Überschäumende jugendliche Musikalität

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Im Kurhaus Wiesbaden spielen die Baltic Sea Youth Philharmonic und Jan Lisiecki Werke von Modest Mussorgski, Edvard Grieg und Richard Strauss.

Dieser Samstag im August war der Tag der Jugend im Programm des Rheingau Musik Festivals. Nicht nur war der Solist am Flügel, Jan Lisiecki, gerade einmal neunzehn Jahre alt, sondern dazu spielte ein Orchester, das aus Musikern zwischen achtzehn und dreißig Jahren besteht. Und die Leitung dieses frischen Ensembles lag nicht in den Händen eines sturmerprobten alten Kämpen, sondern bei dem immerhin auch erst 42jährigen Kristjan Järvi, dem Bruder des nicht nur in Hessen bekannten Dirigenten Paavo Järvi. Die Zeichen waren also gesetzt für einen temperamentvollen, jugendfrischen Abend.

Solist Jan Lisiecki und Dirigent Kristjan Järvi

Solist Jan Lisiecki und Dirigent Kristjan Järvi

Am Anfang des Programms stand ein Stück purer Expressivität, die Konzertfantasie „Eine Nacht auf dem kahlen Berge“ des Russen Modest Mussorgski. Der Komponist setzte mit diesem Stück einen bewussten Kontrast gegen den damals vorherrschenden westlichen -vornehmlich deutschen – und vermeintlich „akademischen“ Musikstil. Die russischen Komponisten um Mussorgski forderten eine stärkere Berücksichtigung russischer Traditionen, zum Beispiel die Verwendung von Motiven der Volksmusik. In der „Nacht auf dem kahlen Berge“ vertont Mussorgski die Legende eines alljährlichen Hexensabbats auf einem abgelegenen Berg, ähnlich der deutschen Walpurgisnacht. Da beginnt es dann auch schon in den ersten Takten recht furios mit wilden Akkorden. Diese gehen dann über in wellenartige Bewegungen, die man als den Tanz der Hexen interpretieren kann. Streicher und Bläser – vor allem die Blechbläser – streiten mit Verve um den akustischen Sieg, und die Schlagzeuger im Hintergrund heizen das Fest der Hexen und Teufel mit Beckenschlägen und Trommelwirbeln kräftig an. Mussorgski lässt in dieser Komposition alle Regeln und Konventionen der damaligen Musik hinter sich und lässt die Phantasie und das „Bauchgefühl“ nahezu schrankenlos walten. Keine Sonatenform, Exposition, Durchführung und Reprise sondern nur musikalische Gedanken in ihrer Urform.  Kristjan Järvi führte selbst einen halben Hexentanz am Dirigentenpult auf und sprang sogar in die Höhe, um seinen musikalischen Impetus auf das Orchester zu übertragen. Die jungen Musiker folgten ihm mit Begeisterung und ließen es bei allem musikalischen Temperament nicht an Präzision und Klarheit fehlen.

Edvard Grieg kommt aus einem ähnlich hohen Breitengrad wie der Petersburger Mussorgski. Doch die Mentalitäten der beiden unterscheiden sich deutlich. Griegs Musik hat stets etwas Bodenständiges an sich, selbst die lyrischen Stücke. Man sieht bei ihm stets den knorrigen, einsamen Nordmenschen, der in einer kargen Gebirgslandschaft lange Winter ohne die in St. Petersburg üblichen gesellschaftlichen Ereignisse überstehen muss. Etwas von dieser Erdenschwere verströmt auch sein Klavierkonzert in a-Moll, op. 16. Auf- und absteigende, wuchtige Akkordketten prägen dieses Werk ebenso wie lyrische Einschübe.

Die Baltic Sea Youth Philharmonic unter Kristjan Järvi

Die Baltic Sea Youth Philharmonic unter Kristjan Järvi

Das Klavier eröffnet den ersten Satz mit einigen markanten Akkorden, denen dann das Orchester folgt. Prägend für den ersten Satz sind die beiden kontrastierenden Themen: das eine, marschartige mit schnellen Akkordketten und das andere mit weit ausladenden Melodiebögen. Nicht umsonst wird dieser erste Satz gerne auch als Filmmusik verwendet. Der zweite Satz kommt dagegen als ruhig-lyrisches Adagio daher und entführt den Zuhörer sozusagen in die Bergeinsamkeit. Erst der Finalsatz – Allegro moderato molto e marcato – setzt wieder auf Bewegung und Tempo. Auch hier jagen sich wieder schnelle Läufe und Akkordverbindungen, die an den Solisten höchste  Anforderungen stellen. Der junge Jan Lisiecki meisterte die Schwierigkeiten nicht nur technisch bravourös, sondern wirkte dabei für sein Alter erstaunlich souverän, ja geradezu „cool“. Flüssig und leicht flossen ihm die schnellen Akkordläufe aus den Händen, und im zweiten Satz zeigte er überdies eine ausgesprochen feine Anschlagskultur, die den lyrischen Charakter dieses Satzes erst richtig zum Ausdruck brachten.

Das Publikum zeigte sich von dieser Leistung außerordentlich beeindruckt, bedachte Lisiecki mit kraftvollem, lang anhaltendem Beifall, und erhielt daraufhin noch eine ausgesprochen fein intonierte Zugabe.

Der zweite Teil des Konzerts bestand aus einer Walzerfolge aus Richard Strauss´ Oper „Der Rosenkavalier“. Wer bei Walzer an die Namensvetter Johann Vater und Sohn denkt, liegt nicht ganz falsch aber auch nicht richtig. Denn diese Walzer sind nicht zum Tanzen gedacht, sondern führen die Walzer der großen Walzer-Epoche weiter auf eine komplexe musikalische Ebene. Zwar bleibt der Dreivierteltakt – weitgehend – erhalten, aber er wird immer wieder durch rhythmische oder motivische Einschübe und Abschweifungen in seiner Dynamik verändert, mal gestaucht und mal gestreckt, gerade wie es die Situation der Opernhandlung verlangt, denn diese soll die Musik beschreiben und untermalen. Kristjan Järvi bot mit dieser Walzerfolge einen schönen Kontrast: vom erdenschweren Norwegen zum leichtlebigen Wien. Eine gute dreiviertel Stunde dauerte diese ununterbrochene Walzerfolge, wirkte aber keine Sekunde eintönig sondern stets neu und abgewandelt. Zwischendurch traten immer wieder die bekannten Motive der „Rosenkavalier“-Walzer wie Leitmotive in den Vordergrund und gaben dem Ganzen eine Struktur und Wiedererkennbarkeit.

Obwohl Strauss seine Oper eigentlich als eine Satire auf die „gute alte Walzerseligkeit“ angelegt hat, kommt gerade dieser immer wieder ungebrochen zum Vorschein. Kristjan Järvi und sein Orchester taten allerdings auch alles, um den ganz eigenen „Schmelz“ dieser Musik zum Vorschein zu bringen, ohne deswegen in schmissiges Schmettern zu verfallen. Sowohl die musikalische Ausdeutung in all ihren Nuancen als auch die Präzision und Transparenz wurden keinen Augenblick vernachlässigt, was angesichts der tempo- und kontrastreichen Musik hohe Anforderungen an die Musiker stellte. Mit Begeisterung und höchster Konzentration wurden sie diesen Anforderungen in vollem Maße gerecht und begeisterten das Publikum mit ihrer Interpretation der Rosenkavalier-Walzer.

Die Zuhörer applaudierten denn auch so kräftig, dass sich Kristjan Järvi und sein Orchester nicht lumpen ließen. Nach der knappen Ankündigung „Noch etwas Deutsches – fast“ spielten sie noch drei Zugaben, deren erste eine Neubearbeitung von Georg Friedrich Händels „Wassermusik“ mit ungewohnten Klangvariationen und einem so komplexen wie dynamischen Orchester-Arrangement war. Als zweite Orchesterzugabe erklang Peter Tschaikowskys „Tanz der Kobolde“ aus der Bühnenmusik  „Schneeflöckchen“, und den Abschluss bildete das Finale aus Hugo AlfvésBallett  „Der verlorene Sohn“. Dabei kamen alle Instrumente mit einer solchen Intensität und Begeisterung zum Einsatz, dass nicht nur die Musiker sondern auch die Zuschauer die Füße und Hände zur Hilfe nahmen und schließlich Kristjan Järvi den rhythmischen Beifall des Publikums dirigierte.

Ein fulminanter Schluss eines überzeugenden Konzerts!

Frank Raudszus

 

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