Der Rest ist Schweigen

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Die Kammerspielen des Staatstheaters Darmstadt bringen in „Das Mädchen aus der Streichholzfabrik“ die Sprachlosigkeit auf die Bühne.

Fast jeder kennt Hans Christian Andersens Märchen vom „Kleinen Mädchen mit den Schwefelhölzchen“, in dem ein kleines Mädchen im dünnen Hemd in einer eiskalten Nacht erfolglos Streichhölzer zu verkaufen versucht und bei dem Versuch, sich mit den Streichhölzern etwas Wärme zu verschaffen, eine letzte schöne Illusion vor dem Erfrieren erlebt. Der finnische Filmemacher Aki Kaurismäki hat dieses Märchen in dem Film „Das Mädchen aus der Streichholzfabrik“ in eine aktuelle soziale Situation umgewandelt. Das Mädchen ist nun zur jungen Frau geworden, das sich und seine Eltern mit der stumpfsinnigen Arbeit in einer Streichholzfabrik ernährt. Die Eltern kommunizieren weder miteinander noch mit ihr, und als sie ihre Sehnsucht nach etwas Glanz und Liebe durch den Kauf eines schönen Kleides stillt, erlebt sie nur Vorhaltungen und Beschimpfungen. Die Liebschaft mit einem jungen Mann endet mit einer Schwangerschaft, die der junge Mann mit der Aufforderung zur Abtreibung beantwortet. Als ihre Eltern sie wegen der Schande rauswerfen und der werdende Vater sie buchstäblich verstößt, rächt sie sich im Film, indem sie alle mit Rattengift umbringt. Soweit die Handlung der Vorlage. Eine Besonderheit von Kaurismäkis Film ist die Wortkargheit. Angeblich – der Rezensent hat den Film nicht gesehen – fallen die ersten Worte nach einer Viertelstunde, und auch danach wird nur das Nötigste geredet.

Katharina Hintzen und Gerd K. Wölfle © Sandra Then

Katharina Hintzen und Gerd K. Wölfle © Sandra Then

Die Theaterversion nimmt den Stoff nur als „Rohstoff“ und bereitet ihn neu auf. Das betrifft nicht nur die Unterschiede zwischen Film und Bühne, sondern auch die Handlung, die Dramaturg Martin Hammer und Regisseurin Julia Hölscher wesentlich offener anlegen. Ohne das Handlungsgerüst explizit zu verändern, lassen sie doch am Ende verschiedene Interpretationen zu. Die Sprachlosigkeit ist jedoch auch in der Bühnenversion ein Schwerpunkt. Zu Beginn stehen und sitzen die drei Hauptpersonen- das Mädchen Iris (Katharina Hintzen), die Mutter (Gabriele Drechsel) und der Vater (Gerd K. Wölfle) in deutlicher Distanz und voneinander abgewandt auf der Bühne. Über den Raum verteilt stehen Heizkörper,  die man als Symbol der Sehnsucht nach ein wenig sozialer Wärme verstehen kann. Doch schon hier beginnen die Spekulationen, da Heizkörper für die Wärme stehen, die in dieser Konstellation ja gerade fehlt. An den Heizkörpern der Bühnenrückwand läuft von Zeit zu Zeit ein Gemisch aus Licht und Geräuschen ab, das die Abläufe einer Fabrik darstellen soll, die Iris während ihrer Arbeit überwacht.

Gabriele Drechsel, Gerd K. Wölfle © Sandra Then

Gabriele Drechsel, Gerd K. Wölfle © Sandra Then

Genau eine Viertelstunde lang fällt kein Wort, und während dieser Zeit spielen die drei Darsteller das Drama einer beziehungs- und sprachlosen Familie: der Vater sitzt mit dumpfem Blick auf einem Stuhl und knabbert an irgendwelchen Nüssen, die Mutter – im Morgenrock – hält mit verhärmtem Blick und heruntergezogenen Mundwinkeln eine nicht angezündete Zigarette in der Hand, und Iris wickelt ihren eintönigen Turnus zwischen Arbeit und dem Verschlingen von Liebesromanen ab. Für das Publikum ist es völlig ungewohnt, einer solchen sprach- und ereignislosen Performance zuzuschauen, doch es entsteht keine Unruhe, da die Zuschauer schnell merken, worum es hier geht, und geduldig auf die weitere Entwicklung warten. Auch die verläuft unter minimalem Wortaufwand. Die ersten Worte heißen „Schlampe“ (Vater) und „Was das gekostet hat“ (Mutter), als Iris sich glücklich in ihrem neuen roten Kleid zeigt. Weitere Worte fallen vorerst in der Familie nicht. Ein kurzer Besuch bei ihrem Bruder (Josia Krug), der wegen des Vaters längst ausgezogen ist, bringt Iris auch keine Entlastung, da er sich weigert zurückzukehren. Auch zwischen Iris und dem jungen Mann Arne (Julius Bornmann) fallen wenig Worte, doch zwei Einsame finden sich hier zu einem kurzen, verzweifelten Glück. Danach legt Arne – ernüchtert – Geld neben das virtuelle Bett (ein Heizkörper) und verschwindet.

Verbal intensiv ist eigentlich nur die Szene, in der Iris sich nach dem Rauswurf zu Hause in ihrer Verzweiflung an Arne wendet, um vielleicht dochnoch  so etwas wie eine Beziehung und ein Zuhause für das werdende Kind aufzubauen. Doch Arne stößt sie mit dem immer lauter wiederholten Feststellung zurück, das er nicht an ihr interessiert sei, bis er sie zum Schluss mit roten Kopf buchstäblich hinausschreit. Warum plötzlich dieser verbale Aufwand in dem sonst sprachlosen und auf Körpersprache fixierten Stück? Die Regisseurin will hier offensichtlich die unerträgliche, geradezu peitschenartige Wirkung der rüden Abweisung auf das verzweifelte und sich nach einer Beziehung sehnenden Mädchen ausdrücken. Man kann sich vorstellen, dass auch eine sachlich geäußerte Zurückweisung auf sie wie unerträgliche Schreie wirkt.

Katharina Hintzen und Julius Bornmann  © Sandra Then

Katharina Hintzen und Julius Bornmann
© Sandra Then

Von allen verlassen, tritt Iris schließlich vor das Publikum wie an den Tresen eines Ladens für Schädlingsbekämpfung und wirft messerscharf das Wort „Rattengift“ in den Raum. Anschließend wälzen sich Arne und ihre Eltern in konvulsivischen Zuckungen am Boden, um kurz danach aufzustehen und weiterzumachen, als  sei nichts geschehen. Dann erneute Zuckungen, als ob Iris diese Erscheinungen nach Belieben an- und ausschalten könnte. Das erlaubt die Interpretation, Iris stelle sich den Mord nur als Rachephantasie vor. Andererseits lässt sich dies auch als ästhetische Verdichtung einer konkreten Vergiftung verstehen. Der Zuschauer ist geradezu aufgefordert, sich selbst eine Interpretation zurechtzulegen. Die Ambivalenz als Anregung zum Nachdenken.

Ein anderes Element regt die Interpretationslust in ähnlicher Weise an: das Ehepaar tanzt von Zeit zu Zeit einen Tango nach spröder, aufs Rhythmische reduzierter Musik. Doch die beiden tanzen ohne eine einzige mimische Regung, offensichtlich ohne jegliche Lust am Tanzen. Bewusst sind diese Tanzeinlagen als Ritual angelegt, ohne dass der dramaturgische oder gar psychologische Sinn sich unmittelbar erschließt. Etwas Rätselhaftes umgibt dieses Tanzen: man kann es als formalisiertes Zusammenleben des Ehepaares aber auch als das Abbild eines in strenge, eckige Formen gepressten Lebens verstehen. Der Interpretationslust sind keine Grenzen gesetzt.

Diese Inszenierung ist eine wahre Fundgrube für Schauspieler, da sie hier ihr Können beweisen können. Schlechte Schauspieler überdecken ihre Defizite durch viele Worte, doch hier zählt nur die Mimik und die Körpersprache. Gabriele Drechsel und Gerd K. Wölfle haben hier weniger Spielräume, weil sie immerwährende Abgestumpftheit und Verhärtung darstellen müssen: dumpfer Blick und hängende Mundwinkel. Situationsgebundene Varianten sind selten. Auch Julius Bornmann ist auf die Rolle des genervten Liebhabers eines „One-Night-Stand“ reduziert. Katharina Hintzen dagegen spielt die junge Iris, die zwischen der Langeweile und Perspektivlosigkeit einer öden Arbeit, den Sehnsüchten aus den Liebesromanen, der Hoffnung auf ein kleines Familienglück mit Arne und der Verzweiflung ob der Gefühllosigkeit ihrer Umwelt hin und her gerissen ist. Das alles spiegelt sich überzeugend in ihrer Mimik und den knappen Gesten, denn in dieser kalten Welt sind auch extrovertierte körperliche Reaktionen verpönt. Die innere Befindlichkeit drückt sich letztlich nur in Augen, Mund und Nasenflügeln sowie dem Zusammenziehen und Verkrümmen des Oberkörpers aus. Katharina Hintzen gelingt dies auf eine Weise, die das Publikum in ihren Bann zieht.

 

Frank Raudszus

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