Das Staatstheater Darmstadt beginnt die Opernära unter dem neuen Intendanten mit Luigi Nono und Claudio Monteverdi.
Zum Auftakt der neuen Saison des Staatstheaters setzte Karsten Wiegand, der neue Intendant, am 25. September deutliche Zeichen mit Symbolcharakter. Die Tatsache, dass sowohl die Oper als auch das Schauspiel ihre erste Premiere am selben Tag gaben, erschien à priori wie ein kleiner – vielleicht von einer Terminnot diktierter -Schönheitsfehler, eries sich jedoch am Ende als geplanter Schachzug.
Doch eins nach dem anderen. Dem ersten Opernabend stellte das Theater eine Einführung voran, in der Operndirektor Berthold Schneider den Regisseur Jay Scheib und den Bühnenbildner Philip Bußmann nach ihrem Konzept für diesen Abend befragte. Der Amerikaner Scheib betonte in gutem Deutsch, er sei ein Fan Luigi Nono und von Claudio Monteverdi und betrachte diese Inszenierung als ein spannendes Abenteuer, während Bußmann auf die Herausforderung der Raumgestaltung hinwies. Zuviel wollten jedoch beide kurz vor dem Beginn des Abendprogramms nicht verraten.
Das Programm spiegelte fast symbolisch den Anspruch des neuen Intendanten wider: Man geht zu den Anfängen der Oper zurück, um sie daraus zu entwickeln. Gleichzeitig wird die moderne Musik eng in das Musikgeschehen des Theaters eingebunden, was sich an diesem Abend darin zeigte, dass der Inszenierung von Claudio Monteverdis Oper „Il ritorno d’Ulisse in patria“ Luigi Nonos Orchesterwerk „No hay caminos, hay que caminar“ vorangestellt wurde. Doch damit nicht genug: Intendant Wiegand und seine Operntruppe wollten an diesem Abend auch zeigen, dass sie das Publikum wesentlich enger in das Theater- und speziell das Opernleben einbeziehen wollten. Die gesamte Inszenierung spielte sich für Darsteller und Zuschauer auf der Bühne des Großen Hauses ab. Der Zuschauerraum beherbergte an diesem Abend lediglich eine Instrumentengruppe des Orchesters.
Luigi Nonos Komposition interpretiert die Zeile eines Gedichts aus Spanien, die besagt „Wanderer, es gibt keine Wege, also wandere!“. Das im Jahr 1987 für sieben Orchestergruppen geschriebene Werk kreist in Halbtönen um den Ton „G“ und versteht sich als Klangreise. Die einzelnen Orchestergruppen sind nicht nach Instrumen geordnet, sondern bestehen aus gemischten Ensembles, wobei sich durchaus überraschende klangliche Konstellationen ergeben. Diese Gruppen waren rund um die Bühne aufgestellt, eine im Zuschauerraum. Die Zuschauer konnten sich frei bewegen und sogar hinter die Musiker treten, um die Noten einzusehen. Ringsum erklangen jetzt nach einem über Monitore synchronisierten Plan unter dem Dirigat des jungen griechischen Dirigenten George Petrou Luigi Nonos fein gesponnenen Tongebilde. Hier ein feines Zirpen einer Violine, dort ein kurzer, klackender Kommentar eines kleinen Perkussionsinstrumentes, dann ein tiefes Grummeln der Posaunen oder lyrische Töne einer Flöte oder einer Klarinette. Alles sehr sparsam und deshalb umso effektvoller. Die deutlichen Pausen zwischen den einzelnen Einsätzen erhöhten die Spannung in Erwartung des nächsten Klangereignisses, das dann wieder lange im hohen Bühnenrund nachklang. Musikalische Figuren oder gar Motive gehören nicht zu diesem Konzept; der Wiedererkennungseffekt bzw. die spontane lustvolle Identifikation eines Themas sollen nicht ablenken von der Entdeckung des reinen Klangs.
Eine halbe Stunde lang folgte das Publikum konzentriert und diszipliniert den Klangkombinationen rund um die Bühne, doch dann setzte eine leichte Unruhe ein. Zuerst wanderte eine Frau mit einer griechischen Amphore durch die Reihen, und man konnte annehmen, dass sie diesem Gefäß Klänge entlocken wollte. Als dann jedoch ein veritabler „Amor“ mit Pfeil und Bogen und dann ein geflügelter, bärtiger Mann auf einem Skateboard auf die Bühne rollten, war klar, dass die Figuren der Oper langsam die Bühne zu beleben begannen. Einige von ihnen schwebten an Seilen über den Köpfen der Zuschauer und begannen von dort aus, den Prolog aus Monteverdis Oper zu der Musik des nun an einer Stelle versammelten Orchesters vorzutragen, in dem die „Gebrechlichkeit“ (Anja Bildstein als „“L´humana fragilitá“) die Diktatur der Zeit (Thomas Mehnert als „Tempo“), des unwägbaren Glücks(Jana Baumeister als „Fortuna“) und der blinden Liebe (Katja Stuber als „Amor“) beklagt. Anschließend beklagte Penelope (Mary-Ellen Nesi) – in dramatischer Pose auf einem langen Podest drapiert – den Verlust ihres Gatten und ihr jahrelanges Warten, und Telemach (Minseok Kim) stellte – in Abwandlung der Originalgeschichte – temperamentvoll und erfolgreich der Magd Melanto nach.
Mit diesem „Vorspiel“ sind sozusagen die Eckpfeiler des Klangraums und der Handlung gesetzt. Die eigentliche Oper findet nach einem Umbau in einem ähnlichen Szenario statt, nur, dass jetzt im Bühnenrückraum die Zuschauertribüne errichten worden ist. Spiegelbildlich zu den aufsteigenden Sitzreihen erhebt sich an der Bühnenvorderseite eine gelbe Treppe, die stark an das Szenenfoto aus Jean-Luc Godards Film „Die Verachtung“ aus dem Jahr 1963 erinnert, das wohl deswegen auch gezielt im Programmheft zu sehen ist. Die inhaltliche Assoziation ergibt sich aus dem Inhalt dieses Films, bei dem es um das Zerbrechen einer Ehe bei den Dreharbeiten für einen Film über „Odysseus“ geht.
Von Anfang an setzt Regisseur Jay Scheib in seiner Inszenierung auf eine humoristische Komponente, die mit dem den klagenden Grundtenor dieser Barockoper kontrastiert. Die Matrosen der Phäaken, die Odysseus gegen Neptuns alias Poseidons Weisung in Ithaka angeliefert haben, sehen aus wie Operetten-Matrosen und verdrehen beim Sterben zur wilden Sturmmusik des Orchesters wild die Augen und sinken mit blutverschmierten Köpfen dahin. Odysseus (David Pichlmaier) überlebt als einziger, und Neptun – im Outfit eines Stadtstreichers – zieht den Halbnackten und Ohnmächtigen aus dem Wasser, wobei dummerweise seine Zigaretten ungenießbar werden.
Mit diesem Beginn hat Hay Scheib die Grundtonart festgelegt und wird sie bis zum Schluss durchhalten. Athene erscheint in der Verkleidung eines jungen Dandys, der den orientierungslosen Odysseus erst über seinen Aufenthaltsort – Ithaka – informiert, sich dann zu erkennen gibt und Odysseus empfiehlt, sich für den „Showdown“ in Penelopes Palast zu verkleiden. Warum sich David Pichlmaier dann aber als Frau im Lackkleid und mit silberfarbener Perücke kostümieren muss, wird nicht ganz klar, zumal der Text im weiteren verlauf immer wieder auf den „alten Mann“ oder den „Bettler“ und sogar auf dessen Barthaare verweist. Pichlmaiers nicht zu übersehende Bartwuchs – nicht maskiert! – macht diese Camouflage doppelt fragwürdig. Nun soll man eine solche Oper natürlich nicht nach realistischen Maßstäben beurteilen, und gegen eine weibliche Verkleidung spricht prinzipiell nichts. Angesichts der erwähnten Unstimmigkeiten wirkt dieser Punkt jedoch eher als ein Regiegag, der im Laufe der Jahr bereits ein wenig überstrapaziert worden ist. Auch David Pichlmaier scheint sich in der Verkleidung, die sich zum Schluss noch zum großen Ballkleid steigert, nicht ganz wohlzufühlen.
Doch das sind Petitessen, die der Gesamtwirkung nicht schaden. Die Freier sind bei Jay Scheib eine Bande selbstgefälliger, arroganter Dandys, die sich alle Freiheiten gegenüber Penelope herausnehmen und sich gegenseitig nicht das Schwarze unter den Fingernägeln gönnen. Die ansprechenden schauspielerischen Leistungen von Oleksandr Prytolyuk (Anfinomo) Pisandro (Vasiliy Khoroshev), Thomas Mehnert (Antinoo) und Rudolf Schasching (Iro) würzen die doch etwas länglich geratene Freier-Szene am Hofe durch ihren humoristischen Einschlag, ohne dass das Ganze in Klamauk ausartet.
Jay Scheib hat sich noch ein anderen Besetzungsgag einfallen lassen. Er lässt Telemach (Minseok Kim) sich in die Magd Melantho (Jana Baumeister) verlieben, die am Ende auch Odysseus´Wut zum Opfer fällt. Während sich vorne Odysseus und Penelope nach dem letzten Erkennungszeichen in die Arme fallen, erhebt sich Telemach neben Melantos Leiche mit einem Messer in der Hand und deutet damit die Fortsetzung der Familientragödie an. Der glückliche Ausgang der Irrfahrten ist nur ein temporärer, dauerhaftes Glück ist eine Illusion – so lautet diese letzte Botschaft der Inszenierung.
Neben den alten „Kämpen“ des Opernensembles – David Pichlmaier, Oleksandr Prytolyuk und Thomas Mehnert -, zeigen auch die neuen Kräfte ansprechende Leistungen. Mary-Ellen Nesi glänzt durch viel körperliche und stimmliche Präsenz, bei Katja Stuber fallen Leichtigkeit und Temperament auf, und Jana Baumeister überzeugt vor allem in der ernsten Rolle der Melanto, aber auch in den Liebeszenen mit Minseok Kim während des Prologs. Vasiliy Koroshev ist ein schlitzohriger, beweglicher Pisandro, und Rudolf Schasching beherrscht mit seiner urwüchsigen Art als Iro streckenweise die gesamte Bühne.
Dirigent George Petrou erweist sich tatsächlich als Kenner der alten Musik, gelingt es ihm doch, die typische Grundstimmung der Barockmusik erzeugen, die vor allem in den Opern etwas von einer Klage an sich hat. Zusammen mit den Musikern des Orchesters und den Sängern und Sängerinnen gelang es ihm an diesem Abend, die Zuschauer in eine andere Zeit zu entführen. Die Nähe zur Bühne und die scheinbar improvisierte Umgebung eines Werkstatttheaters haben diesen Effekt sicher befördert, doch an erster Stelle das Engagement und das Können der Künstler auf der Bühne und im Orchester.
Kräftiger Beifall des aufgrund der Länge des Abends ein wenig erschöpften Publikums, durchsetzt mit Bravo-Rufen. Die anschließenden Premierenfeier gab dann auch Auskunft über den Grund für die Gleichzeitigkeit der Premieren. Intendant Karsten Wiegand dankte allen Mitarbeitern – Künstlern, Technikern und Verwaltung – für ihren Einsatz und ihre Leistung bei der Vorbereitung der neuen Saison und ehrte einige für ihre besonderen Beiträge. Mit diesem öffentlichen Akt förderte er das Zusammengehörigkeitsgefühl von Theater und Bevölkerung, und das Publikum honorierte diese großzügige Geste mit kräftigem Applaus.
Frank Raudszus
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