Ein kritische Auseinandersetzung mit der Optionsvielfalt des heutigen Menschen.
Einleitungen von Fachbüchern haben sich zu einem eigenen Genre entwickelt. Offensichtlich haben die Verlage gemerkt – oder befürchten-, dass viele Leser ein Buch nur diagonal lesen, um sich einen schnellen Überblick zu verschaffen. Um diesem Phänomen gerecht zu werden und grundlegende Missverständnis wegen unvollständiger Lektüre zu vermeiden, liefern die Autoren mit der Einleitung eine „Vorverdichtung“ ihrer Aussagen, die sie dann im folgenden Text detailliert vortragen. Das mag man als pragmatisch oder gar sinnvoll betrachten, für einen gründlichen Leser führt das jedoch zu einer zeitweise ermüdenden Redundanz.
Auch die Soziologin und Philosophin Renata Salecl bedient sich dieses Verfahrens und zitiert in ihrer 16seitigen Einleitung ausführlich Philosophen des 20. Jahrhunderts wie Jacques Lacan und Louis Althusser als „Belege“ ihrer Sicht. Fast könnte man meinen, wie sei sich ihrer Sache nicht ganz sicher und suche Schützenhilfe bei großen Namen.
Im ersten Kapitel stellt sie fest, dass die meisten Menschen von der Freiheit der Wahl zwischen fast unbegrenzt vielen Möglichkeiten des Konsums, des Lebensstils und der Partnerwahl überfordert sind und darunter leiden. Dafür macht sie den (Spät-)Kapitalismus verantwortlich, allerdings nicht in einer expliziten Behauptung, die sie anschließend beweist, sondern sozusagen in einem Nebensatz, der diese „Schuld“ als allgemein bekannten und unbestrittenen Tatbestand darstellt. Abgesehen, dass der reine Term „Kapitalismus“ lediglich eine Form der Geldwirtschaft bezeichnet und sie eher den – als Kampfbegriff nicht so gut verwendbaren – Begriff der „freien Marktwirtschaft“ meint, stellen sich hier bereits einige kritische Fragen wie von selbst. Der Agent des „“Kapitalismus“ (wie wollen hier die Terminoliogie der Autorin verwenden) ist kein Freund der freien Wahl zwischen vielen Angeboten sondern wünscht sich eher ein Monopol – für sich. Nur als Neuling im Markt tritt er für Vielfalt ein. Aus dieser Sicht wäre eine inhaltliche Diskussion über die Verantwortung des“Kapitalismus“ für die Angebotsvielfalt zumindest angeraten. Renata Salecl begibt sich hier jedoch lieber auf die populistische Schiene und schreckt auch von unterschwelligen Verschwörungstheorien nicht zurück. Offensichtlich trifft auch hier die Feststellung zu, dass Geisteswissenschaftler – hier Soziologen und Philosophen – ihr mangelndes Fachwissen in Wirtschafts- und Naturwissenschaften durch forcierte Gesinnungsethik wettzumachen versuchen. Die von der Autorin als grundsätzlich negativ empfundene Wahlfreiheit des Einzelnen wirft natürlich die Frage nach der Alternative auf, die Renata Salecl aber bewusst umgeht. Sie hieße bei der überfoderten „Masse“ nicht Einsicht und bewusster Verzicht sondern die Verordnung und die Einschränkung der Wahlfreiheit durch eine kompetente Instanz, die im Zweifelsfall eine politische Organisation mit Durchsetzungsmacht ist.
Auch die „Selbstoptimierung“ des Menschen durch Training (Sport), Askese oder gar Körpergestaltung sieht die Autorin als grundsätzlich fragwürdig. Das mag für die Extreme der „Eigengestaltung“ – plastische Chirurgie – durchaus zutreffen, doch die Selbstverbesserung des Menschen basiert auf einem tiefsitzenden Impuls, der den Menschen erst konstituiert und den schon Peter Sloterdijk in „Du musst dein Leben ändern“ tiefschürfend untersucht hat.
Im nächsten Kapitel geht die Autorin auf die heute übliche Identitätswahl bis hin zur plastischen Chirurgie ein und legt hier eine treffende Analyse ohne politische Kurzschlüsse vor. Bei der „Schuld am persönlichen Misserfolg“ sieht sie einen wachsenden Trend zur Selbstbeschuldigung bis hin zur grundsätzlichen Minderwertigkeit. Deutlich und nachvollziehbar stellt sie auch die Flucht der so „selbstgedemütigten“ Menschen in die Esoterik und zu alternativen Heilmethoden dar, die das eigene Defizit beheben sollen. Dann jedoch schwächt sie diese Kritik wier ab, indem sie diese fragwürdigen Alternativen im Sinne einer „Autosuggestion“ als durchaus hilfreich sieht. Ihre Aussage gerade zu diesem brisanten Thema bleibt im besten Fall ambivalent – sowohl als auch. In diesem Fall verweist sie auch auf eine kanadische Studio, der zufolge Ärzte ihre Patienten bewusst länger warten ließen, um ihren eigenen Wert zu erhöhen. Angeblich verschlechterte sich der Zustand der Patienten aufgrund des subjektiven Gefühls, nicht ausreichend wertgeschätzt zu werden. Nach einer entsprechenden Änderung durch die Regierung verbesserte sich die gesundheitliche Situation der Patienten angeblich nur aufgrund neuer Zuversicht. Da diese Studie doch einige brisante Informationen enthält, verwundert es, dass in den zahlreichen Anmerkungen keinerlei Verweise auf diese Studie zu finden sind.
Intensiv kommt Salecl auf Jacques Lacan und seinen „großen Anderen“ zu sprechen, die höhere Instanz, von der die Menschen die Lösung ihrer Probleme erwarten. Dieser „große Andere“ war früher einmal Gott, dann – vielleicht – die „Partei“; für die heutigen Menschen ist es laut Renata Salecl der „Markt“, das heißt: der Konsum der auf dem Markt angebotenen Güter und Dienstleistungen löst meine Identitätsprobleme. Doch die Autorin erkennt, dass dieser „große Andere“ – der Markt – als Problemlöser nicht exisitiert, sondern eher das Problem selbst darstellt, da die Menschen letztlich mit dieser Delegation in Unentschlossenheit erstarren. Die Wahl ist dem Menschen aufgegeben, er kann sie nicht delegieren, auch wenn sie ihn vor erhebliche Probleme stellt.
In diesem Zusammenhang liefert die Autorin noch einen Exkurs in die Psychoanalyse zu dem Lacan-Schüler Pierre Legendre und landet bei der „Jouissance“, einer ursprünglichen Genussfähigkeit des Menschen, die nicht von außen geweckt und befriedigt wird, sondern dem Menschen eingeboren und durch die Zivilisation (und den Kapitalismus) verloren gegangen ist. Legendre zufolge sehnt sich der Mensch unbewusst nach diesem im frühkindlichen Zustand („Mutterbrust“) noch vorhandenen Genuss und will ihn sich vom Markt wieder verschaffen.
Auch die Freiheit bei der Partnerwahl – zum Beispiel über das Internet – sieht Renata Salecl mehr als Problem denn als Vorteil. Gerade diese Freiheit fördere das unverbindliche „hooking up“ zwischen den Geschlechtern und mache die Partnerwahl zu einer rein narzsisstischen Veranstaltung, bei der es nur darum gehe, den eigenen „Marktwert“ durch die Qualität des potentiellen Partners zu erhöhen. In diesem Zusammenhang stellen die meisten übesteigerte Forderungen an einen potentiellen Partner und bleiben in vielen Fällen am Ende allein. Auf jeden Fall wecke jede Wahl, die die eigene Identität und Rolle in der Welt betrifft, die Angst der „road not taken“, das heißt, der nicht gewählte Weg könnte der bessere gewesen sein, was wiederum zur Erstarrung in Unentschlossenheit führe.
Ein weiteres Gebiet der „freien Wahl“ ist die Frage nach dem Nachwuchs, die spätestens nach der Einführung der Antibabypille im Sinne einer freien Wahl beantwortet werden kann. Renata Selacl kommt von der noch einfachen Frage, wann der richtige Zeitpunkt für die freie Entscheidung gekommen sein, zu der künstlichen Befruchtung, der Samenspende und der Leihmutterschaft zu sprechen. Alle diese Varianten lassen sich scheinbar frei wählen, dabei werden jedoch meist die – irrationalen – Folgen nicht bedacht. Denn Kinder fragen irgendwann nach ihren Vätern (oder auch Müttern), Leihmütter können emotionale Bindungen an Kinder entwickeln und selbst Samenspender sind nicht gegen die Folgen einer anonymen Vaterschaft gefeit. Die Frage nach der freien Entscheidung für Nachwuchs ist also nicht nur eine zwischen den Partnern einer üblichen Ehe, sondern kann zu erheblichen Konsequenzen führen.
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