Im Rahmen der Maifestspiele zeigt das Staatstheater Wiesbaden Hans-Werner Henzes Oper „Elegie für junge Liebende“.
Die auf eine 118jährige Tradition zurückblickenden Wiesbadener Maifestspiele begannen in diesem Jahr mit den üblichen Ansprachen der einschlägigen Honoratioren und einem Auftritt des georgischen Rustavi-Chores, der einen kleinen Vorgeschmack auf die Stimmgewalt dieses Ensembles zum Besten gab. Anschließend eröffnete Hans-Werner Henzes Oper „Elegie für junge Liebende“ in einer Inszenierung des Staatstheaters Wiesbaden den künstlerischen Teil der Festspiele.
In der klassischen Oper spielen die Texte meist eine untergeordnete Rolle. Im Mittelpunkt stehen letzte Wahrheiten und elementare Gefühle, und die Handlung erklärt sich mehr oder minder aus sich selbst. Zwar hat bereits Richard Wagner versucht, seinen Texten tiefere Bedeutung mitzugeben, aber leider verfehlen sie – nicht zuletzt wegen der schwülstigen Stabreime – meist ihre intendierte Wirkung. Humor kommt in der Oper selten vor, und wenn, dann eher in der leichten Version der Operette. Gesellschaftspolitische Satire mit kabarettistischem Einschlag findet man dagegen in der Oper selten. Das liegt auch daran, dass das Publikum in der Oper stets die großen Gefühle, die einprägsamen Themen und die schönen Stimmen gesucht und eine kopfgesteuerte Gesellschaftskritik eher abgelehnt hat.
Hans-Werner Henze (1926-2012) hat diese unausgesprochene Konvention nicht nur hinterfragt sondern in seiner Oper „Elegie für junge Liebende“ auch gegen den Strich gebürstet. Das Libretto ist eher ein konsistent durchstrukturiertes Kammerspiel mit Musik denn eine typische Opernvorlage. Es geht in erster Linie um die psychologischen Beziehungen und Verirrungen innerhalb einer kleinen Gruppe von Menschen, die aufeinander angewiesen sind. Dazu zieht Henze die beliebte Metapher des einsamen Berggasthofs heran, die von Literaten vom Agatha Christie bis Thomas Mann gerne als Bild der unvermeidlichen Nähe und gegenseitigen Abhängigkeit für solche Studien genutzt wird. Auch die Szenen sind kammermusikalisch aufgebaut und drehen sich meist um das Verhältnis von je zwei der Protagonisten, wobei sich die Konstellation in zugespitzten dramatischen Situation auch auf drei oder mehr Teilnehmer ausdehnen kann.
Im Mittelpunkt der Oper steht der Künstler als Fluchtpunkt und Exponat der Gesellschaft. Henze, selbst Künstler, geht dabei mit dem großen Individuum schonungslos ins Gericht. Die Egomanie des „Genies“ steht dabei genauso zur Diskussion wie seine Skrupellosigkeit seinem Umfeld gegenüber, die sich auf die gerade von seiner Umgebung gezeigte Verehrung beruft. Die menschlichen Gesetze gelten nicht für den großen Künstler – lautet die unterschwellige Botschaft, und die Gesellschaft ist an dieser Einschätzung fast ebenso schuld wie der größenwahnsinnige Dichter.
Der Dichter Gregor Mittenhofer sucht auf einem einsamen Berggasthof nach Inspirationen. Dabei soll ihm die psychisch gestörte Witwe Hilda Mack helfen. Seit sie vor vierzig Jahren nach der Hochzeitsnacht ihren Mann verlor, der ihr vom nahen Berg ein Edelweiß bringen wollte und nie zurückkehrte, hat sie den Bezug zur Realität verloren und sieht ihren Mann in wechselnden Visionen zurückkehren. Mittenhofer hängt wie ein Vampir an ihr, um die plötzlich auftretenden Visionen förmlich aus ihr herauszusaugen. Ihm zur Seite steht seine Sekretärin, die Gräfin von Kirchstetten, die ihr Leben ganz in den Dienst des großen Dichters gestellt hat und in ihrem Herzen wohl auch noch andere Hoffnungen hegt. Doch Mittenhofer behandelt sie wie einfaches Dienstpersonal, beschimpft sie bei kleinsten Fehlern und treibt sie in fast existenzielle Verzweiflung. Auch der Arzt Dr. Reischmann hängt in einer nicht ganz durchschaubaren psychischen Abhängigkeit an Mittenhofer. Seit dem Tod seiner Frau hat er seine Lebensmitte verloren und sich auf die im Grunde genommen frustrierende Funktion des persönlichen Leibarztes Mittenhofers zurückgezogen. Seine bisweilen vorsichtigen aber deutlichen Annäherungsversuche an die Gräfin nimmt diese noch nicht einmal zur Kenntnis. Die Situation auf dem Berghof erweist sich bereits als spannungsgeladen und fast explosiv, bevor noch der große Dichter selbst erschienen ist. Mit ihm tritt dann auch seine Geliebte und „Muse“ Elisabeth auf.
Die Handlung nimmt in dem Augenblick Fahrt auf, als Dr. Reischmanns Sohn Toni eintrifft, ein maulfauler, unsicherer junger Mann, der offensichtlich unter dem Tod der Mutter und dem väterlichen Desinteresse stark gelitten hat und dies auch deutlich zeigt. Er verliebt sich in Elisabeth und diese sich – mangels junger männlicher Alternativen – in ihn. Parallel dazu gibt der Gletscher eine Leiche frei, in der man bald Hilda Macks seit vierzig Jahren verschollenen Bräutigam erkennt. Die neu erwachte Liebe – in der zweifachen Form zwischen zwei jungen Menschen sowie dem Wiedererwachen nach jahrzehntelanger Trennung – lässt die fragile Konstellatiion der Beziehungen dramatisch kippen. Hilda Mack findet plötzlich wieder in die Realität zurück, angelt sich sogar einen jungen Liebhaber und sagt allen Anwesenden ihre psychischen Defekte auf den Kopf zu, vor allem „in absentia“ dem blutsaugerischen Visionen-Ausbeuter Mittenhofer. Als dieser nach längerem Hin und Her feststellt, dass er seine Geliebte gegen den jungen Rivalen nicht halten kann, spielt er den Großzügigen und gibt sie frei, allerdings mit der Bitte, ihm als letzten Dienst gemeinsam ein Edelweiß vom Berg zu holen. Eingedenk der Vorgeschichte um den verschollenen Bräutigam ist der Hintergedanke nicht zu übersehen: Mittenhofer hofft auf die Mithilfe des Wetters, und so kommt es auch. Kurz nach dem Abmarsch des jungen Paares kommt die Nachricht eines plötzlichen Wetterumsturzes, und eine dringende Anfrage nach eventuellen Bergtouristen seitens der lokalen Bergwacht beantwortet Mittenhofer kaltlächelnd mit „meines Wissens nicht“, wobei die Gräfin kurz zusammenzuckt, aber schweigt. Also nehmen die Dinge ihren tragischen Verlauf.
Henze hat diese bitterböse Geschichte um den skrupellosen Dichter als messerscharfes Musikdrama gestaltet. Die Texte sind für ihn so wichtig, dass er sie von den Sängern in einer Art Sprechgesang vorbringen lässt, der nicht den geringsten Verdacht des „Belcanto“ zulässt und den größten Wert auf Wortverständlichkeit legt. Ganz im Sinne seines Vorgängers Richard Wagner lässt er die Satzmelodie nicht musikalischen Eigengesetzlichkeiten sondern dem Sinn und dem emotionalen Gehalt der Sätze und Worte folgen. So findet sich eine Betonung im gesprochenen Text auch in der gesungenen Form wieder. Diese konsequent textorientierte Sprachmelodie führt dann über lange Strecken zu einer Art Sprechgesang, der entfernte Ähnlichkeit mit dem altbekannten Rezitativ aufweist, allerdings ohne dessen ritualisierte Form. Wie in vielen zeitgenössischen Opern üblich, liefert das Orchester dazu keine enge harmonische und melodische Gesangsführung, will sagen: die Sänger können sich bei ihrem Gesang nicht an der Orchesterbegleitung orientieren, sondern müssen ihren Part eigenständig gestalten. Das Orchester sekundiert in den meisten Fällen mit akkordischen Kommentaren oder vor- und nacheilenden Einsätzen, als wolle es das gesungene Wort ankündigen oder bestätigen. Gleichzeitigkeit von Stimme und Begleitung kommt zwar vor, ist aber durchaus nicht die Regel. Dieser Umstand und die nicht einem eingängigen Liedschema folgenden Gesangspartien machen es den Sängern ausgesprochen schwer und fordern ihr gesamtes melodisches und rhythmisches Können.
Henzes Betonung des Textes geht so weit, dass er auch ganze Passagen fast kabarettistisch organisiert. So regen sich zu Beginn die Gräfin und der Arzt gemeinsam über den Literaturbetrieb auf und liefern damit ein veritables Stück Kulturkritik. An einer anderen Stelle saugen Mittenhofer und die Gräfin der armen Hilda Mack förmlich die Worte aus dem Mund und bedrängen sie dabei auf fast schon menschenverachtende Weise. Die charakterlichen Abgründe des Helden malt Henze detailliert aus, wenn er Mittenhofer auf die drängende Fragen des jungen Burschen nach etwaigen Bergwanderern geradezu genüsslich nachdenken lässt, wobei ihm offensichtlich die praktische Entsorgung des renitenten Paares in voller Ausprägung durch den Kopf geht, bevor er seine mörderische Antwort in schönster Leutseligkeit gibt. Auch die so fatale wie sklavische Abhängigkeit der Gräfin und des Arztes arbeitet Henze im Text deutlich heraus und lässt dabei die beiden als mitleidlose wenn nicht gar asoziale Egozentriker erscheinen, denen es nur darum geht, vom Ruhm des großen Dichters zu zehren. Wahrscheinlich hat auch Henze mit wachsender Anerkennung ähnliche Erfahrungen gemacht und kennt die Versuchung für den so umgarnten Künstler.
Wenn Mittenhofer und die Gräfin nach dem Wetterumschlag zufrieden als letzte abreisen, könnte die Oper ihr Ende finden, ist doch alles gesagt und das junge Paar dem Tod geweiht. Doch er fügt noch einen längeren Epilog an, in dem er Toni und Elisabeth in hoffnungsloser Lage auf dem Berg zeigt. Dabei phantasieren sie sich ein langes Eheleben mit drei lebenden und einem gestorbenen Kind zuzsammen, ein Leben, in dem auch nicht alle Blütenträume gereift sind. Auch diese Ehe wäre also wieder von der Normalität eingeholt werden. Diese Szene berührt zwar in einigen Momenten, aber man fragt sich, ob sie notwendig für die Aussage des Stücks ist. Da ist der Schluss schon treffender, fügt er doch dem Ganzen eine bitter-ironische Schlusspointe an. Der große Dichter trägt vor großem Publikum, dargestellt durch das aktuelle Publikum, seine „Elegie für junge Liebende“ vor, deren von ihm verursachtes tragisches Ende ihm als Inspiration diente. Doch die Elegie ist stumm, wortlos, und nur die Stimmen der Protagonisten um den Dichter herum formen einen mehrstimmigen Klang- und Klageteppich.
Dietrich W. Hilsdorf hat die Oper konsequent als Kammerstück inszeniert. Das von Dieter Richter gestaltete Bühnenbild bleibt vom ersten bis zum letzten Bild unverändert. Vor einem überdimensionalen, felsig-unwirtlichen Bergpanorama sieht man das Foyer eines Berggasthofes mit dem Charme einer Bergbahnstation, mit einer Bar und einem metallenen Treppengeläuft quer über die Bühne. Nur die Beleuchtung ändert das Ambiente, und das Lichterspiel findet seinen Höhepunkt gegen Ende bei dem großen Unwetter, das vom Orchester realistisch in Töne umgesetzt und von blitzenden Lampen aller Art bis zur Apokalypse hochgetrieben wird. In diesem Bühnenbild lässt Hilsdorf die Darsteller sehr beweglich agieren, ganz im Sinne des Sprechtheaters. Von Zeit zu Zeit vergisst man fast, dass es sich hier um eine Oper handelt, so spannend sind die unmittelbare Handlung und die Sprechgesänge zwischen den Figuren auf der Bühne. Alle Darsteller bemühen sich nicht nur erfolgreich um verständliche Artikulation sondern auch um eine überzeugende schauspielerische Leistung. Dabei besticht die Ausgewogenheit des Ensembles, sowohl was Umfang und Gewicht der Rollen als auch ihre Darstellung betrifft. Zwar ist Mittenhofer nominell die Hauptperson, doch die Rolle der Gräfin, seiner Assistentin, ist zumindest ebenso wenn nicht komplexer als seine. Sie ist eine Frau, die ihre erotischen Neigungen zu ihrem Idol unterdrückt und in unermüdliche, erschöpfende Arbeit kanalisiert und ihre Frustrationen am Personal auslässt. Man erwartet jederzeit eine Explosion oder einen Zusammenbruch, und zu letzterem kommt es dann auch zwischenzeitlich. Ute Döring spielt diese anstrengende und komplexe Rolle außerordentlich überzeugend und sorgt damit für eine fiebrige Stimmung auf der Bühne.
Auch die zweite große Frauenrolle, die der Hilda Mack, ist mit Emma Pearson glänzend besetzt. Sie spielt die von Visionen gepeinige psysisch Kranke glaubwürdig und mit innerer Glut, ohne deshalb ins Klischeé der Verrückten zu verfallen. Nach der „Genesung“ wird sie dann zur realistischen Figur, die alle durchschaut und ihnen die Wahrheit knallhart ins Gesicht sagt. Sébastien Soules verkörpert den eitlen, egomanischen Mittenhofer ebenfalls überzeugend, bleibt aber, rollenbedingt, in gewisser Weise eindimensional, denn er leidet nur unter Selbstmitleid und durchlebt keine innere Entwicklung. Ein kleiner Gag: am Schluss trägt Soules Mittenhofers Ansprache als Begrüßung zur Eröffung der Maifestpiele auf Französisch vor, mit dem beabsichtigten Heiterkeitserfolg. Bernd Hofmann gibt einen eigenbrötlerischen Dr. Reischmann, der mit der äußeren Welt abgeschlossen hat, aber in dieser Selbstbeschränkung auch kein Glück findet. Markus Francke hat in der Rolle des Toni eine eher undankbare Rolle, da diese Figur stets nur reagiert und sich nur selten zu eigener Tat aufschwingt. Doch sängerisch gestaltet er seine Partien durchaus überzeugend. Sharon Kempton tritt als junger Vamp Elisabeth im durchsichtigen schwarzen Rock und erotisch aufreizenden Strümpfen auf, ganz die junge Mätresse des alternden Dichters, zeigt aber auch deutlich die inneren Kämpfe, die diese junge Frau durchzustehen hat, bevor sie sich von ihrem Liebhaber lösen kann. Jörg Zirnstein spielt – ohne Gesang – den Bergführer.
Alle Sänger und Sängerinnen zeigen gesangliche Höchstleistungen, die sich bei dieser Oper nicht in hohen Lagen, Koloraturen oder Stimmvolumen, sondern in melodiöser Gestaltung und emotionalem Ausdruck zeigen. Dazu liefert das Orchester unter der Leitung von Zsolt Hamar eine außerordentliche transparentes musikalisches Geflecht, das jeder Szene den passenden Ausdruck verleiht. Neben der Flöte, dem „Leit-Instrument“ für Hilda Mack, kommen vor allem Blechbläser und Schlaginstrumente zum Einsatz, während der weiche Klang der Streicher keine Rolle spielt. Die verqueren Charaktere und verfahrenen menschlichen Beziehungen spiegeln sich in mal grellen, mal düsteren Klangfarben von Pauken und Posaunen wider.
Das Publikum zeigte sich von dieser Eröffnung der Maifestspiele beeindruckt und bedankte sich mit lang anhaltendem Beifall bei dem gesamten Ensemble.
Frank Raudszus
Alle Fotos (c) Martin Kaufhold
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