Ein Roman über die einsamen Inseln im Norden Englands
Nordwestlich von Schottland liegt eine Reihe kleinerer Insel, die unter der Sammelbezeichnung „Hebriden“ bekannt sind. Hier herrschen rauhe Wetterbedingungen, und wegen der ständigen Tiefs, die von Island heranziehen, sowie der hohen nördlichen Breite sind die landwirtschaftlichen Erträge mehr als dürftig. Dennoch leben hier Menschen, die ihren Lebensunterhalt mit Landwirtschaft bestreiten – oder zumindest bestritten haben. Im Zeitalter von Fernsehen und Internet mögen sich auch hier die Verhältnisse deutlich verbessert haben, doch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein mussten die Menschen auf diesen Inseln der Umwelt ihren Lebensunterhalt buchstäblich entreißen. In dieser Zeit spielt Peter Mays Roman hauptsächlich, wenn auch die Rahmenhandlung in der heutigen Zeit angesiedelt ist.
In einem Moor auf einer dieser kleinen Inseln wird eines Tages eine männliche Leiche gefunden, und die erste Euphorie über einen historischen Fund weicht bald der Ernüchterung und dann dem Schrecken, als man auf der Leiche neben Zeichen schwerer Gewalteinwirkung eine Tätowierung von Elvis Presley entdeckt. Damit laufen die polizeilichen Untersuchungen an.
Parallel dazu erhält der Leser Einblick in die Monologe eines alten Mannes, der sich dunkel an seine Jugend in den 50er Jahren erinnert, aber mit seiner aktuellen Umwelt nicht mehr mithalten kann, da eine zunehmende Demenz von ihm Besitz ergriffen hat. Vor dem wachsenden Unverständnis der Reaktionen seiner Frau und seiner Tochter flüchtet er sich in seine Erinnerungen an seine Jugend mit seinem jüngeren Bruder im Waisenhaus und später auf einer kleinen Insel der Hebriden.
Der Ex-Polizist Fin kehrt zur selben Zeit – nach einer gescheiterten Ehe und einem verlorenen Kind – auf seine Heimatinsel zurück und erfährt zufällig und aufgrund seiner polizeilichen Vergangenheit von einem DNA-Test, der die Moorleiche als Verwandten eben dieses alten Mannes ausweist. Da auch Fin durch frühere Beziehungen in gewisser Weise an diesen Mann gebunden ist, sieht er es als seine persönliche Pflicht an, das Rätsel um die Moorleiche zu lösen.
Peter May hat mit diesem Buch zwar einen Kriminalroman geschrieben, ihm geht es in Wirklichkeit jedoch um ganz andere Dinge. Einmal möchte er das harte Leben auf den äußeren Hebriden und den daraus entstandenen Menschenschlag beschreiben, andererseits will er die skandalöse Art und Weise anprangern, wie in den vierziger und fünfziger Jahren die – katholische – Kirche mit Waisenkindern umging. Nach dem Krieg gab es aus nahe liegenden Gründen sehr viele Waisenkinder, und da es auf den unwirtlichen Inseln – nicht zuletzt aufgrund von Abwanderung – an Arbeitskräften fehlte, schickte man die Waisenkinder als bessere Arbeitssklaven auf die Inseln, wo sie Familien mit entsprechendem Bedarf zugeteilt wurden. Die seelischen Folgen für die Kinder spielten dabei keine Rolle, weil sie ja nicht die eigenen Kinder sondern reines „Menschenmaterial“ waren.
Schon das Leben im Edinburger Waisenhaus ist für die beiden Waisen John und Peter eine Qual, zumal John auf seinen jüngeren, geistig leicht behinderten Bruder aufpassen muss und im Waisenhaus kein Verständnis für die besondere Situation findet. Doch nach einer folgenschweren Auseinandersetzung mit anderen Jugendlichen aus der Nähe des Waisenhauses werden die Brüder hinausgeworfen, das heißt: auf die äußeren Hebriden buchstäblich verkauft. Hier kommt es für die beiden noch viel schlimmer, wie die inneren Monologe des alten Mannes zeigen.
In einem Wettrennen zwischen den offiziellen polizeilichen Ermittlungen, der fortschreitenden Demenz des Alten und einigen äußeren Ereignissen versucht Fin, die Wahrheit über die Moorleiche und ihre Verbindungen zu dem Alten und der Insel herauszufinden. Dabei muss er die verschiedensten Quellen anzapfen, die sich bald als zwar ergiebig aber auch höchst gefährlich erweisen. Fast zu spät bemerkt Fin, dass hier noch alte Rechnungen offen sind, und dass einige Akteure ihre Rachegelüste über Jahrzehnte im Herzen bewahrt haben. Am Schluss kommt es zu einem klassischen „Showdown“, bei dem die Rettung wie üblich von unvorhergesehener Seite kommt.
Mit der Form des inneren Monologs des alten Mannes hat Peter May ein eindringliches Verfahren entwickelt, die Seelenzustände eines vom großen Vergessen betroffenen Menschen darzustellen. Der Leser erlebt die Angst vor den ihm mehr und mehr fremd werdenden Menschen seiner Umgebung, den schleichenden Ersatz der Gegenwart durch eine von Tag zu Tag gegenwärtiger werdende Vergangenheit und eine existenzielle Angst, die sich aus dem schwindenden Begreifen ergibt. Auf der anderen Seite dieser Alterskrankheit finden sich jedoch eine seltsame Heiterkeit und eine Selbstgenügsamkeit, die den Dingen und Ereignissen nicht mehr die hohe Wichtigkeit wie bei jüngeren – und gesunderen – Menschen zumisst.
Peter May beschreibt die karge und abweisende Landschaft mit Stürmen und Dauerregen mit einer dichten und doch nie pathetischen oder gar sentimentalen Sprache. Er vermittelt dem Leser auch die Freude der Bewohner, wenn dann einmal eine blendend weiße Sonne durch die Wolken bricht und den baumlosen Inseln kurzfristig zu einer wilden Schönheit verhilft. Auch die wortkarge, empathiearme Wesensart der Menschen, die unter diesen harten Bedingungen ihr Leben verbringen, kommt in dem Roman glaubwürdig zum Ausdruck.
Der Roman „Im Namen deines Bruders“ ist im Zsolnay-Verlag unter der ISBN 978-3-552-05671-8 erschienen, umfasst 334 Seiten und kostet 17,90 €.
Frank Raudszus
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