Vorspiel mit Hindernissen
Die vorige Etappe.
Am nächsten Morgen soll uns der Bus zum Flughafen um neun Uhr abholen. Er kommt jedoch mit halbstündiger Verspätung, da wegen der nepalesischen Neujahrsfeiern alle Straßen verstopft sind. Genau aus diesem Grund kommt auch die normale Strecke zum Flughafen nicht in Frage, wenn wir die Maschine um kurz nach elf Uhr nicht verpassen wollen. So nimmt der Fahrer eine „Geheimstrecke“ durch winzige Vororte auf Straßen, die man im besten Fall als Rüttelstrecke bezeichnen könnte. Sie ist nicht von Schlaglöchern übersät sondern buchstäblich eine einzige Kette von tiefen Löchern, die zeitweise Schritttempo und weniger erfordern. Dazu sind die Straßen so eng, dass bei Gegenverkehr kunstvolle Manöver erforderlich sind, um aneinander vorbeizukommen. Daneben tummeln sich auf der Schlaglochpiste Händler, Frauen, Kinder, Kühe, Hunde und Bauarbeiter, die auch am Feiertag ihre Aktivitäten fortsetzen. Wir vertrauen zwar auf die Erfahrung des Fahrers, doch die Zweifel, bei diesem Tempo den Flughafen rechtzeitig zu erreichen, wachsen zusehends, zumal auch unser Reiseführer auf dem Beifahrersitz ziemlich angespannt nach vorne starrt und nur kurze Informationen mit dem Fahrer austauscht.
Doch schließlich erreichen wir den Flughafen doch noch rechtzeitig, um dann nach dem etwas gedrängten Einchecken zu erfahren, dass die Maschine eine halbe Stunde Verspätung hat. Na ja, besser als anders herum. So vertreiben wir uns die Zeit mit der Beobachtung des lebhaften Treibens an dem inländischen Teil des Flughafens. Unser Flug soll nach Pokhara gehen, von wo wir unsere Trekking-Tour unterhalb des Annapurna starten werden. Vor dem Einstieg empfiehlt man uns, einen Fensterplatz an der rechten Seite zu wählen, um während des Fluges die Bergketten des Himalaya besser sehen zu können. Doch im Bus haben sich bereits mehrere andere Gäste strategisch so plaziert, dass sie als erste aussteigen und die Maschine betreten können. Sie schaffen es dadurch auch, die besten Fensterplätze zu belegen, doch leider hilft ihnen das nicht viel, da wir während des Fluges dank dicher Bewölkung so gut wie nichts von den Bergen sehen. Eine gewisse Schadenfreude über den Misserfolg dieser etwas unsozialen Art der Platzwahl können wir nicht unterdrücken, obwohl die schlechte Sicht natürlich auch uns trifft.
Nach einer halben Stunde Flug in der kleinen Propellermaschine landen wir in Pokhara, einer Stadt von etwa 400.000 Einwohnern westlich von Kathmandu. Die Stadt macht eine wesentlich gepflegteren Eindruck als die Hauptstadt, mit durchgehend asphaltierten Straßen, richtigen Bürgersteigen und einer auf den ersten Blick intakten Bausubstanz. Nach dem Einchecken ins Hotel, das uns für eine Nacht als Station dienen wird, geht es hinunter zum See, wo das große Neujahrsfest stattfindet. Ganz Pokhara scheint auf den Beinen zu sein, überall flattern die Gebetsfahnen, und auf einem großen Freigelände am See – ähnlich der „Wies´n“ in München – feiern die Bürger mit Kind und Kegel.
Nach einem kräftigenden Mittagessen auf nepalesische Art in einem sonnengeschützten Zelt – auch hier ist es wieder an die dreißig Grad warm – geht es hinunter zum See, wo wir drei etwas wacklige Ruderboote besteigen, mit denen uns ein paar junge Männer über den See fahren. Es geht zu einer Anlegestelle unterhalb einer von Weitem sichtbaren Stupa, die hoch oben auf einem Bergrücken thront. Von der Anlegestelle führt ein steiler Pfad mit Naturstufen in Serpentinen den Hang hinauf, und wir erhalten einen Vorgeschmack auf das, was uns in den nächsten Tagen erwartet. Stufe um Stufe geht es aufwärts, und man gewöhnt sich bald daran, langsam Schritt vor Schritt zu setzen, ohne an die noch bevorstehende Strecke zu denken. Doch da alle Gruppenmitglieder sportlich und trainiert sind, erreichen wir schließlich den Höhenrücken ohne Klagen und Ausfälle, aber doch gut durchgeschwitzt. Oben folgt dann natürlich die obligatorische Fotostrecke vor und auf der Stupa, mit und ohne tiefstehende Sonne und mit dem weiten Blick auf den See und die Stadt.
Der Abstieg erfolgt dann auf der Rückseite des Berges, weniger steil und kürzer, und endet an einer Bushaltestelle, wo unser Reiseleiter einen Bus organisiert, der uns zum wohlverdienten Ausklang des Tages ins Hotel zurück bringt.
Es wird ernst
Am nächsten Morgen spricht sich bereits auf dem Gang vor dem Zimmer die Nachricht herum: der Annapurna präsentiert sich klar und deutlich am wolkenfreien Morgenhimmel. Da fliegen natürlich die Fotoapparate aus den Taschen, und die Jagd nach der besten Position im Hotel beginnt. Obwohl die Berge noch ziemlich weit entfernt sind, vermitteln sie uns bereits mit ihren weißen Kuppeln und der Unnahbarkeit oberhalb der Baumgrenze einen starken Eindruck von der „Majestät“ der Berge, wie man es so schön zu sagen pflegt. Nach dem Frühstück wird das Gepäck getrennt. Wir nehmen für die Trekking-Tour nur die unbedingt notwendigen Dinge mit, um die Träger zu entlasten, die unser Gepäck tragen werden. Anschließend gibt es für jeden ein Tuch und einen breitkrempigen Hut gegen die Sonne sowie Wasser gegen den Durst, und dann geht es im Bus hinaus aus der Stadt und hinauf ins Bergland. Je höher wir uns in die Berge schrauben, desto enger wird die Straße, bis sie schließlich in eine staubige, festgefahrene Sandpiste übergeht, bei der man nur hoffen kann, dass kein anderes Fahrzeug entgegen kommt, schon gar nicht ein Bus.
Schließlich halten wir in dem kleinen Ort Lumle auf 1.300 Metern Höhe, von dem aus wir in der einen Richtung einen weiten Blick hinunter in ein Tal genießen und in der anderen den Annapurna sehen, nun schon deutlich näher als am Morgen vom Hotel aus und noch beeindruckender. Doch erst einmal heißt es, sich zum Wandern zu rüsten, denn die Sonne brennt doch recht warm vom Himmel, und so muss man sich gegen Sonnenbrand vor allem im Nacken schützen. Jetzt wissen wir, wozu das Tuch und die breitkrempigen Hüte gut sind.
Zur Eingewöhnung geht es an diesem Tage erst einmal bergab zum Dorf Birethanti, wo vor allem ehemalige Gurkha-Kämpfer der britischen Armee leben. An einem langen Berghang geht es zunächst leicht abschüssig voran, bis wir auf eine aus Natursteinen gezimmerte Treppenstiege ausweichen. Es geht ziemlich steil bergab, so dass man bei jedem Stein darauf achten muss, die unregelmäßigen Stufen zu treffen und keinen losen Stein zu erwischen. Bald versiegen die bis dahin munteren Gespräche in der Gruppe, denn jeder ist mit sich beschäftigt. Obwohl es bergab geht, läuft bald jedem der Schweiß von der Stirn, denn die Wärme und die notwendige Konzentration wirken beide schweißtreibend. Zwischendurch bleiben wir an kleinen Siedlungen stehen, schauen der Bergbevölkerung bei ihrer harten Arbeit auf den kargen Terrassen zu und bekommen ein schlechtes Gewissen, weil wir hier als Touristen das bezahlte Erlebnis suchen, während die Menschen für ihr eigenes Überleben arbeiten. Sie können sicher nicht verstehen, weshalb wohlgenährte Menschen von weither kommen, nur um die Berge zu sehen, die ihnen zur Gewohnheit geworden sind. Doch diese Gedanken verfliegen beim Weiterwandern, weil man andernfalls eigentlich abreisen und das eingezahlte Geld den Nepalesen schenken müsste. Wir beruhigen unser Gewissen damit, dass wir mit dieser Reise schließlich auch etwas für die lokale Wirtschaft tun.
Nach etwa drei Stunden sind wir gut dreihundert Höhenmeter abgestiegen und nähern uns einem Gebirgsbach, der jetzt, außerhalb der Regenzeit, jedoch nur mäßige Wassermengen führt. Dennoch steht uns der erste kleine Höhepunkt des Tages bevor: die Überquerung einer Hängebrücke, die hier von Schweizern über eben diesen Gebirgsbach gezogen wurde. Dank solider Schweizer Technik wird der Gang über die Brücke ein zwar bewegtes, sprich: schaukelndes Ereignis, jedoch bar jeglicher Gefahr. Wenig später schwenken wir vom Wege ab und betreten unsere erste Unterkunft, die „Sanctuary Lodge“.
Die Lodge besteht aus schmalen, einstöckigen Baracken, die jeweils etwa zehn Doppelzimmer mit Nasszelle enthalten. Die Einrichtung entspricht europäischen Standards, so dass man nach der Wanderung erst einmal entspannen kann. Anschließend werden auf der Liegewiese Tee und Gebäck serviert, und die ganze Gruppe gönnt sich eine gepflegte Nachmittagsruhe.
Ein netter Brauch in den Lodge ist die „Happy Hour“ von 18 bis 19 Uhr mit Freigetränken am offenen Feuer im Aufenthaltsraum. Dieses Feuer kann man durchaus genießen, denn nach Einbruch der Dunkelheit wird es hier empfindlich kühl. Man sitzt kreuz und quer zusammen, lernt andere Reisende kennen und verarbeitet die Erlebnisse des Tages mit wortreichen Kommentaren.
Aufstieg nach Ghandrung
Der richtige Ernst des Trekkings beginnt am nächsten Morgen. Heute geht es über 8.000 Treppenstufen hinauf nach Ghandrung, wobei gut tausend Höhenmeter zu überwinden sind. Angesichts der bereits am frühen Morgen einsetzenden Wärme bricht manchem bereits bei dem Gedanken an das endlose Treppensteigen der Schweiß aus. Doch es wird dann halb so schlimm wie befürchtet. Erstens sind alle Teilnehmer in guter körperlicher Verfassung, und zweitens legt unser Reiseführer ausreichend Ruhepausen an schattigen Plätzen ein, bei denen man bei Bedarf sogar Getränke erwerben kann, falls das eigene Wasser nicht mehr schmeckt. Die Bevölkerung hat sich bereits auf den Trekking-Boom eingestellt und hat an ausgewählten Punkten – Wegkreuzungen oder besonders schöne Aussichtspunkte – entsprechende Verkaufsstände aufgebaut, bei denen neben den Getränken und ungesunden Süßigkeiten natürlich auch die Souvernirs „mace in china“ nicht fehlen dürfen. Doch was soll´s – bildungsbürgerliche Vorbehalte gegen Souvernirstände verflüchtigen sich in dieser Höhenluft recht schnell.
So geht der Aufstieg weiter und beschert uns noch einige schöne Momente, etwa, wenn uns eine Maultierherde überholt, um Waren aus dem Tal auf den Berg zu schaffen. Die von Autos befahrbaren Straßen haben wir unter uns gelassen, und Seilbahnen gibt es hier nicht. Der Transport per Maultier ist die luxuriösere Variante, wer sich kein Maultier leisten kann, muss alle benötigten Waren auf dem Rücken hochschaffen. Das gilt auch für unser Gepäck. In der „Sanctuary Lodge“ haben wir noch einmal das gepäck reduziert, denn nach drei Tagen kehren wir hierhin zurück. Das restliche Gepäck mit den notwendigen Utensilien für zwei bis drei Tage – Wäsche, Pullover, Hosen, Badeschöappen, Waschbeutel – tragen eigens hierfür angeheuerte Träger in großen Körben auf dem Rücken hoch, wobei mal wir sie, mal sie uns überholen.Je ein Träger trägt das Gepäck für zwei Personen und das eigene, und wenn man die Träger langsam Stufe für Stufe unter den großen Körben hinaufsteigen sieht, tut einem jedes Gramm weh, das man unnötigerweise eingepackt hat. Darüber hinaus lernt man an jeder Ecke das karge Leben der Landbevölkerung kennen. Die Frauen bestellen hier meist die Felder mit den etwas älteren Kindern zusammen. Die jungen Männer arbeiten großenteils als Fremdarbeiter auf der arabischen Halbinsel und schicken das bitter benötigte Geld nach Hause. Denn die Terrassen am berg reichen gerade einmal für die eigene Ernährung und die der Haustiere. verkaufen kann man schon deshalb so gut wie nichts, weil der Weg zum nächsten ort im Tal viel zu weit und beschwerlich wäre. So sieht man dann auch viele kleine Kinder, die ihre noch kleineren Geschwister hüten oder gar auf dem Arm tragen. Unsere Vorstellung von Kindheit passt hier überhaupt nicht, und dennoch wirken die Kinder nicht unglücklich. Sie bekommen einmal im Jahr neue Kleidung, die sei dann das ganze Jahr tragen, und unsere hygienischen Standards sind ihnen ebenfalls fremd. Doch das leben hier oben scheint außerordentlich gesund zu sein, denn die Kinder sehen kerngesund aus.
Wir sind dann doch schneller in Ghandrung als gedacht, da wir während des Aufstiegs nach einiger Zeit Reden und Denken aufgegeben haben und nur noch Stufe und Stufe in geradezu mechanischer Weise erklommen haben. Als wir dann plötzlich auf der Terrasse unserer neuen Lodge stehen und vor uns das Massiv des 8.100 Meter hohen Annapurna aufsteigen sehen, erfüllt uns ein unbeschreibliches Gefühl der Zufriedenheit. Wir haben es geschafft und werden mit einem solchen Anblick belohnt. Versteht sich von selbst, dass noch vor dem Auspacken die Fotoapparate gezückt und die Berge ausgiebig fotografiert werden. Erst als die Auslöser heißgelaufen sind, geht es daran, die Zimmer zu beziehen, zu duschen, die Beine auf der Terrasse vor dem Zimmer hochzulegen und das Panorama in Ruhe zu genießen.
An diesem Abend haben wir uns die „Happy Hour“ wahrhaft verdient, und auch das Abendessen – Reis und Gemüse mit etwas Hühnerfleisch – schmeckt hervorragend. Man schläft gut nach einer solchen körperlichen Anstrengung und freut sich dennoch auf den nächsten Tag, wenn es noch einmal weiter aufwärts geht.
Frank Raudszus
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