Eine umfassende politische und militärische Analyse des Ersten Weltkriegs.
Zum hundertsten Jubiläum des „Großen Krieges“, wie ihn die Franzosen nennen, oder der „Urkatstrophe des 20. Jahrhunderts“, wie er von verschiedenen Historikern treffend bezeichnet wird, ist eine Flut von entsprechender Literatur auf dem Markt erschienen. Nachdem Christopher Clark in „Die Schlafwandler“ die Vorgeschichte des Krieges minutiös aufgearbeitet hat, hat fast gleichzeitig Herfried Münkler seine Analyse des Krieges selbst veröffentlicht. Wegen der Parallelität der Entstehung speziell dieser beiden Bücher bezieht sich Münkler verständlicherweise nicht auf Clark, aber er kommt in seinem eröffnenden – und wieder im abschließenden – Kapitel zu ähnlichen Schlussfolgerungen hinsichtlich der „Kriegsschuldfrage“.
Ein Buch über den Ersten Weltkrieg muss natürlich zumindest grob die Vorgeschichte schildern, auch wenn diese faktisch zu Genüge bekannt ist. Zu viele Aspekte der unmittelbaren Vorkriegszeit fließen zumindest in die erste Phase des Krieges hinein, als dass man die Vorgeschichte unerwähnt – weil bekannt – bleiben lassen könnte. So betont auch Münkler, dass alle Beteiligten auf den Krieg als nicht nur legitimes sondern auch praktikables Mittel zur Konfliktlösung setzten. Das heißt nicht, dass alle kriegslüstern waren, aber die militärische Alternative war für alle gesetzt, ob es sich um die französische „Rache für Sedan“ und Wiedereroberung Elsass-Lothringens, die englischen Bemühungen, Deutschlands Machtstellung auf dem Kontinent einzugrenzen, oder um den russischen Drang zu den türkischen Meerengen handelte. Alle Regierungen waren laut Münkler noch dem Denken des 19. Jahrhundert verhaftet, in dem ein Krieg durch ein oder zwei größere Schlachten entschieden wurden. Darüber hinaus spielte die Ansicht der jeweiligen Bevölkerung bei diesen reinen Machtfragen keine Rolle oder man meinte, die nationale Begeisterung jederzeit entfachen zu können, was zu Beginn des Krieges ja auch stimmte.
Münklers Buch ist kein historischer Roman mit fiktiven Szenen sondern basiert ausschließlich auf vorliegenden Dokumenten. Es ist auch kein Gesinnungswerk im Sinne eines anklagenden Pazifismus oder gar einer bestimmten Ideologie verhaftet, solange man den Versuch einer objektiven Betrachtung nicht selbst schon als eine positivistische Ideologie denunziert. Dabei geht Münkler ebenso eingehend auf strategische und taktische Merkmale des Krieges ein wie auf außenpolitische und innenpolitische Motive und Konsequenzen. Weiterhin versucht er, den Krieg in seiner ganzen geographischen Ausdehnung zu erfassen und die Bedeutung peripherer Kriegsschauplätze herauszuarbeiten, vom finnischen Befreiungskrieg nach der russischen Revolution über das Desaster bei den Dardanellen bis hin zu dem Vormarsch der Briten und Franzosen in Mesopotamien.
Das deutsche Militär hatte schon lange vor dem Krieg die nicht nur vermeintliche Einkreisung durch Frankreich und Russland erkannt und die Befürchtung eines Zweifrontenkrieges formuliert. Nach rein militärischer Logik war die Forderung nach einem Präventivkrieg entstanden, der den entstehenden Ring der vermutlichen Feinde sprengen sollte, bevor diese zu stark wurden. Die Politik hatte jedoch dieses Ansinnen deutlich zurückgewiesen. Dabei kommt der Kanzler Bethmann-Hollweg besser weg als bei vielen anderen Geschichtsschreibern, und Münkler erklärt die ambivalente Haltung des Kanzlers mit dem starken Einfluss der Alldeutschen, die eine offensive Politik gegenüber den anderen Nationen forderten. Das schwächste und gleichzeitig entscheidende Glied in der Entscheidungskette war – und da ist sich Münkler mit der Geschichtsschreibung einig – Kaiser Wilhelm, der gerne den Einflüsterungen der Fürsprecher einer Großmacht Deutschland nachgab.
Das Militär entwickelte aus der Not des befürchteten Zweifrontenkrieges den „Schlieffen-Plan“, der erstens dem Motto „Frankreich zuerst“ folgte und zweitens eine weite westliche Umfassung der französischen Kräfte unter Missachtung des neutralen Belgiens vorsah, da die starken französischen Befestigungen an der Grenze der bergigen Vogesen und Lothringens schwer zu bezwingen waren. Münkler zeigt auch das Primat des Militärs in Deutschland, dass so wichtige Entscheidungen wie den Bruch der Neutralität der Politik gegenüber als „alternativlos“ darstellte, was diese durch die besondere innenpolitische und konstitutionelle (Kaiser!) Situation akzeptierte. Dieses militärische Primat sollte bis zum Ende des Krieges bestehen bleiben, mit allen fatalen Konsequenzen für die politischen Aktivitäten während des Krieges.
Detailliert zeichnet Münkler den Feldzug in Frankreich bis zum „Wunder an der Marne“ nach und zeigt daran sowohl die Risiken des Schlieffen-Plans – lange Frontlinien, offene Flanken – als auch die Gründe für das Scheitern, die nicht zuletzt auf die unzureichende Stärke des deutschen West-Heeres wegen der Bindung zweier Armeen in Ostpreußen und die immer länger werdenden Versorgungswege zurückzuführen waren. Im Rahmen dieser Analyse beschreibt Münkler auch die neue Art der Kriegsführung, die auf beiden Seiten hohe Opferzahlen zur Folge hatten, da die Generäle ihre Soldaten trotz ihres Wissens um die tödliche Wirkung von Maschinengewehren und moderne Feldartillerie massenhaft in den sicheren Tod führten, in der bloßen Hoffnung, nur mit Todesmut und der größeren Zahl der Soldaten den Durchbruch zu erzielen. So fielen auf beiden bereits in diesen ersten zwei Monaten viele gut ausgebildete und erfahrene Soldaten, wodurch ein weiterer Angriffskrieg unmöglich geworden war.
Methodisch untersucht Münkler die einzelnen Kriegsschauplätze mit ihren mililtärischen wie politischen Implikationen. Den unerwarteten und schnellen Erfolg des Duos Hindenburg/Ludendorff bei Tannenberg in Ostpreußen führt er nicht auf die Genialität der beiden Generäle zurück sondern auf den desolaten Zustand der russischen Armee und deren mangelnde Motivation, die sich in erster Linie aus der Unfähigkeit der Offiziere ergab. Ähnliches gilt für die k.u.k-Armee, deren Offiziere fast im Stile einer Vergnügungsfahrt in den Krieg zogen und gegen die Russen ein bitteres Erwachen erlebten. Mehr als einmal mussten die wesentlich effektiveren Deutschen im Osten rettend eingreifen und konnten daher keine Verstärkungen in den Westen schicken. Schwere Verluste auf russischer wie österreichischer Seite ließen auch diese Front bald in einem Stellungskrieg erstarren, der starke Kräfte band. Selbst gegen Serbien fand Österreich-Ungarn anfangs kein mililtärisches Mittel, und erst nach dem Eingreifen der Deutschen konnte Serbien niedergeworfen werden.
Im Süden hatte sich die Türkei – natürlicher Gegner Serbiens auf dem Balkan – den Mittelmächten angeschlossen und sich gegen deutschen Rat in verlustreichen Kämpfen mit den Russen verschlissen. Daher kam Churchill auf die Idee, hier mit HIlfe der Marine eine zweite Front zu eröffnen, die Dardanellen zu erobern und anschließend nach Norden in die ungeschützte Flanke der Deutschen vorzurücken. Hier zeigten sich die Türken allerdings – mit deutscher Hilfe – als verbissene Verteidiger des eigenen Landes und beschwerten den Alliierten eine schwere Niederlage. Diese starteten den Versuch später jedoch weiter südlich in Mesopotamien und konnten dort gegen Ende des Krieges das türkische Heer besiegen. In Arika gingen die Engländer mit wechselndem Erfolg vor, hatten jedoch die strategisch wichtigen Kolonien – mit Seehäfen – schon früh erobert, so dass die deutsche Flotte hier keine Versorgungsstationen mehr vorfand.
Münkler geht auch detailliert den politischen Hintergründen der einzelnen Kriegsschauplätzen nach. Vor allem auf dem Balkan versuchten beide Seiten immer wieder Bündnisgenossen, da während der Balkankriege nahezu jeder gegen jeden gekämpft hatte. Doch auch hier wartete so mancher kleinere Staat auf die Entwicklung des Krieges, um sich dann rechtzeitig dem vermeintlichen Sieger anzuschließen. Das machte den Balkan zu einem sehr labilen militärpolitischen Gebilde und stellte für die Kriegsplanung im Westen eine nicht zu unterschätzende Bedrohung dar. Auch Italien war ein unsicherer Kandidat. Ursprünglich lose mit den Mittelmächten verbündet, neigte es wegen ungeklärter territorialer Ansprüche an Österreich-Ungarn zu der Entente, bis es dann nach den österreichischen Katastrophen im Osten dem Nachbarn den Krieg erklärte und eine neue Front im Süden eröffnete. Schnelle und vor allem durchschlagende Erfolge waren den Italienern zwar nicht vergönnt, aber sie banden starke österreichisch-ungarische – und später auch deutsche! – Kräfte, die wiederum an der wichtigen Westfront fehlte.
Dem Stellungskrieg mit seinem wichtigsten Symbol Verdun widmet Münkler eine umfangreiche Betrachtung. Nachdem der Bewegunsgkrieg sich erschöpft hatte, versuchten beide Seiten, in gewaltigen Materialschlachten – im wesentlichen mit Artillerie – den Gegner zu zermürben und damit den Durchbruch zu erzielen. Doch trotz schwerster Bombardements und eigener hoher Verluste erwies sich diese Strategie als sinnlos, da beide Seiten sie bis zur völligen Erschöpfung einsetzten. Dabei erzielten beide Seiten kurzfristig Geländegewinne, die jedoch kurz darauf wieder durch den Gegner zunichte gemacht wurden.
Aus dieser Situation ergibt sich für Münkler eindeutig die Frage nach dem „Sinn des Krieges“. Die Entente verfolgte Land für Land Kriegsziele, die sich mit dem „Sinn“ des Krieges deckten. England wollte die „Balance of Power“ in Europa aufrecht erhalten, was bedeutete, die wachsende wirtschaftliche, politische und militärische Kraft Deutschlands zu beschneiden, um die eigene Weltmachtposition zu sichern. Frankreich wollte seine 1870/71 verlorenen Gebiete in Elsass-Lothringen zurückerobern und sich für die als schmachvoll empfundene Niederlage rächen, was in den Zeiten des Nationalstaates als hohe Sinnstiftung galt. Russland wiederum wollte alle Slawen vereinen, den bedrängten (serbischen) Brüdern helfen und endlich Zugang zum Mittelmeer gewinnen. Erstere Sinnstiftung ließ sich vor allem im Volk gut verkaufen. Dagegen befanden sich Deutschland und Österreich-Ungarn in der Sinn-Defensive, da sie sich öffentlich als Angegriffene betrachteten und eher auf die „heroische Verteidigung“ setzen mussten. Während Österreich-Ungarn Serbien den Krieg erklären musste, um nicht international als zweit- oder gar drittrangig zu gelten, lag für die Deutschen der „Sinn“ lediglich in der Bündnistreue zu dem Verbündeten. Es gelang den Deutschen daher nie – beim Kaiser angefangen -, dem Volk einen nachvollziehbaren „Sinn“ des Krieges außer dem des heroischen Standhaltens zu vermitteln. Das verhinderte aber nicht, dass sich nationalistische Kriese schon früh für einen reinen Siegfrieden stark machten und damit die Chancen für einen Verhandlungsfrieden schon früh zunichte machten.
Dieser wäre schon Ende 1914 möglich gewesen, nachdem der Bewegungskrieg sich erschöpft hatte. Doch alle Beteiligten hatten ihren Bevölkerungen einen raschen Sieg versprochen und den Krieg mit Kriegsanleihen finanziert, die von der Bevölkerung gezeichnet und später zurückzuzahlen waren. Das ging nur mit einem zahlenden Verlierer. Die führenden Politiker aller Parteien hatten Angst, ihren Völkern die ungeschminkte Wahrheit verlorener Kriegsanleihen zuzumuten, und wollten daher den Sieg mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln erzwingen. So verschlimmerte sich diese Zwickmühle von Kriegsjahr zu Kriegsjahr dramatisch, weil natürlich die Kriegsschulden überall ins Unermessliche stiegen. Als der Krieg schließlich 1918 endete, hatte man zwar die Verlierer, diese konnten jedoch die ihnen auferlegten Kriegsschulden nicht bezahlen. Münkler geht detailliert auf die verschiedenen Situationen ein, in denen wegen der allgemeinen Erschöpfung oder bestimmter einschneidender militärischer Ereignisse ein solcher Verhandlungsfrieden möglich gewesen wäre. Dem standen jedoch außer den erwähnten Finanzgründen die nationalistischen Strömungen in jedem Land entgegen, in Deutschland die Alldeutschen mit ihren dem Kaiser und der Öffentlichkeit lauthals präsentierten Annexionsplänen und in Frankreich eine kompromisslose politische Führung. Österreich-Ungarn war zwar schon früh am Ende seiner Kräfte, konnte aber einem Frieden auf Kosten seiner territorialen Integrität nicht zustimmen. Auf der anderen Seite galt ihre Stimme bei denm Mittelmächten immer weniger, so dass Deutschland durchaus enstprechende Aktivitäten hätte starten können. Am ehesten waren noch England und Russland für solche Überlegungen zu gewinnen, England wegen seiner eher wirtschaftlich-liberalen Grundeinstellung und Russland wegen wachsender innerer Unruhen. Doch dazu hätte es eines energischen Vorstoßes einer der Parteien bedürft, etwa Deutschland, wozu es aber wegen der Schwäche der Politik in Deutschland nicht kam. Die latente Neigung des Kaisers zur – heldenhaften – militärischen Lösung und der daraus hervorgehende Primat des Militärs schwächten die politische Führung und verhinderten Friedensinitiativen. Bis kurz vor Schluss setzten Ludendorff und Hindendorff die „alternatilosen“ – natürlich militärischen! – Randbedingungen für einen Frieden, und als dann die Westfront aufgrund des Übergewichts der Amerikaner zusammenbrach, schoben sie die Verantwortung auf die Politiker.
Münkler geht auf das letzte Kriegsjahr mit seinen verzweifelten Versuchen, den Krieg im Westen durch eine Entscheidungsschlacht zu gewinnen, mit dem unklugen Siegfrieden von Brest-Litowsk und den innenpolitischen Strömungen in den verschiedenen Ländern detailliert ein. Dazu gehören die steigenden Zahlen von Meuterei und Desertion bei den Franzosen, eine zunehmende „Kampfverweigerung“ bei den Deutschen, die Folgen der Oktoberrevolution in Russland und die weiter sinkende Kampfmoral in den östereichische-ungarischen und den italienischen Armeen. Die höchste Standkraft zeigten – außer den frischen Amerikanern – noch die Engländer, da der Krieg nicht im eigenen Land stattfand und es außerdem keine schwerwiegenden Versorgungsprobleme wie in Deutschland gab.
Münkler zeigt deutlich die Folgen der englischen Fernblockade, die keine Lebensmittel mehr nach Deutschland durchließ und mit einer für eine Entcheidungsschlacht in der Nordsee konzipierte deutsche Flotte nicht aufzubrechen war. Als die Deutschen daraufhin den unbeschränkten U-Bootkrieg begannen, um die englischen Versorgungslinien zu unterbrechen, hatte dies zwar durchaus einen gewissen militärischen Erfolg, rief aber die Amerikaner auf den Plan, da bei dieser Art der Kriegführung eine Versenkung amerikanischer Schiffe nicht zu vermeiden war. Auch hier zeigt Münkler wieder deutlich die größte Schwäche der deutschen Politik, sich vom Militär und dessen Argumenten treiben zu lassen. Dabei darf man jedoch die herausgehobene Stellung des Kaisers nicht vergessen, den man zwar aus der operativen Kriegführung erfolgreich herausgedrängt hatte, der jedoch stets das letzte Wort bei strategischen, d.h. politischen Fragen hatte. Bis kurz vor Kriegsende wagte niemand, das kaiserliche Wort ernsthaft anzuzweifeln, und Kaiser Wilhelm II. war leider ein nicht mit übermäßigen intellektuellen Gaben gesegneter Mann, fühlte sich stattdessen aber als militärischer Nachfolger Friedrich des Großen und neigte im Zweifel zu den Argumenten der Militärs und deren Wunschdenken.
In weiteren Kapiteln geht Münkler auf den Alltag in der Truppe – bis hin zu Unterständen, Latrinen und Bordells -, auf die sich verschärfende Versorgungslage im Reich und die abnehmende Kriegsbegeisterung der Bevölkerung ein. Auch wirtschaftliche Überlegungen hinsichtlich der Produktion von Kriegsgütern, der Beschaffung von Rohstoffen und vor allem von Arbeitskräften nehmen einen großen Raum ein. Die hohen Verluste an allen Fronten hatten die männliche Bevölkerung stark dezimiert und erforderte täglich schwere Entscheidungen zwischen Produktion, Logistik, kämpfender Truppe und Landwirtschaft. Der zunehmende Einsatz von Frauen konnte die Lücken nur teilweise schließen, weil dann deren typische Tätigkeiten vermindert wurden. Auf diesen Weise bluteten die kriegführenden Ländern buchstäblich aus.
Zum Schluss geht Münkler noch auf Wilsons „14 Punkte“ und deren Schicksal bei den Verhandlungen in Compiègne und auf die Unversöhnlichkeit der Entente-Mächte ein, die nach so einem langen Krieg auf Seiten der Sieger zwar verständlich aber politisch unklug war. Mit der Planung der „letzten großen Schlacht“ bei Ludendorff und Hindenburg, dem Versuch der Marine, ihr angekratztes Renommeé mit einem Selbstmordeinsatz an der flandischen Küste aufzubessern, und der Meuterei der Marine beginnt dann das Ende des Krieges, das Münkler naoch einmal haarklein mit seinen innenpolitischen Schuldzuweiseungen zwischen Militär, Politik und Kaiser beschreibt. Am Ende blieb der neuen deutschen Regierung nichts anderes, als die Friedensbedingungen zu unterschreiben. Damit war die Dolchstoßlegende geboren und der Grundstein für die bürgerkriegsähnlichen Unruhen bis 1923 gelegt – von der späteren Katastrophe ganz zu schweigen.
Im letzten Kapitel untersucht Münkler wie in einem Epilog die historische und geistesgeschichtliche Wirkung des Ersten Weltkriegs, der für Frankreich immer noch der „große Krieg“ und Beginn allen Unheils ist, während in Deutschland der Zweite Weltkrieg den Ersten in der Wirkung überlagert. Er zeigt deutlich, dass das Ende des Ersten Weltkriegs auch das Ende einiger großer Reiche war: Die Türkei und Österreich-Ungarn als Großmächte buchstäblich aufgelöst, Deutschland stark gestutzt, Frankreich und England so stark geschwächt, dass sie in Folge nicht nur Stück für Stück ihre Kolonien sondern auch ihren Weltmachtstatus verloren. Russland verschwand sogar für gut zehn Jahre von der weltpolitischen Oberfläche, um dann jedoch umso kompromissloser wieder aufzutrumpfen. Der einzighe Gewinner des Ersten Weltkrieges waren die USA. Auch Deutschlands prekäre Stellung in der „geopolitischen Mitte“ beleuchtet Münkler unter verschiedenen Perspektiven und zeigt, dass eine solche Stellung höchste staatsmännische Klugheit erfordert, wie sie vielleicht ein Bismarck besessen hat. Heute sieht er in weltpolitischem Maßstab China in einer ähnlichen Situation wie Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg: erfolgreich und hungrig nach weiterem Erfolg, militärisch selbstbewusst bis an den Rand der Aggression und weltpolitisch mit den Muskeln spielend. Daraus zieht er jedoch keine fatalistischen Schlüsse, da sich für ihn Geschichte nicht einfach wiederholt sondern in ähnlichen Fällen ganz andere Entwicklungen nehmen kann.
Münkler hat mit diesem Bucb ein umfangreiches Werk vorgelegt, dass auf jegliches Pathos, auf einseitige Schuldzuweisungen und auf den moralischen Zeigefinger verzichtet. Er vertraut ganz auf die Wirkung der Fakten, wie er sie recherchiert hat, und weist schuldhaftes Verhalten eher als menschliche und intellektuelle Schwäche sowie als Folge historischer Stimmungen aus denn als individuelle oder nationale Bosheit. In diesem Sinne ist dieses Buch über den Ersten Weltkrieg ein Buch für den Frieden.
Das Buch ist im Rowohlt-verlag unter der ISBN 978-3-87134-720-7 erschienen, umfasst 915 seiten (davon über 100 Seiten Anmerkungen) und kostet 29,55 €.
Frank Raudszus
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