Das taiwanesischen Tanztheater „Cloud Gate“ präsentiert bei den Maifestspielen Wiesbaden die Choreographie „Songs of the Wanderers“.
Der englische Name „Cloud Gate“ für ein chinesisches Tanztheater mutet im ersten Augenblick seltsam an, fast wie ein Fremdkörper. Doch das „Wolkentor“ bezeichnet den ältesten rituellen Tanz Chinas, und so wählte Chef-Choreograph Lin Hwai-min die englische Übersetzung dieses Begriffs zwecks besserer internationaler Sichtbarkeit als Name seiner Tanztruppe.
Bereits vier Mal hat er während der Maifestspiele gastiert, und beim letzten Mal kam die Idee auf, beim nächsten Besuch eine der frühesten Produktionen, die „Songs of the Wanderers“, aufzuführen. Dabei hatte Lin Hwai-min gleich noch einen zweiten brillanten Einfall. Mittlerweile hatte er den georgischen Rustavi-Chor kennengelernt, der sich durch seine kraftvollen Stimmen und seine ursprüngliche Art des Gesangs auszeichnet. Spontan entwickelte Lin Hwai-min die Idee, die Musik zu seiner Choreographie nicht – wie üblich – aus dem elektronischen Archiv einzuspielen, sondern den Chor zusammen mit der Tanztruppe auf der Bühne auftreten zu lassen, um so höhere Authentizität und musikalische Präsenz zu erzielen. Gesagt, getan: am 3. Mai traten beide Ensembles in der Gemeinschaftsproduktion „Songs of the Wanderers“ im Großen Haus des Staatstheaters Wiesbaden auf und sorgten für den ersten Höhepunkt der Maifestspiele.
„Songs of the Wanderers“ bringt uralte chinesische – vor allem buddhistische – Mythen auf die Bühne. Dazu gehört die Vorstellung, dass das ganze Leben eine einzige Wanderung und der Mensch daher stets unterwegs sei, physisch oder im übertragenen Sinne von einer Erkenntnisstufe zur nächsten. Diese Vorstellung stammt letztlich aus der frühzeitlichen Epoche der Nomaden, die mit ihren Tieren den Jahreszeiten und den Weidegründen folgten. Doch auch die sesshaften, Ackerbau betreibenden Bauern nahmen diesen Mythos auf, indem sie ihn auf die Wanderung des Menschen zwischen Jahreszeiten, von der Aussaat bis zur Ernte, von der Geburt bis zum Tod übertrugen.
„Songs of the Wanderers“ beginnt bei abgedunkelter Bühne mit dem Gesang des Rustavi-Chores. Dieser Chor besteht aus zehn Sängern, die eine einheitliche lange, schwarze Tracht mit einem Dolch im Gürtel tragen. Doch trotz dieser Waffe wirken sie eher wie Priester denn wie Kämpfer. Die georgischen Volkslieder zeichnen sich durch ein komplexes Stimmengeflecht aus, das keine eingängige Liedschemata wie die westliche Musik kennt, sondern einfache Tonfolgen in einer höchst kunstvolle Mehrstimmigkeit umsetzt und dadurch einen Eindruck vermittelt, der an Kirchenmusik erinnert, dabei aber nie seine Bodenständigkeit verliert. Der Gesang des Rustavi-Chores preist nicht die Ehre eines höchsten Gottes sondern beschwört das Leben auf dieser Erde. Er enthebt den Zuhörer nicht des Irdischen sondern versöhnt ihn gerade damit.
Zu den wie von ferne anhebenden Stimmen des Chors hebt sich langsam der Vorhang, und man sieht einen weiß gekleideten Mönch mit zum Gebet aneinandergelegten Händen auf der Bühne stehen. Genau über ihm prasselt in einer dünnen Säule hellgelber Reis vom Bühnenhimmel, prallt von seinen Armen und seinem Gewand ab und legt sich um seine Füße. Der Mönch wird sich während der gesamten Choreographie – über eine Stunde – nicht bewegen, sondern in Meditation versunken bleiben, und der Reisberg wird ihm zum Schluss bis zu den Knien reichen.
Der Boden der Bühne ist ebenfalls mit Reis bedeckt, Symbol des allgegenwärtigen, unverzichtbaren Grundnahrungsmittels und Lebenselixiers zugleich. In einem bewussten Akt der Entschleunigung kommen wie in Zeitlupe nach und nach die Tänzer und Tänzerinnen aus dem Rückraum auf die Bühne, gekleidet in eine einfache Tracht armer Bauern oder Tagelöhner, mit archaisch geschminkten Gesichtern sowie mit langen krummen Stöcken und Astgabeln als Wanderstäbe. Ihre Bewegungen sind minimal, wirken eher wie ein gestelltes Bild als eine bewegte Menschenmenge. Einzelne Arm- oder Beinbewegungen, eine Drehung, ein Blick gen Himmel – wieder Ruhe. Dieser Zug der Wanderer – denn solche sind es – lässt sich auf verschiedene Weise deuten: zum Einen als eine Völkerwanderung von hungernden und Not leidenden Menschen, die mit letzter Kraft nach Nahrung und Unterkunft suchen, zum Andern als der spirituelle Auszug des Menschen auf der Suche nach dem Seelenheil und der erlösenden Erkenntnis. Lin Hwai-min lässt beide Deutungen bewusst offen und ermöglicht dadurch natürlich auch politische Deutungen, etwa die Folgen der Kulturrevolution oder die unveränderte Stärke des Buddhismus in Asien, gegen alle politischen Repressalien. Sein Verzicht auf jegliche vordergründige Aktualität erschwert es jedoch Parteigängern jeglicher Richtung, ihn für sich zu vereinnahmen. Lin Hwai-min zeigt sich hier in erster Linie als Künstler und nicht als politischer Agitator.
Der Reis spielt nicht nur als – konkrete – Grundlage der Bühne und des Lebens eine Rolle, sondern übernimmt noch weitere rituelle Bedeutungen. Die Tänzer nehmen ihn immer wieder mit den Händen auf und werfen ihn in großer Geste mit hohem Schwung über sich und die anderen Mitglieder der Gruppe. Sie feiern sozusagen das Fest des Reises, indem sie diesen verschwenderisch für eine nicht näher konkretisierte Gottheit – oder für die höchste Erkenntnis – opfern. Diese Gesten wirken gleichermaßen euphorisch wie ritualisiert, vergleichbar nur den uns unbekannten Opferriten der Antike oder den liturgischen Riten der katholischen Kirche. Eine weitere rituelle Steigerung erhält der Reis, wenn er sich plötzlich wie ein dichter, warmer, die Fruchtbarkeit fördernder Frühlingsregen aus dem Bühnenhimmel auf das gesamte Ensemble ergießt, das ihn mit erhobenen Händen begrüßt. Gleichsam wie ein Goldregen prasselt der goldgelb angestrahlte Reis auf die Bühne nieder.
Die Tänzer behalten über die gesamte Dauer der Choreographie ihre gemessenen, einer Zeitlupenaufnahme gleichenden Bewegungen bei. Mal agieren sie dabei alleine, mal in eng aufeinander bezogenen Gruppen, und ihre Wanderstöcke binden sie sparsam aber deutlich in die tänzerischen Bewegungen ein. Dann wieder werfen sich die Männer nacheinander wie sterbende Soldaten in den angehäuften Reise, um nach kurzer Zeit wieder aufzustehen und den Tanz des Lebens wieder aufzunehmen. Dazu liefert der Rustavi-Chor einen in sich geschlossenen und geradezu beschwörenden Klangteppich aus mächtigen Männerstimmen. Zwischen den einzelnen Gesangsstücken sind bewusst Pausen eingebaut, die kurzfristig dem Bühnengeschehen alle Aufmerksamkeit zukommen lassen, eine weitere Entschleunigung zur Folge haben und wie eine Generalpause in der klassischen Musik wirken. Die westliche Theatertradition – einchließlich Tanz und Musik – ist geprägt von Dynamik, Spannung und Tempo. Das Hinarbeiten auf einen – im Zweifelsfall konfliktreichen – Höhepunkt und dessen komische oder tragische Auflösung ist ihr Grundelement. Ganz anders stellt sich die asiatische, und hier speziell die chinesische Kunstauffassung dar, die von der Meditiation und der Beruhigung aller seelischen Verwirblungen ausgeht. Die weitgehende Ausschaltung allen aktiven Denkens in der Meditation und die Zurückführung des Geistes auf das bloße Sein führt dieser Philosophie zufolge zur Erkenntnis und zur Erlösung.
Der Reis spielt neben der Nahrung und dem Wasser auch noch die Rolle der Erde. Im Kreis der Tänzer ziehen einzelne mit einer Art grober Harke markante Furchen in den angehäuften Reis, die denen des Ackers nach dem Pflügen gleichen. Die Vorbereitung der Erde auf Aussaat und Wachstum der Nahrung spendenden (Reis-)Pflanze steht hinter diesem unermüdlichen Furchenziehen, das jedoch in dem gleichen, gemessenen Tempo wie alle anderen Bewegungen vor sich geht.
In seiner reduzierten und dennoch äußerst intensiven Darstellung uralter Riten erinnert das Stück trotz seiner Ruhe bisweilen an Strawinskys „Sacre du Printemps“. Über Jahrzehnte und ganze Kontinente wiederholen sich damit bestimmte mythische Muster, ohne dass die jeweiligen Künstler voneinander gewusst haben müssen.
Die gesamte Choreographie ist in zwei Teile unterteilt. Nach etwas über einer Stunde endet die Geschichte um den fallenden, verstreuten und durchfurchten Reis, und die Tänzer und Tänzerinnen verlassen die Bühne. Auch der Reisstrahl über dem Mönch versiegt, und dieser tritt ebenfalls ab. Nach einer Pause, die das Publikum für kräftigen und lang anhaltenden Beifall nutzt, heben Chor und Solist jedoch noch einmal an. Dazu erscheint ein einzelner Tänzer mit der erwähnten Harke auf der Bühne und beginnt, zum Gesang des Chores aus der Mitte der Bühne den aufgehäuften Reis zu einer Spirale umzuformen. Ring um Ring legt er in langsamen Runden die Furchen aneinander, und der Chor begleitet diese nahtlos voranschreitende Handlung mit seinen getragenen georgischen Volksliedmotiven. Das westliche Theater würde den Beginn dieses Spiralbaus andeuten und dann der Phantasie der Zuschauer den Rest überlassen. Das westliche Denken ist bis in alle Lebensbereiche auf Effizienz getrimmt, und jeder Regisseur würde argumentieren, man dürfe Zuschauern nicht die gesamte Spirale über den ganzen Bühnenraum zumuten, ohne damit implizit an seiner Fähigkeit zu zweifeln, Schlussfolgerungen zu ziehen. Ganz anders die Denkrichtung der asiatischen Kunst: hier gilt gerade die Vollständigkeit einer Handlung ohne Rücksicht auf die Effizienz der Handlung als wichtig. Geduld und eine höhere Art der Beharrlichkeit, die jedoch weder mit Sturheit noch mit Langeweile zu verwechseln ist, sind die Haupttugenden eines auf Erkenntnis zielenden Geistes, und so zieht der einsame Tänzer seine Spiralkreise einen um den anderen in stetiger Bewegung, bis die Bühne ausgefüllt ist. Erst dann verlässt er – fast unbemerkt – die Bühne, der Chor lässt das letzte Lied langsam ausklingen, und die Bühne mit der Reisspirale bleibt einige Sekunden lang leer und beleuchtet, ehe das Licht verlöscht.
Lin Hwai-min hat mit seiner Tanztruppe poetische Bilder von großer Schlichtheit und anrührender Schönheit erschaffen. Wenn man sich erst einmal auf das Tempo der Choreographie eingelassen und den ewigen „Handlungshunger“ des Westens besiegt hat, beginnt man, die Wesenszüge der fernöstlichen Philosophie zu verstehen. Ob diese auch im Alltags- und Wirtschaftsleben der verschiedenen asiatischen Nationen vorherrscht oder ob dort längst westliches Effizienzdenken eingekehrt ist, ist eine andere Frage. Doch die Kunst zumindest hält in ihren Produktionen diese uralten Rituale fest und präsentiert sie uns als Alternative für ein gelungenen Lebens.
Das Publikum zeigte sich beeindruckt und spendete allen Akteuren begeisterten Beifall.
Frank Raudszus
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