Das Schauspiel des Staatstheaters Darmstadt verabschiedet sich nach zehn Jahren mit dem Programm „Wir haben fertig“.
Im Jahr 2004, mit dem Einzug des neuen Intendanten John Dew, übernahm Martin Apelt das Schauspiel des Staatstheaters Darmstadt. Mit ihm kamen eine Reihe von Schauspielern, die auch heute noch zum festen Stamm des Hauses gehören. Manche gingen, andere kamen neu hinzu, doch jetzt endet das Darmstädter Engagement für die meisten von ihnen. Nur sechs bekannte Gesichter bleiben dem Darmstädter Publikum erhalten, die anderen werden sich in alle Himmelsrichtungen zerstreuen, wobei so manche(r) noch nicht weiß, ob und wo es weitergehen wird.
Nach zehn Jahren fällt es den meisten Ensemblemitgliedern schwer, sich von Darmstadt zu trennen. Man ist hier wärmstens aufgenommen worden, wie Martin Apelt bei der Begrüßung mit leicht rauher Stimme bemerkte, hat hier Freunde in und außerhalb des Ensembles gewonnen und ist hier heimisch geworden. Dafür wollte sich das Ensemble an diesem vorletzten Abend der Saison mit einem einmaligen Sonderprogramm bedanken, das schon seit längerem ausverkauft war. Laut Martin Apel hätte man die Seitentreppen bis zum letzten Platz füllen können, wenn die Feuerwehr es zugelassen hätte.
Die Bühne war – wie bei einer großen Abreise – vollgestellt mit alten Koffern aus der Requisite, und Gerd K. Wölfle machte sich den ganzen Abend als Dienstmann mit roter Mütze auf der Bühne zu schaffen. Wer genau hinschaute, entdeckte so manche Träne und dicken Kloß im Hals einiger Schauspieler(innen). Die waren ausnahmsweise mal nicht professionell für die Rolle hervorgezaubert, sondern entstanden ganz intuitiv aus der Situation. Dennoch absolvierten auch die von der Wehmut gezeichneten Mitglieder ihre Kurzeinsätzze mit Bravour.
Wie es sich gehört, begann es anspruchsvoll, natürlich weimarisch-klassisch, und passend mit dem Beginn zu Goethes „Faust“: Erst die „Zueignung“ (Uwe Zerwer in seiner letzten Rolle), dann Aart Veder, Uwe Zerwer und Gabriele Drechsel als Director, Dichter und Lustige Person im „Vorspiel auf dem Theater“. In einer zweihundert Jahre alten Kurzfassung brachten die drei noch einmal die ewige Diskussion über reine Kunst, Unterhaltung und Geschäft auf den Punkt und spiegelten damit die drei Grundlinien auch des Darmstädter Schauspiels in der letzten Dekade. Danach ging es weiter mit Schiller – Maika Troscheit als Elizabeth aus „Maria Stuart“ – und mit Kleist – Sonja Mustoff jammerte als Frau Marthe über den zerbrochenen Krug und Heinz Kloss trug die „Anekdote aus dem letzten preußischen Krieg“ vor.
Langsam verschob sich das Programm dann zum leichteren Genre. Simon Köslich und Ronja Loser, erst vier und zwei Jahre in Darmstadt, hielten einen Rückblick auf ihre gemeinsamen Liebespaar-Rollen, danach zitierten Gabriele Drechsel und Klaus Ziemann den Dialog zwischen Rosetta und Leonce mit Leonces abschließendem Monolog. All diese Szenen wurden mit dem nötigen szenischen Ernst präsentiert, und dennoch war ihnen allen etwas Rührend-Humoristisches eigen, als wollten die Darsteller nicht glauben, dass sie das alles mal gespielt hatten. Denn darum ging es: jeder und jede trug Szenen aus Lieblingsrollen der letzten zehn (oder weniger) Jahren vor, und dazu erschienen auf der Bühnenrückwand überdimensionierte Fotos der jeweiligen Aufführungen. Für eifrige Theatergänger lief damit ein paralleler Wiedererkennungsquiz nach dem Motto „Who´s who“ ab, denn nicht nur waren die Darsteller auf diesen Fotos teilweise um Jahr jünger, sondern auch maskiert, geschminkt und verkleidet.
Dazu gab es an diesem Abend viel Musik: entweder zwischen den Szenen oder mit Gesang. Am Klavier saß der ebenfalls scheidende Michael Erhard, begleitet von Kontrabass (Ramon Manuel Schneeweiß), Schlagzeug (Richard Strobel) , Cello (Angela Elsäßer) und Gitarre (Dieter Kociemba). Den – auf die aktuelle Situation umgemünzten – Text zu Franz Schuberts „Abschied“ trugen Christina Kühnreich und Matthias Kleinert vor, und das Trio Margit Schulte-Tigges, Andreas Manz und Martin Ratzinger zeigte am Beispiel von Kurt Schwitters „Ursonate“ unter vollem Einsatz aller stimmlichen Mittel, dass man ein Musikstück auch allein durch die menschliche Stimme wiedergeben kann.
An die „Woyzzeck“-Inszenierung mit Musik von Tom Waits erinnerten Margit Schulte-Tigges, Sonja Mustoff und Maika Troscheit mit verschiedenen Songs, Diana Wolf sang aus der „Großherzogin von Gerolstein“ und Andreas Manz-Kozár erinnerte mit Otto Reutter daran, dass „In 50 Jahren alles vorbei ist“. Schließlich verließ Karin Klein als Ibsens Nora ihren Mann Thorvald – auch ein Abschied – und kletterte über die Zuschauerreihen davon, bevor Katharina Hintzen und Hubert Schlemmer den ersten Teil mit zwei Liedern beendeten.
Der zweite Teil bestand dann – abgesehen von einer Szene aus „Eine Sommernacht“ mit Ronja Losert und Andreas Vögler – aus Liedern verschiedener Komponisten, Dichter und Liedermachern, die alle etwas mit Abschied und Vergänglichkeit zu tun hatten. So wollte Simon Köslich ins „Hotel Mama“ zurückkehren, Diana Wolf sinnierte sanglich über „Heute hier, morgen dort“ und Christina Kühnreich trug mit großer Geste Reinhard Meys „Abschied“ vor. Ein besonderer Gag war der „Trololo Mann“, vorgetragen von István Vincze, der mit todernstem Gesicht, bewusst bürgerlichem Aufzug und weit ausholender Gestik „La-lal-las“ und „Lo-lo-los“ sowie andere Lautkombinationen schmetterte. Den melancholischen Abschluss präsentierte dann das gesamte Ensemble mit Peter Kreuders „Sag zum Abschied leise Servus“ und lud die Zuschauer dabei zum Mitsingen ein.
Doch so schnell ließ das Darmstädter Publikum seine Lieblinge nicht von der Leine. Der Beifall war so heftig und so ausdauernd, dass die Truppe noch einmal auf die Bühne kam und einen gekonnten Rap-Song über die Zeit in Darmstadt hinlegte, zu dem sogar das Publikum in den Sitzreihen mitzutanzen begann. So wich zum Schluss das Feuchte der Wehmut in den Augen dem ausgelassenen Lachen, frei nach dem Motto „Lebbe geht weiter“.
Auch wir hier beim „Egotrip“ halten ein wenig wehmütig Rückschau auf zehn ereignisreiche Theaterjahre mit einem breiten Spektrum von Stücken – Klassiker und Avantgarde, Psycho- und Sozialdrama, Liebes- und Ehrenhändel, antik und zeitgenössisch. Martin Apelt und sein Ensemble haben in diesen zehn Jahren ein reichhaltiges und hochqualitatives Programm geboten, das mal Betroffenheit, mal Lachen und mal Weinen zur Folge hatte. Auch wenn wir vielleicht hier und da nicht einverstanden waren mit einer Inszenierung, stand immer ein Plan hinter den Inszenierungen, und zumindest konnte man dann streiten. Doch dabei ist stets zu unterscheiden zwischen dem Streit über den Inhalt und dem über die Form. Ersterer ist gewollt und oftmals sogar provoziert, über letzteren kann man streiten…. Im Übrigen bleiben die Inszenierungen am längsten in der Erinnerung, über die man heftig gestritten hat. Auch wenn das nicht durchgängig der Fall war – schließlich war man sich bei Diskussionen meistens über die wesentlichen Aussagen einig -, hat das Darmstädter Schauspiel erheblich zum Bewusstseinsstand über die gesellschaftlichen, politischen und sozialen Verhältnisse beigetragen – und hat dabei den Unterhaltungsaspekt nie aus den Augen verloren.
Wir wünschen dem gesamten Ensemble für die Zukunft alles Gute und hoffen, den einen oder die andere hier oder an anderer Stelle wiederzusehen.
Frank Raudszus
PS: Leider gibt es zu diesem Abend keine Pressefotos
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