Das Berliner Varieté „Wintergarten“ nähert sich dem Irrenhaus aus einer ganz anderen Richtung.
Die besseren Varieté-Programme versuchen, ihren Programmen einen „roten Faden“ mitzugeben, sozusagen eine Geschichte, die gemeinschaftlich erzählt wird. Dabei ergibt sich diese Geschichte meist mehr aus den Ähnlichkeiten der einzelnen Nummern. Nur selten gelingt es, eine Geschichte vorzugeben und diese konsequent in den einzelnen Vorführungen umzusetzen.
Dem „Wintergarten“ ist dieses Kunststück in seiner Show „Der helle Wahnsinn“ durchaus gelungen. Schon der Titel erweist als deutlich mehr denn als reines Zitat einer saloppen Redewendung. Hier stehen die Worte „hell“ und „Wahnsinn“ in einem Kontrast, den die über zweistündige Aufführung temporeich und witzig bis schräg ausleuchtet.
Das Bühnenbild spricht bereits Bände. Neben dem noch geschlossenen Vorhang steht ein alter Tisch mit einer vorsintflutlichen Schreibmaschine, und neben anderen Utensilien aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts hängt ein Foto von Sigmund Freud an der schäbigen Wand. Die schriftliche Einblendung klärt dann die Ausgangssituation. Ein junger Adliger wird im Jahr 1947 wegen homosexueller Unzucht in eine Irrenanstalt – ein damals noch durchaus geläufiger Begriff – eingeliefert und erhält von dem schmierigen Chef (Collin Brothers), der wohl in der gerade zugrunde gegangenen Kurzepoche sicher eine „gute Figur“ gemacht haben dürfte, eine mehr derbe als herzliche Einweisung. Schon hier zeigt diese Show deutliche Sozialkritik, wenn auch an einer verflossenen Zeit.
Doch Herbert (Jack Woodhead), so der Beginn eines längeren Adelstitels, betrachtet seinen Aufenthalt in dieser Anstalt eher als künstlerische Herausforderung, und lässt sich durch keine Drohung einschüchtern. Auch sein erstes Zusammentreffen mit seinen Leidensgenossen schockiert ihn nicht, obwohl die Regie sich hier einige Abnormitäten hat einfallen lassen. In dem schäbigen Dekor einer heruntergekommenen Nervenanstalt kriechen die absonderlichsten Figuren auf die Bühne, alle in in hellbeiger Anstaltskleidung – mal als langes Nachthemd, mal als Hose. Da ist die schizophrene „Somalso“ (Sarah Bowden), deren Namen bereits Auskunft über ihre Befindlichkeit gibt, da ist der alte Seemann „Hans die Woge“ (Rummelsnuff), der stark an Hans Albers erinnert, und da ist „Karl das Messer“ (Florian Zumkehr), der aussieht wie Jesus aber in einer Zwangsjacke herumläuft, weil er vor seiner Einweisung seine gesamte Familie mit einem Messer massakriert hat. Dann ist da noch der harmlose Idiot, der kindliche Gesten und Geräusche von sich gibt und in jedes Fettnäpfchen tritt. Und dann gibt es noch „Punka Rosa“, einen ebenfalls schwulen Zigeunerjungen, der unter dem Trauma einer Massenerschießung durch deutsche Soldaten leidet, seitdem nur in Mädchenkleidern herumläuft und nicht ansprechbar ist. Auch hier also historische Assoziationen mit düsterem Hintergrund.
Wer denkt, unter diesen Figuren seine einige reine Schauspieler, die nur der theatralischen Auflockerung dienen, irrt gewaltig. Alle am Bühnengeschehen Beteiligten sind Profis, wenn sie es in einigen Fällen auch erst spät zeigen. Jack Woodhead präsentiert sich nicht nur als schmissiger Varieté-Darsteller sondern auch noch als Sänger und Pianist, und der scheinbar zurückgebliebene Blödel im Strampleranzug liefert zusammen mit Collin Brothers gegen Ende eine einzigartige Trapez-Show, die durch seine scheinbaren Ungeschicklichkeiten und Tölpeleien zusätzlich erschwert wird.
Herbert hat immer von einer eigenen Revue geträumt und sieht in diesem Irrenhaus mit seinen schrägen Typen, „Freaks“, wie er sie nennt, die einmalige Gelegenheit, seinen Traum in Realität umzusetzen. Aus amerikanischen Care-Paketen – Herbert hat überall seine Kontakte – erhält man Dekorationen und Kostüme, und los kann´s gehen. Nachdem im ersten Teil die Personen mit ihren jeweiligen Defiziten bereits sehr wirkungsvoll und „showgemäß“ vorgestellt worden sind, kommen jetzt die einzelnen Auftritte, sprich: die Artisten können jetzt ihr wahres Können an verschiedenen Geräten oder auf dem Boden zeigen. Dass man hierbei wieder einmal herausragende Leistungen zu sehen bekommt, versteht sich angesichts des heutigen Leistungsstandes der großen Varietés fast von selbst. Und dennoch hält man immer wieder den Atem an, wenn etwa Florian Zumkehr rückwärts durch einen fast zwei Meter hoch angebrachten Reifen springt oder auf drei Beinen eines Stuhl (der auch noch auf drei Bücherstapeln steht) einen einarmigen Handstand präsentiert. Auf demselben Niveau agiert David Pereira als der Zigeunerjunge „Punka Rosa“, der sich hier als Kraftathlet der Ausnahmeklasse zeigt.
Mit Worten lassen sich athletische und akrobatische Vorführungen der Spitzenklasse nicht beschreiben, weil der Nervenkitzel und die Spannung sich damit nur schlecht ausdrücken lassen. Man muss diese Akrobaten einfach live gesehen haben, um einen Eindruck davon zu erhalten, was der menschliche Körper zu leisten imstande ist.
Doch nicht nur Kraft und Akrobatik kommen in diesem Programm zur Geltung, sondern auch Musik und Tanz. Die Musik kommt aus einer band hinter den erhöhten Fenstern des Irrenhauses, und zeitweise scheint der Ort auf die Musiker abgefärbt zu haben, dermaßen legen sie dort oben los. Zu diesen verschiedenen Rock-Rhythmen tanzen und singen dann die Darsteller auf der Bühne wobei Sarah Bowden immer weider eine zentrale Rolle einnimmt. Sie spielt einerseits die Schizophrene mit entsprechender Gestik und Mimik, dann aber schreit sie die Befindlichkeit der Insassen einfach heraus, jedoch nicht als unartkulierten Schrei sondern gebunden in entsprechende Songs. Dabei erweist sie sich auch als hervorragende Tänzerin und Sängerin, die einen Saal zum Kochen bringen kann.
Die Stärke dieser Show liegt jedoch nicht in ihren Einzelakteuren sondern in der Variabilität aller Darsteller. Jeder kann hier singen und tanzen, und jeder tut dies auch. Diese multiplen Fähigkeiten aller Künstler und ihre konsequente Anwendung führt zu einem „Hochtemperatur-Reaktor“ der Varieté-Kunst, denn hier herrscht kein Moment Ruhe oder gar Langeweile. Hier geht permanent die Post ab, sei es akrobatisch, schauspielerisch, sängerisch oder tänzerisch. Da braucht man das Publikum nicht zum Mitklatschen aufzufordern, sondern der Rhythmus der Musik und die Bewegungen der Tänzer (und Tänzerinnen) auf der Bühne bewirken das von alleine. Hier herrscht das kreative Chaos von Anfang bis Ende, und so steht das Publikum am Schluss auch begeistert vor der Bühne und will die Truppe dort oben am liebsten gar nicht gehen lassen.
Für alle Berlin-Besucher ist ein Abend beim „hellen Wahnsinn“ im „Wintergarten“ eigentlich ein Muss, für Eingeborene sowieso.
Frank Raudszus
Alle Fotos © Jürgen Sendel
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