Die neue Schauspieltruppe des Staatstheaters Darmstadt bringt William Shakespeares „Der Kaufmann von Venedig“.
Zwölf Jahre ist es her, dass Shakespeares „Kaufmann von Venedig“ in Darmstadt zu sehen war. Nun hat es die Schauspieltruppe des neuen Intendanten als eines der ersten Stücke auf die Bühne gebracht. Schon die erste Szene dieser Inszenierung zeigt, wohin die Reise geht. Eine Truppe fahrenden Volkes in Kostümen der elisabethanischen Ära stolpert die Seitengänge des Zuschauerraumes hinab und entfaltet unten ein Plakat „Othello – der Mohr von Venedig“. Erst auf Vorhaltungen eines der Schauspieler wird das Plakat umgedreht und zeigt nun „Der Kaufmann von Venedig“. Diese kleine Szene ist nicht nur ein Eröffnungsgag, sondern soll offensichtlich auf einen laienhaften Charakter der Schauspieltruppe hinweisen. Regisseur Christian Weise gibt damit die Marschroute vor, Shakespeare nicht als hehren Klassiker sondern als deftigen Volksautor zu präsentieren, dessen Stücke mit Vorliebe von fahrenden Theatergruppen vor einfachem Publikum gespielt werden. Das kann man so sehen, obwohl es nicht unbedingt neu ist. Den handfesten Charakter seiner Stücke haben eine Reihe von Inszenierungen der letzten Jahre fast schon plakativ ausgespielt, etwa „Romeo und Julia“ der Berliner Schaubühne oder „Othello“ des Staatstheaters Wiesbaden.
Die Darmstädter Inszenierung stützt sich auf eine moderne Übersetzung von Frank Günther. Zwar behält Günther in vielen Fällen den Duktus der Shakespeareschen Versen bei – bzw. der älteren deutschen Übersetzungen -, bringt zusätzlich jedoch einen erheblichen Teil heutiger Redewendungen und sogar Slang ein. Die bodenständige Sprache – um nicht zu sagen der Umgangston verschiedener Ethnien – schlägt sich in Günthers Übersetzung deutlich nieder.
Regisseur Weise nimmt diese Steilvorlage auf und lässt seine Schauspieler bewusst entsprechende sprachliche Freiheiten. Die logische Konsequenz lautet, dass man Straßenslang schlecht als gestochen scharf akzentuierten Text vortragen kann. Nuschelei und schnell beiseite gesprochene Passagen sind dann inhärente Bestandteile einer solchen Inszenierung. Das hat zwar den Vorteil einer gewissen Authentizität für das heutige Publikum, weist jedoch gleichzeitig den Nachteil einer reduzierten Verständlichkeit auf. Zumindest im ersten Teil überwiegt dabei der Nachteil die Vorteile.
Ein anderer Eingriff betrifft die Besetzung. Straßentheater hatten früher kleine Besetzungen und konnten nicht alle Frauenrollen mit Frauen besetzen – wenn überhaupt, denn für Frauen war das Theaterspielen unschicklich. Also spielten viele Schauspieler notgedrungen Frauenrollen. Weise dreht diese Argumentationslage um und besetzt – man kann durchaus sagen „extensiv“ – Männerrollen mit Frauen. Das passt natürlich nicht auf die Situation des elisabethanischen Theaters, könnte aber auf die heutige freie Szene gemünzt sein. Eine nachvollziehbare Logik bei dieser Besetzung lässt sich aus der Inszenierung jedoch nicht ableiten.So spielt Catherine Stoyan sowohl den – älteren – Shylock als auch den jungen Lorenzo, Tina Keserovic den Antonio. Dafür muss Yves Wüthrich die Nerissa spielen, wobei er seinen Vollbart offensichtlich bewusst nicht abgenommen hat. Dieses „Gender-Würfeln“ bei der Besetzung hat auch zur Folge, dass tendenziell die weiblichen Stimmen auf der Bühne überwiegen, was sich angesichts der bekannten akustischen Probleme des Kleinen Hauses auch mindernd auf die stimmliche Präsenz auswirkt.
Die wiederum hat Miguel Abrantes Ostrowsky zu genüge, doch sie wird leider nur dazu genutzt, um ihn in seiner Rolle des Gratiano zum nervigen Clown und „Dummschwätzer“ zu degradieren. Sein Eulenspiegel-Kostüm unterstreicht diesen Charakter noch, und die Witze, die er am laufenden Band reißt, sind nicht nur fragwürdige Kalauer, sondern auch jenseits jeden Geschmacks. Es mag sein, das Regisseur Weise diese Figur als die Stimme des Plebs bewusst auf den schmalen Grat zwischen gerade noch erträglichen Zoten und unsäglichen Witzen geschickt hat, doch er überschreitet dabei – bewusst? – eine Grenze, die seine Witze schnell als Bumerang auf die Inszenierung und die Beteiligten zurückschlagen lassen kann.
Die Bewerbung Bassianos (Christoph Bornmüller) um Portia wird bei Shakespeare ziemlich ausgewalzt, hat er doch zwei Mitbewerber, die jedoch wegen ihrer Dummheit und Arroganz keine Chance haben. Shakespeare mag diese umfangreiche Szene eingeflochten haben, um in den beiden Konkurrenten gewisse Typen seiner Zeit oder sogar konkrete Zeitgenossen zu karikieren. Heute wird diese Szene meist gekürzt, da sie zum Verständnis der „Kernhandlung“ nichts beiträgt. Christian Weise jedoch spielt alle drei Szenen voll aus und dehnt damit nicht nur die Aufführungsdauer auf, sondern nimmt auch die unvermeidbaren Längen in Kauf. Zwei dieser drei Szenen hätte man gut streichen können.
Gut gelingt jedoch die Verteidigung Shylocks – „wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht?“ – und die juristischen Winkelzüge der als Advokat verkleideten Portia. Shylocks Klage wird scheinbar beiläufig, jedoch mit viel Gewicht an einer zentralen Stelle des Stücks vorgebracht, und Catherine Stoyan bringt den Kern und die Irrationalität des Antisemitismus damit auf eindringliche Weise zum Ausdruck. Andererseits zeigt Portia (Nadja Stübiger) in ihrer Rede vor dem Dogen in geradezu schamlos offener Weise, wie man damals – und später! – mit den Juden und ihren Rechten umsprang. Vor allem die allseitige (Selbst-)Zufriedenheit, dem Juden „mal so richtig eins ausgewischt zu haben“, sowie das fehlende Unrechtsbewusstsein treten auf eine geradezu betroffen machende Weise ans Tageslicht.
Als weiteren Regieeinfall hat Weise noch eine Zweimann-Band eingesetzt, die am Bühnenrand die zur Handlung passende Musik spielt, so etwa Klezma-Musik bei Szenen mit Shylock, rhythmisch aufgepeppte Trivialschlager bei den Liebesszenen oder Jazz-Rock bei anderen passenden Gelegenheiten.
Man verlässt diese Inszenierung mit gemischten Gefühlen. Einiges kann man nachvollziehen und sieht auch den roten Faden. Bei anderen Aspekten wiederum drängt sich der Verdacht auf, hier werde ein Stück als Selbstzweck „gegen den Strich gebürstet“. Doch die Zeiten, in denen junge Regisseure mit provokantem Regietheater die eingefahren – und angeblich verkrusteten – Strukturen aufzubrechen versuchten, sind längst vorbei. Heute muss man mehr bieten als „crossover“-Besetzungen und angeblich provozierende, in Wirklichkeit geschmacklose Witze.
Die Idee des Straßentheaters als Alternative zum immer noch gepflegten bürgerlichen Bildungstheater ist durchaus den Versuch wert, und insofern hat diese Inszenierung ihr Ziel erreicht. Sollte es sich jedoch zu einer neuen Ideologie des „richtigen“ Theaters entwickeln, dann muss dieser Versuch im Scheitern enden.
Frank Raudszus
Alle Fotos © Sandra Then
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