Beim Rheingau Musik Festival präsentiert das WDR-Sinfonieorchester Köln Werke von Dvorák und Bruckner.
Für das erste Sinfoniekonzert dieser Festivalsaison im Kurhaus Wiesbaden hatten die Veranstalter den japanischen Dirigenten Kent Nagano gewinnen können, der hier zum ersten Mal ans Pult trat. Er hatte sich ein kontrastreiches Programm ausgedacht. In Abwandlung der üblichen Konzertroutine hatte er sich auf zwei Stücke beschränkt, was wohl vor allem an der Überlänge des zweiten Programmpunktes lag. Nach Antonin Dvoráks Violinkonzert, das Frank Peter Zimmermann interpretierte, folgte nämlich Anton Bruckners 9. Sinfonie, die – obwohl unvollendet – über eine Stunde dauert. Die Hochromantik feierte an diesem Abend Triumphe.
Dvoráks Violinkonzert in a-Moll, op. 53, war ein Auftragswerk seines Verlegers, der genau wusste, was sein Publikum wollte: eine ausgeprägte Kantilene, das heißt viele schöne Melodien. Dvorák, der damals mit finanziellen Problemen kämpfte, nahm diese Forderung sofort an und brachte entsprechend viel slawisches Volksliedgut in diese Komposition ein. Daher ist das Violinkonzert auch heute noch sehr beliebt und gehört zum Repertoire der meisten Geiger.
Frank Peter Zimmermann und Kent Nagano waren sich jedoch einig, nicht zuviel Volksliedseligkeit und Sentimentalität zu intonieren, und achteten auf eine eher energische Interpretation. Frank Peter Zimmermann konterkarierte von vornherein die schönen Melodielinien mit einem energischen Strich, der seiner Interpretation sehr gut bekam und dem Konzert einen straffen Charakter verlieh. Von Anfang an sekundierten die tiefen Hörner und die hohen Flöten das Spiel der Violine und nahmen deren Motive in einer Art Dialog auf.
Die drei Sätze des Konzerts gehen nahtlos ineinander über. Das kennzeichnet die geänderte Sicht der Künstlerauf ihre Werke und ihre Stellung zum Publikum. Waren die Sätze in der Klassik noch klar voneinander getrennt, um auch nur einzelne Sätze vortragen oder diese gar wiederholen zu können und um das höfische Publikum nicht mit einem zu langen Werk zu überfordern und zu verärgern, fordert jetzt der spätromantische Komponist die ungebrochene Aufmerksamkeit des – nun vornehmlich bürgerlichen – Publikums und entwickelt die einzelnen Sätze organisch aus ihren Vorgängern. Besonders deutlich wird das beim Übergang vom ersten („Allegro ma non troppo“) zum zweiten Satz („Adagio ma non troppo“), den man als solchen im ersten Augenblick kaum bemerkt. Dagegen steht vor dem Finalsatz eine zwar kurze, aber deutliche Zäsur. Auch im Adagio-Satz verzichtete Zimmermann auf zu deutliche lyrische Akzente. Die Melodien sprechen für sich, da muss man sie nicht noch durch zu verträumtes Spiel übermäßig betonen. Dadurch erhielt auch dieser Satz einen gewissen „Zug“, der von vornherein jede falsche Gefühligkeit ausschloss. Der dritte Satz – „Allegro giocosa. ma non troppo“ – ähnelt dann mit seinen versetzten, tänzerischen Rhythmen fast einem bewegten Scherzo. Hier kann man am deutlichsten den Einfluss der Volkstänze erkennen. Auch hier treten Geige und Orchester wieder in einen lebhaften Dialog von Frage und Antwort. Diese enge Integration des Soloinstruments mit dem Orchester ist typisch für die gesamte Komposition. Im Gegensatz zum herkömmlichen Solokonzert gibt es hier auch keine Solokadenz der Geige. Dennoch stellt das Konzert mit seinen schnellen Läufen und teilweise komplexen und rhythmisch versetzten Passagen hohe technische Anforderungen an den Solisten. Bei Frank Peter Zimmermann hatte man jedoch nie das Gefühl von Anstrengung oder gar Verkrampfung. Er präsentierte auch die schwierigsten Teile mit Leichtigkeit und Verve zugleich. Kent Nagano war ihm ein sehr aufmerksamer Begleiter, der Zimmermanns Tempi sehr genau beobachtete und ihnen mit dem Orchester nahtlos folgte. Die gesamte Interpretation wirkte wie aus einem Guss, wobei die Geige eher die Rolle des „primus inter pares“ als die des dominierenden Soloinstruments spielte.
Das Publikum dankte mit mehr als kräftigem Beifall und erhielt dafür noch eine virtuose Zugabe in Gestalt der Capriccios für Solo-Violine von Nicolo Paganini, die noch einmal stürmischen Beifall brachte.
Bruckners 9. Sinfonie in d-Moll ist eines der berühmten „unvollendeten Werke“, ähnlich Schuberts 8. Sinfonie. Drei Sätze konnte Bruckner vor seinem Tod im Jahr 1896 noch fertigstellen, der vierte blieb Fragment. Da unmittelbar nach Bruckners Tod die Notizen zum vierten Satz von Andenkenjägern entwendet wurden und nicht wieder auftauchten, ist es auch nicht möglich, diesen Satz aus den Fragmenten zumindest in einer „Drittfassung“ hörbar zu machen. So beschränken sich die heutigen Aufführungen, wie auch die in Wiesbaden, auf die ersten drei Sätze.
Diese enthalten allerdings eine Musik, die das 19. Jahrhundert bereits hinter sich gelassen hat. Der Beginn des langsamen Kopfsatzes erinnert zwar an Wagner, den Bruckner verehrt hatte, dann aber beginnt der mit „feierlich, mysterioso“ überschriebene Satz Bahnen einzuschlagen, die deutlich ins 20. Jahrhundert weisen. Die einzelnen Instrumentengruppen beginnen ein komplexes Gespräch miteinander, größere Melodiebögen gibt es nicht, dafür viele kurzlebige Motive, die mal von den tiefen Blechbläsern — so am Anfang – dann wieder von dem Orchester intoniert werden, wobei die Musik bisweilen Fanfarencharekter annimmt. Und immer wieder schleichen sich sehnsüchtige, lang gezogene Motive ein, die an Richard Wagner erinnern. Der zweite Satz präsentiert eine Musik, die man so erst wieder in Strawinskys „Sacre du Printemps“ hören sollte. Schroffe, rhythmische Ostinati des Orchesters, die in der gleichen Tonfolge immer wieder wie ein Leitmotiv den Satz prägen. Wie dumpfe Schicksalsschläge oder drohende Mahnung an die Vergänglichkeit rütteln diese Passagen die Hörer auf. Dieser Satz ist zwar mit „Scherzo“ übertitelt, hat aber nichts Scherzhaftes an sich. Hört man den Satz heute, kann man ihn nur als düstere Prophezeiung für das bevorstehende 20. Jahrhundert mit seinen furchtbaren Kriegen deuten. Der dritte Satz beginnt mit einem „tragisch-schwermütigen“ Streichermotiv und steigert sich langsam zu mehreren Crescendi, die wie ein Aufschrei einer gequälten Seele klingen. Hier setzt sich der bereits schwer kranke Bruckner ganz offensichtlich mit seinem bevorstehenden Ende auseinander und lässt den Tod in seiner ganzen Schrecklichkeit gegen den Lebenswillen kämpfen. Lange Melodiebögen – wiederum an Wagner erinnernd – wechseln sich mit diesen Fortissimi ab und erwecken zunehmend den Eindruck des Jenseitigen, Göttlichen, das der tief religiöse Katholik Bruckner nur mit den Mitteln der Musik dastellen zu können glaubte.
Dieser dritte Satz erfoderte noch einmal die ganze Konzentration und Aufmerksamkeit von Dirigent, Orchester und Publikum, denn hier verzichtet Bruckner auf jegliche musikalische Gefälligkeit und Kompromisse und konfrontiert den Zuhörer mit der Endlichkeit alles Menschlichen und dem Schrecken des Todes. Kent Nagano und das WDR-Sinfonieorchester intonierten diesen Satz mit höchster Präzision und einer urwüchsigen musikalischen kraft, die ihresgleichen suchte. Dabei gelang es dem Ensemble, auch die expressivsten Stellen nicht zum akustischen „Overkill“ werden zu lassen, sondern die Strukturen der Musik so transparent wie möglich nachzuzeichnen. So war man zwar am Ende von der Gewalt der Musik ein wenig benommen – fast „erschlagen“ -, jedoch ohne das Gefühle, nur unerträglichen Lärm gehört zu haben.
Das Publikum zeigte sich begeistert und spendete Dirigent und Orchester stürmischen, lang anhaltenden Beifall.
Frank Raudszus
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