John Dew feiert seinen Abschied von Darmstadt mit Puccinis Opern-Trilogie „Il trittico“.
Im September 2004 gab John Dew seinen Einstand als Intendant und Opernregisseur am Staatstheater Darmstadt mit Monteverdis „Orfeo“. Nach zehn Jahren beendete er die „Ära Dew“ wiederum mit einem italienischen Opernkomponisten, diesmal aber mit dem dreihundert Jahre jüngeren Giacomo Puccini. Für seine „Dernière“ in Darmstadt hatte er die Trilogie „Il trittico“ offensichtlich ganz gezielt ausgewählt. Denn diese drei wohl aufeinander abgestimmten Einakter enthalten alles, was die Oper üblicherweise bietet: dramatische Gefühle wie Liebe, Hass und Eifersucht, Unterdrückung der Menschlichkeit sowie leidende Demut und als Gegensatz die grelle Komödie mit Satire und subersivem Witz. Man kann durchaus sagen, dass John Dew mit dieser „Dreifaltigkeit“ der Oper nicht nur einen Querschnitt der Welt des Musiktheaters geboten hat sondern auch ein Resumeé seines Schaffens in diesem Bereich. Denn wie man hört, wird John Dew in den Ruhestand gehen und – wenn überhaupt – höchstens hier und da noch einmal eine Inszenierung „zum Spaß“ übernehmen.
„Il trittico“ besteht aus drei unabhängigen Einaktern, die auf den ersten Blick nichts miteinander gemein haben, bei genauerem Hinschauen jedoch eine wohldurchdachte Gesamtkomposition darstellen, ähnlich einem klassischen Konzert. Der erste Satz, die Kurzoper „Der Mantel“, bringt alle Themen – sprich:Emotionen – auf den Tisch und stimmt das Publikum auf die großen Gefühle der Oper ein. Der zweite – „Suor Angelica“ – führt sie tief hinab in das Leid des Individuums, in Demütigung und Entsagung, in eine Katharsis. Aus dieser erlöst sie der komödiantisch übersprudelnde und lebenspralle dritte Satz, hier „Gianni Schicchi“.
Der Titel „Der Mantel“ führt im Grunde genommen in die Irre, da der Mantel des Michele nur eine untergeordnete Rolle spielt. Giorgetta betreibt zusammen mit Michele einen Lastkahn, mit dem sie in Frankreich schwere Lasten auf den Flüssen transportieren. Zu den schwer arbeitenden Lastenträgern gehört auch Luigi, in den sich Giorgette verliebt hat, da er wie sie aus Paris kommt, wo sie eine glückliche Kindheit verbracht hat. Michele kommt hinter die Liebschaft, bringt Luigi aus rasender Eifersucht um und hält den Erdrosselten unter seinem Mantel verborgen, bis Giorgetta erscheint. In diesem Augenblick fällt der tote Luigi aus dem Mantel.
Außer der Titelfrage wartet das Libretto – wie in so mancher Oper – noch mit einigen anderen Ungereimtheiten auf. Immer wieder beklagen die Arbeiter das schwere Leben des Lastenträgers und träumen von einem angenehmen Leben und einem Häuschen im Grünen. Es bahnt sich kurz ein sozialrevolutionäres Drama an, das dann aber nicht weiter verfolgt wird. Ebenso erinnern sich Giorgetta und Michele einmal an ihr gestorbenes Kind, aber auch dieser Aspekt wird nicht zum zwingenden Grund für das Ende ihrer Liebe verarbeitet. Puccini und sein Librettist Giuseppe Adami haben hier einfach einen Potpourri aus sicheren Tränenreizen zusammengestellt, der sich dann auch bewährt hat. Man muss sich stets vor Augen halten, dass die Oper im 19. Jahrhundert für das heutige Trio Kino, Fernsehen und Internet stand.
Die Darsteller – Anja Vincken als Giorgetta, Tito You als Luigi und Joel Montero als Luigi – können hier alle Register der großen Gesten und des dramatischen Gesangs ziehen und tun das auch mit sichtlicher Freude. Anja Vincken steht lange als Scharnier zwischen Michele, Luigi und den Arbeitern im Mittelpunkt der Handlung und kann sich stimmlich wie darstellerisch ausleben. Tito You spielt anfangs den maulfaulen, bereits latent eifersüchtigen Michele, ehe er in einem Ausbruch von Eifersucht dramatische Höhen erklimmt. Joel hat von diesen dreien die undankbarste Rolle, weil sein Luigi als Arbeiter und heimlicher Liebhaber im Hintergrund bleiben muss und nur als Katalysator des Konflikts fungiert.
Heinz Balthes hat dazu ein Bühnenbild geschaffen, dass einen veristischen Lastkahn unter einer breiten Flussbrücke zeigt. Die Beleuchtung machte daraus ein Vexierbild, bei dem man den dunklen Nachthimmel links und rechts des Brückenbogens als schwarze Berghänge und den Brückenbogen als erleuchteten Nachthimmel und Fluss interpretieren kann. Beabsichtigt war das sicher nicht, doch solche Vexierbilder prägen sich ins Gehirn ein und verstärken den Gesamteindruck.
„Suor Angelica“ beginnt mit der orchestralen Nachbildung von Glockengeläut zum Gebet der Nonnen im Kloster. Zu ihnen gehört Angelica, die als Tochter des Hochadels nach einer vorehelichen Schwangerschaft hierher verbannt wurde. Seit sieben Jahren wartet sie auf eine Nachricht von ihrer Familie, vor allem von ihrem kleinen Sohn, den sie nur unmittelbar nach der Geburt gesehen hat. Als ihre Tante eintrifft, keimt Hoffnung in Angelica auf, doch die Tante will nur ihre Unterschrift unter den Erbverzicht zugunsten von Angelicas Schwester. Auf die Frage nach ihrem Sohn erhält Angelica die trockene Antwort, dieser sei vor einigen Jahren an einer schweren Krankheit gestorben. Der Zuschauer mag spekulieren, ob dies als Tatsache oder nur als infame Methode der Familie gemeint ist, das Thema ein für allemal zu beenden. Schwester Angelica trinkt daraufhin Gift, nicht ohne im letzten Augenblick mit Entsetzen festzustellen, dass sie damit eine Todsünde begeht. Zu spät – sie stirbt mit dem Flehen um Gnade auf den Lippen.
Die Bühne ist in dieser Oper extrem einfach gehalten und besteht weitgehend aus den weiß gewandeten Nonnen selbst. Dazu prangt eine Marien-Monstranz mitten auf der Bühne, die je nach Situation dramatisch wirksam ausgeleuchtet wird. In der Sterbeszene leuchten sie als Zeichen der Vergebung geradezu himmlisch. Doch Puccini thematisiert in diesem Einakter nicht nur Demut und Katharsis sondern klagt vor allem die inhumanen Unterdrückungsmechanismen der Kirche und der herrschenden Oberschicht an, die ja lange Zeit deckungsgleich waren. Hier ist die Äbtissin nicht viel besser als die herrische Tante und dient sich dieser sogar bei Angelicas Unterschrift an. Diese Oper ist ein gutes Beispiel dafür, wie man auch in Zeiten der – expliziten oder impliziten – Zensur durch Bühnenhandlung und Musik Kritik an den herrschenden Verhältnissen üben kann. Man kann davon ausgehen, dass das Publikum zu Puccinis Zeiten nicht nur tiefes Mitleid mit Angelica sondern auch einen gehörigen Groll für Kirche und Adel empfunden hat.
In der Hauptrolle der Angelica brilliert Susanne Serfling. Ihr zur Seite singen und spielen Yanyu Guo als fürstliche Tante und Elisabeth Hornung als Äbtissin auf Augenhöhe. Martin Lukas Meister und das Orchester verzichten daher auch auf zu gefühlsbetonte Klänge und betonen eher den kritischen Aspekt dieses Musikdramas. Zwar machen sie daraus kein aufrührerisches Werk, doch der Protest brodelt still und tief in den Akkorden und entfaltet von dort seine Langzeitwirkung.
Aus diesen Niederungen der Hoffnungslosigkeit geht es dann in das sprudelnde Jetzt der Gegenwart. In „Gianni Schicchi“ betrauert eine schrille Gesellschaft von Erbschleichern den Tod des Vetters Buoso nur heuchlerisch, im Stillen schon auf die Landgüter schielend. Als sich das Gerücht bestätigt, Buoso habe alles der Kirche vermacht, suchen die entsetzten Verwandten nach einer Lösung. Der pfiffige Rinuccio kommt auf die Idee, den listigen Gianni Schicchi zu holen, dessen Tochter er gerne heiraten möchte. Gianni schlägt vor, erst dem alten Arzt einen noch lebenden Buoso vorzuspielen – was dank Giannis Schauspielkünsten gelingt – und dann das Kunststück vor einem Notar mit einer neuen Testamentsverfügung des angeblich sterbenden Buoso zu vollenden. Gesagt, getan: Gianni vermacht – als Buoso! – die weniger wertvollen Güter den Verwandten des in den hinteren Räumen bereits erkaltenden Buoso und die Filetstücke – dessen angeblichem alten Freund Gianni Schichi! Kaum sind der Notar und die Zeugen gegangen, jagt Gianni Schicchi die schimpfenden Verwandten aus dem nun ihm gehörenden Haus, und Rinuccio kann Giannis Tochter Lauretta heiraten.
In diesem Einakter konnten sich vor allem Bühnenbildner Hainz Balthes und der für die Kostüme verantworliche José-Manuel Vázquez austoben. Balthes hat ein herrschaftliches, holzgetäfeltes Zimmer mit vielen Schränken und dem zentralen Alkoven des sterbenden Buoso auf die Bühne gestellt, das überdies noch viel Platz für die aufgeschreckte Erbengemeinde bietet. Vázquez hat diese in schrille Renaissance-Kostüme gesteckt, die jedes für sich schon eine Parodie sind. Überdies hat er ihnen allen lange Kunstnasen aufgesetzt, was man getrost als Metapher darauf deuten kann, dass Gianni Schicchi ihnen allen „eine lange Nase dreht“. In diesen verrückten Kostümen springen die Darsteller der Erben -Yanyu Guo, Arturo Martin, Anja Vincken, Peter Koppelmann, Oleksandr Prytolyuk und Anjka Vincken, um nur einige zu nennen – nach allen Regeln der Kunst als mal freudetrunkene und dann wieder entsetzte Erbschleicher über die Bühne, zerzanken sich, fallen sich gegenseitig in die Arme oder brüten dumpf vor sich hin. Fast das gesamte Opernensemble steht in diesem „Finale“ auf der Bühne und lebt sich dort noch einmal richtig aus. Ein würdiges und schließlich gar nicht so melancholisches Ende einer langen Ära, die viele aufregende, bejubelte aber auch umstrittene Inszenierungen gebracht hat. Das Orchester unter Martin Lukas Meister setzte noch einen drauf und schärfte Puccinis erstaunlich moderne Musik parodistisch und geradezu satirisch zu, so dass es eine Freude war, diesem Spektakel zu folgen. Kurz vor dem Schlussakkord sprang dann plötzlich John Dew mit Mikrophon auf die Bühne, als sei irgendetwas passiert, aber es ging nur um die effektvolle Einleitung seiner Abschieds- und Dankesworte an das Ensemble und an das Publikum, die dann in einen langen, begeisterten Schlussapplaus mündeten.
Ende gut, alles gut – ließe sich nach dieser „Dernière“ der Ära John Dew sagen.
Frank Raudszus
Alle Fotos (c) Barbara Aumüller
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