Am nächsten Tag soll ein weiterer Anstieg um 700 Höhenmeter zu der Station Tadapani erfolgen. Als es am Nachmittag nach dem Anstieg über 8000 Stufen kräftig zu gewittern beginnt, stellt sich die Frage, ob die geplante Bergwanderung in dieser Form stattfinden können wird. Als Alternative bietet sich eine maximal zwei Stunden dauernde Rundwanderung an. Einige in der Gruppe hoffen nach dem langen Tag heute sicherlich, dass es morgen regnen möge, um der eigenen Entscheidung über die Teilnahme an der großen Wanderung enthoben zu sein. Doch am nächsten Morgen klopft unser Reiseleiter bereits am halb sechs an alle Türen, weil der Gipfel des Annapurna in der Morgensonne erglüht. Nach ausgiebigem „Fotoshooting“ und einem kräftigen Frühstück auf der Terrasse im Angesicht des Annapurna-Massivs und bei Sonnenschein zeigt sich, dass jeder die Entscheidung für sich selbst treffen muss, denn das sonnige Wetter bietet kein Alibi mehr.
So steht denn die Gruppe um neun Uhr vollzählig und mit Rucksäcken bestückt vor den Unterkünften. Die Träger haben heute frei, da wir am Nachmittag wieder in unsere Lodge zurückkehren. Sie haben es nach dem gestrigen Aufstieg über 8000 Stufen wirklich verdient. Der Himmel hat sich mittlerweile bewölkt, aber nach Regen sieht es nicht aus. So geht es denn hinter unserer Lodge wie gestern im Gänsemarsch die Stufen hinauf. Jeder schaut wieder auf den Weg vor sich, und die anfangs noch lebhaften Gespräche verstummen nach einer halben Stunde , denn der Weg führt in steilen Kurven hinauf durch mal dichten, mal lockeren Wald. So mancher, der gewohnt ist, dass bei uns in Europa oberhalb 2000 Metern Höhe nur noch Gras, Felsen und niederes Gestrüpp die Landschaft prägen, wundert sich über die üppige Vegetation auf dieser Höhe, bis man sich klarmacht, dass auf einer geographischen Breite von etwa 27 Grad ganz andere Verhältnisse herrschen als bei 54 Grad.
Nach etwa zwei Stunden auf einem ansteigendem Weg entlang lang gezogener Hänge erreichen wir die angekündigten Rhododendron-Wälder. Eine Pflanze, die bei uns etwa die Größe eines ausgewachsenen Menschen erreicht, streckt sich hier zwanzig bis dreißig Meter in die Höhe, und in der Blütezeit begrüßt den Bergwanderer hier ein Blütenmeer. In diesem Jahr ist die Blüte jedoch aus mehreren Gründen geringer ausgefallen, und außerdem haben verschiedene Bewohner des Waldes die Vorräte bereits zu Nahrungszwecken geplündert. Einen Teil der Übeltäter entdecken wir denn auch in den Bäumen: ganze Affenfamilien mit hellbeigem Fell und schwarzen Gesichtern bevölkern hier den Wald, gehen aber den Wanderern lieber aus dem Weg. So machen wir uns einen Sport daraus, die scheuen Tiere zwischen den Ästen zu entdecken und uns gegenseitig zu zeigen.
Mangels größerer Nähe zu den Baumbewohnern setzen wir unsere Wanderung fort, die nun hoch am Berg etwa angenehmer weil ebenerdiger verläuft. Die Anstiege – und unvermeidlichen Abstiege – halten sich in Grenzen, so dass die Gespräche über Gott und die Welt wieder aufleben. Das Schöne an dieser überschaubaren Gruppe ist, dass man schon nach wenigen Tagen alle gut kennt und während der Wanderung zwanglos den Gesprächspartner wechseln kann. Wer gar keine Lust zum Reden hat, kann auch gerne selbstversunken vor sich hinwandern und sich nach einiger Zeit wieder einem Mitwanderer anschließen. Themen gibt es genug, seien es private, berufliche aus dem heimatlichen Leben oder Anmerkungen und Gedanken zu dem Land, in dem wir uns derzeit befinden. Hier oben finden sich auch keine Dörfer mit Landwirtschaft mehr. Dazu ist es offensichtlich zu unwirtlich, vor allem im Winter. Jetzt im Frühjahr wandert es sich hier jedoch sehr angenehm, und längst haben wir die Tatsache zu schätzen gelernt, dass heute die Sonne nicht scheint. So wandert es sich ohne den Schweiß auf der Stirn, den wir gestern noch unablässig abgewischt haben.
Nach vier Stunden erreichen wir unser Ziel, die kleine Siedlung Tadapani, die eher wie ein Lager für professionelle Bergwanderer als wie ein nepalesisches Dorf anmutet. Der kleine Ort wird geprägt von Unterkünften für Wanderer, Souvenirläden und einfachen Restaurants. Gourmet-Küche ist hier oben nicht angesagt; hier füllt man seine Vorräte auf und übernachtet vielleicht noch einmal vor dem weiteren Aufstieg ins richtige Gebirge.
Wir aber wollen nicht weiter hinauf, sondern stärken uns erst einmal mit einer heißen Suppe und unserem Lunch-Paket, bevor wir uns wieder an den Rückmarsch machen. Das Wetter sieht nach wie vor etwas instabil aus, und man muss im Laufe des Nachmittags wieder mit Regen oder gar Gewitter rechnen. Von dem Annapurna-Panorama haben wir heute nicht so viel gesehen, einerseits wegen der bewaldeten Strecke entlang des Hans unterhalb des Massivs und andererseits wegen des Wetters. Aber das macht uns nichts aus, denn sicher werden sich noch großartige Ausblicke auf die Berge eröffnen.
Dafür geht es beim Abstieg wieder einmal über eine moderne Hängebrücke über einen steil ins Tal abstürzenden Gebirgsbach, den man sich in der Regenzeit als Wasser- und Schaum speiendes Monstrum vorstellt. Dann kommen wir durch ein Gurung-Dorf, das mit seinen grauen Schieferdächern und der einheitlichen Architektur einen von westlichen Einflüssen weitgehend unberührten Eindruck macht. Langsam schlendern wie durch die engen Gassen des Dorfes, begegnen Kindern, die ihre Hände nach Süßigkeiten ausstrecken – man sollte doch immer etwas einstecken! – und erleben schließlich eine Szene, in der eine alte, offensichtlich kranke Frau in den Korb eines Trägers gesetzt und von diesem unter Anteilnahme der Dorfbevölkerung zum Arzt ins Tal getragen wird. Man muss sich die Situation einmal als Mitteleuropäer klarmachen, dass hier Kranke mit Menschenkraft über Tausende von Stufen den Herg hinunter geschleppt werden. An echte Notfälle darf man da gar nicht denken. Offensichtlich muss man hier schon sehr gesund sein, um zu überleben. Aber das einfache, von harter Arbeit geprägte Leben mit gesunder Ernährung trägt wohl viel dazu bei, dass die Menschen selten krank werden.
Kurz vor dem Ende unserer Tageswanderung kommen wir noch an einer Baustelle vorbei, an der zwei Arbeiter aus eigener Kraft ein Gerüst erstellen, vielleicht einen Unterstand für das Vieh. Die Pfosten und Verstrebungen bestehen aus ganzen Baumstämmen, und oben drauf liegt ein besonders dicker Baumstamm, in dem eine große Säge mit Griffen an den Enden steckt. Motorsägen gibt es hier oben nicht, weil der dafür benötigte Kraftstoff Geld kostet und außerdem auf dem Rücken von Mulis oder Männern hochgetragen werden müsste. So wird hier noch wie in vorindustriellen Zeiten mit reiner Körperkraft gebaut. Die körperlichen Belastungen sind entsprechend hoch, da ja auch die Baumstämme erst – und oft illegal! – aus dem Hochwald herangeschafft werden müssen. Das gilt auch für die Frauen, die den ganzen Tag auf dem Feld Unkraut jäten, Setzlinge pflanzen oder Früchte ernten, wobei Kinder aller Größenordnungen um sie herum spielen. Dabei müssen die Dreijährigen bereits auf die Säuglinge aufpassen, und Vorschulkinder tragen Kleinkinder mit sich herum. Auf der anderen Seite leiden die Menschen aufgrund der Arbeit an der frischen Luft zumindest nicht an unseren typischen Zivilisationskrankheiten, etwa der falschen oder zu reichhaltigen Nahrung. Und das ist durchaus nicht zynisch gemeint, denn genug zu essen gibt es hier schon; nur Fleisch ist eine Seltenheit, da die Tiere für die Produktion von Milch oder – wie der Wasserbüffel – für schwere Arbeiten benötigt werden. Die Hauptspeisen sind hier Reis, Mais und Gemüse aller Art.
Wir erreichen unsere Lodge noch rechtzeitig vor Einsetzen des in dieser Höhe üblichen Nachmittagsgewitters und lassen das Unwetter im Schutz der gemütlichen Unterkunft auf uns wirken. Abends dann trifft man sich wieder zur „Happy Hour“ im Speisesaal und lässt den Abend mit Erinnerungen an die Erlebnisse des Tages ausklingen.
Der nächste Tag begrüßt uns wieder mit dem Traum-Panorama des Annapurna. Dazu weckt uns unser Reiseleiter bereits um halb sechs, da um diese Zeit die ersten Sonnenstrahlen den Gipfel des Annapurna erreichen. Langsam wandert das rötliche Leuchten von der Bergspitze die Felswände und Schneehänge herunter, verbreitert sich und verblasst langsam zu einem warmen Gelb. Als es dann zum Frühstück auf die offene Aussichtsterrasse geht, hat der helle Morgen das Regiment übernommen, und das Bergmassiv prangt im hellen Weiß des ewigen Schnees und im Grau der Felsen vor einem stahlblauen Himmel.
Doch genug der Bergmajestät. Heute geht es zurück zur „Sanctuary Lodge“ im Tal, von der wir vor zwei Tagen aufgebrochen sind, um den Aufstieg über 8.000 Stufen zu bewältigen. Dazu wählen wir wegen der Abwechslung eine etwas abgeänderte Route, die jedoch ebenfalls viele Stufen enthält. Der Abstieg ist – wie allgemein bekannt – durchaus nicht einfacher als der Aufstieg, eher umgekehrt. Zwar entfällt die körperliche Anstrengung der Überwindung der Schwerkraft, dafür fällt der Körper bei jedem Schritt abwärts in die Gelenke und Schienbeine, und man muss noch mehr auf nasse oder lose Steine aufpassen, weil ein Sturz beim Abstieg wesentlich unangenehmer als beim Aufstieg ist. Doch in unserer Gruppe sind alle bergerfahren und körperlich belastbar und achten genau darauf, wohin sie ihre Füße setzen. So kommt es auch – von kleineren Ausrutschern abgesehen – zu keiner kritischen Situation.
Auch auf dieser Wanderung kommen wir wieder durch eine Anzahl kleiner Ansiedlungen, in denen das Vieh frei herumläuft oder im Joch steht, in denen die Kinder uns in Scharen folgen und um Süßigkeiten oder Geld betteln. Zwar betrachtet man mit unserem westlichen Gesundheitsbewusstsein Süßigkeiten gerne als Teufelszeug für Zähne und Gewicht, aber wenn man dann mit Gummibärchen einige Kinder glücklich machen kann, kommt doch kurzfristig ein gutes Gefühl auf. Weiter geht es zu einer Schule, die hier von einer Schweizer Hilfsorganisation gebaut worden ist und auf einer Terrasse mit einem traumhaften Blick ins Tal steht. Die Schule beginnt in wenigen Tagen wieder, und Kinder aller Altersklassen vertreiben sich auch außerhalb der Schulzeit die Zeit auf dem Schulhof und begrüßen uns mit großem Interesse. Da die Schule geöffnet ist, können wir den kärglichen Innenraum – vier weiß gekalkte Wände, einige Bänke und Tische, eine Tafel – besichtigen, und ein Mitglied unserer Gruppe, von Beruf Lehrerin, improvisiert eine kleine Unterrichtseinheit mit den Zahlen Eins bis Zehn auf Deutsch, die bei den Kindern große Begeisterung auslöst. Ehe wir den Schulhof verlassen, füllen wir noch eine Spendenbox auf, deren Inhalt für den weiteren Ausbau und die Erhaltung der Schule dringend notwendig ist.
Schließlich erreichen wir wieder die Straße, die uns zur „Sanctuary Lodge“ führt, wo wir wir zwei Tage vorher unser Gepäck gelagert haben. Jetzt beziehen wir wieder unsere alten Zimmer und genießen einen geruhsamen Nachmittag auf der Liegewiese vor der Lodge bei Tee, Gebäck und entspannter Lektüre. Der Abend beginnt dann wieder mit der obligatorischen „Happy Hour“ und endet mit einem ausgedehnten Abendessen und aufgeräumten Gesprächen.
Der nächste Tag führt uns noch einmal den Hang hinauf, den wir am ersten Tag hinabgestiegen sind, jetzt aber mit etwas anderer Richtung. Zwar geht es auch jetzt aufwärts, die meiste Zeit jedoch auf moderaten Wegen, die nicht über endlose Felstreppen sondern in gemächlichen Kurven aufwärts führen. Der umgebende dichte Wald schluckt ein wenig die sommerliche Wärme, so dass sich der Schweiß der Anstrengung in Grenzen hält, und es bieten sich Gelegenheiten nicht nur zu schönen Aussichten und Fotostrecken sondern auch zu längeren Gesprächen, da kein steiler Aufstieg den Atem raubt. Gegen Mittag erreichen wir dann den höchsten Punkt dieser Tageswanderung, der sich auf einem kleinen Plateau mit einem Traumblick auf die östliche Himalaya-Kette befindet und auch ein einfaches gastronomisches Angebot mit umfangreichem Souvenirteil enthät. Sage keiner, die Nepalesen seien nicht geschäftstüchtig. Dicht am gut bevölkerten Wanderweg bieten sie auf ihren Ständen Stoffe, Tücher, Schmuck und allerlei Folkloristisches an. Vor allem die Frauen bleiben hier gerne stehen und können sich kaum wieder losreißen. Nach dieser wohlverdienten Mittagspause geht es in lang gezogenen Kurven am Hang entlang nach unten, und am frühen Nachmittag treffen wir in unserer letzten Lodge dieses Trekking-Ausflugs ein.
An diesem Abend verabschieden wir unsere Träger, die uns vier Tage lang das Gepäck bergauf, bergab getragen haben, ohne mit der Wimper zu zucken. In großen Körben trugen sie unsere Taschen auf dem Rücken und sicherten es mit einem Stirnband gegen das Überkippen nach hinten ab. Als Mitteleuropäer kann man es sich kaum vorstellen, das Gepäck von drei Reisenden – zwei Touristen und der Träger selbst – auf dem Rücken tausend Höhenmeter hinauf und später wieder hinunter zu schleppen, und jeden von uns beschleicht ein wenig das schlechte Gewissen. Wir beruhigen diese unangenehmen Gefühle mit der Feststellung, dass die jungen Männer damit wenigstens ein Einkommen haben, das sie sonst nicht hätten. Denn irgendeine Ausbildung haben sie nicht. Sie kommen meist aus kinderreichen Familien und haben keine oder nur eine sehr rudimentäre Schulbildung genossen. Sie sind durch ihre Arbeit als Träger konditionell gestärkt und machen nie den Eindruck, am Ende ihrer Kräfte zu sein. An diesem Abend danken wir ihnen für ihren Einsatz mit einem Geschenk, und sie bedanken sich mit einigen Tänzen und Gesängen aus ihrer Heimat dafür, dass sie mit ihren Diensten für uns zum Lebensunterhalt ihrer Familien beitragen konnten. Der Abend entwickelt sich zu einem spontanen Tanzgelage, bei dem die Mitglieder unserer Reisegruppe ungeahnte Tanztalent zeigen, motiviert und angefeuert von unseren Trägern. Wir genießen diesen letzten Abend mit den Trägern, die uns richtiggehend ans Herz gewachsen sind, denn morgen werden sie uns nicht auf unserer letzten Wanderung begleiten sondern das Gepäck auf einer direkten Route zu dem Bus bringen, der uns zurück zum Flughafen von Pokhara bringen wird.
Frank Raudszus
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