stroh, der offensichtlich das ländliche Ambiente von Emma Bovarys Wohnort symbolisieren soll. Darum herum erheben grobe Rahmen als Andeutung der kleinstädtischen Bebauung. Je eine Sitzecke mit Sekretär im Biedermeierstil am linken und rechten Bühnenrand vervollständigen das Ambiente. Drei große, von der Decke hängende Bildschirme beherrschen den Luftraum über der Bühne. Auf ihnen laufen die Video-Clips ab, die Schönecker exzessiv einsetzt, ja, man kann sagen, dass sie die Inszenierung weitgehend bestimmen. Schönecker lässt die meisten Szenen sowohl auf der Bühne spielen als auch „live“ aufnehmen und abspielen. Sind am Anfang nur Lebendbilder der beiden Hauptpersonen zu sehen, die sich zu diesem Zeitpunkt noch auf der Hinterbühne befinden, geben später die Videos das Geschehen auf der Bühne noch einmal in Großaufnahme wieder. Neben einer natürlich vorhandenen dramaturgischen Absicht haben diese Videos zwei wesentliche Vorteile: man versteht die Darsteller auch dann, wenn sie sich vom Zuschauerraum abwenden – was sie dann auch je nach Szenerie nutzen -, und man kann die Mimik der Darsteller wesentlich besser verfolgen, was diesen wiederum erlaubt, darstellerische Mittel des Films wie subtile Ausdrucksvarianten einzusetzen. Der dramaturgische Nachteil der forcierten Video-Nutzung sei dabei nicht verschwiegen: das klassische Theater, das heißt die Umsetzung einer Handlung allein durch die handelnden Darsteller, gerät ins Hintertreffen, und es entsteht eine Mischung aus Kino und Theater, die vor allem letzterem nicht immer gut bekommt. Doch vor allem mit den offen gehandhabten Aufnahme der Szenen durch Videotechniker, die sozusagen durch die jeweilige Szenerie laufen, verstärkt Schönecker die Wirkung der Distanzierung. Es entsteht der Eindruck, als wolle der Regisseur die Zuschauer permanent darauf hinweisen, dass es sich hier eigentlich nur um Dreharbeiten für einen Film handle, den man auf keinen Fall mit der Realität verwechseln solle. Bitte keine übermäßige Identifikation oder gar Solidarisierung mit den Protagonisten.
Das epische Theater im Stile Brechts hatte die Aufgabe, die Zuschauer auf gesellschaftliche Missstände hinzuweisen und sie letztlich zur verändernden Aktion zu motivieren. Daher kamen bei ihm auch fast nur (quasi-)aktuelle gesellschaftliche Probleme und Verwerfungen auf die Bühne. Das ist jedoch bei Flauberts „Madame Bovary“ nicht oder nur eingeschränkt der Fall. Emma geht aus der Klosterschule direkt in die Ehe mit einem zwar anständigen aber – aus ihrer Jungmädchensicht – langweiligen Mann. Ihre Träume von Glück, Glamour und Geliebtwerden zerrinnen in der Gosse der schäbigen Realität einer französischen Kleinstadt der Mitte des 19. Jahrhunderts, wo es weder Radio noch Fernsehen, Kinos, Theater, Oper oder gar Internet gibt. Man kann ihre tiefe Frustration über dieses Leben, das eigentlich schon vergangen ist, nachvollziehen, ohne deshalb ihrem Mann Charles die Schuld zu geben. Auch Schönecker verfällt nicht der Versuchung, ihn als männlichen Chauvinisten mit Besitzanspruch und Gefühllosigkeit und damit als die Ursache aller gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten zu denunzieren. Auch in dieser Inszenierung liebt Charles seine Frau, er versteht sie und ihre verständlichen Träume von einem aufregenden und sinnlichen Leben nur nicht. Wenn Flaubert überhaupt Kritik übt in diesem Stück, dann an der rigiden Moral der Gesellschaft, die den Frauen keine Freiheiten einräumt, und an menschlichen Schwächen wie der Treulosigkeit Rodolphes und Léons oder der Selbstgerechtigkeit des Apothekers Homais. In eingeschänktem Maß auch am Charles Bovarys bürgerlichen Selbstzufriedenheit und ehelichen Ignoranz. Wenn Flaubert am Schluss Charles Bovary das Schicksal als einzigen Schuldigen anklagen lässt, so ist das nicht nur bittere Ironie sondern auch ein wenig Erkenntnis der „condition humana“. Es lässt sich nicht alles Unglück in die Kategorien von Schuld und Unschuld, Gut und Böse einordnen, es gibt auch die unglückliche Verkettung von Umständen und menschlichen Charakteren.
Diese Ambivalenz ist auch der Schwachpunkt der Inszenierung, denn man stellt sich am Ende die Frage nach der Aussage. Die Stärke, keine Schwarzweiß-Malerei zu betreiben und keine Schuldigen zu präsentieren, ist gleichzeitig ihre Schwäche, weil nun eine schlüssige Aussage fehlt. Schönecker arbeitet auch nie auf eine solche hin, sondern bebildert lediglich die tragische Geschichte der Emma Bovary. Das tut er zwar über weite Strecken effektvoll und auch in einem bewusst weiten epischen Rahmen, aber eben nicht mehr. Flaubert brachte mit seinem Roman zum ersten Mal bürgerliche Probleme von Ehe und Familie und vor allem den Ehebruch auf die Bühne. Bei ihm ist – damals ein Skandal – die Ehebrecherin keine „gefallene Frau“ sondern ein Opfer der herrschenden Moral. Er konnte mit diesem Roman noch provozieren, da es damals für eine verheiratete bürgerliche Frau keinen „ehrenvollen“ oder gar finanziell abgesicherten Ausgang aus der Ehe gab. Auch die dauerhafte außereheliche Liaison war keine Lösung, weil sie nur im Geheimen möglich war. In diesem Sinne gleicht „Madame Bovary“ Fontanes „Effi Briest“. Diese Situation findet man jedoch heute nicht mehr vor, in einer Zeit, da sich ein Drittel aller Ehepaare nach unterschiedlich langer Ehe wieder scheiden lassen und anderweitig wiederverheiraten. Außereheliche Affären sind selbst bei Politikern längst kein Grund mehr für persönliche Konsequenzen, und auch die Frauen – vor allem die prominenten – gewinnen durch Eskapaden oftmals nur an Bedeutung statt zu verlieren.
Diese Kritik Flauberts lässt sich daher in einer Bühnenversion schwer als Aktualität verkaufen. Folgerichtig verzichtet Schönecker auf jegliche plakative Aktualisierung, wenn man die Kostüme – heutige bzw. zeitlose Straßenkleidung – nicht als solche betrachtet. Zwar trägt Emma des Öfteren lange Kleider im Stil des 19. Jahrhunderts, aber Charles und die anderen Männer tragen zeitlose Anzüge, wobei bei Rodolphe der Zylinder das Dandytum symbolisieren soll. Es bleibt also eine tragische Geschichte des 19. Jahrhunderts mit individualpsychologischen Zügen, die hier bild- und tonreich auf die Bühne kommt und eine andere Zeit wiederauferstehen lässt.
Die darstellerischen Leistungen lassen sich zumindest in den Hauptrollen sehen. Jeanne Devos spielt die Emma in all ihren Facetten glaubwürdig und überzeugt sowohl als eine durch die Konventionen eingeschränkte wie auch als durch die Leidenschaft enthemmte Frau und schließlich als verzweifelte Selbstmörderin. Christian Klischat kann als besonnener und etwas behäbiger Charles Bovary natürlich nicht alle Register ziehen, füllt diese Rolle aber ebenfalls überzeugend aus. Heiko Raulin dagegen hat als skrupelloser Liebhaber alle Möglichkeiten der Darstellung und nutzt sie auch. Mal wortreicher Verführer, dann wieder reuiger, um Verzeihung bittender Liebhaber (der Reue als Masche einsetzt) und schließlich brutaler Macho, der die lästige Ex trotz ihrer existenziellen Notlage zur Seite wischt. Mathias Znidarec spielt den Apotheker Homais als geschwätzigen, neugierigen und latent missgünstigen Opportunisten, wobei er es schafft, die ambivalente weil vordergründig sympathische Seite dieser Figur zu verdeutlichen. Catriona Guggenbühl verleiht gleich mehreren Figuren (u.a. Mutter Rollet, der Blinde) eigenständige Charaktere, und Julius Bornmann spielt den Tuchhändler Lheureux mit hintergründiger Tücke, während Simon Harlan in der Rolle des Léon einige Schwächen im Text (Versprecher) und auch eine zeitweise hölzerne Spielweise zeigt. In weiteren Rollen spielen Stefan Schuster, Katharina Hintzen (Felicité), Samuel Koch und Gerd K. Wölfle.
Frank Raudszus
Alle Fotos © Joachim Dette
No comments yet.