Ein fast philosophisches Buch über Sinn und Unsinns des Reisens.
In seinem vorangegangenen Buch „Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat“ gibt der Autor unter anderem ironische, aber auch ernst gemeinte Ratschläge, wie man literarische Wissenslücken in Partygesprächen kaschieren kann. Die Weiterung dieser anfangs eher satirischen Hinweise zu einer Philiosphie des „summarischen Lesens“ stellt den bildungsbürgerlichen Wert einer konzentrierten Lektüre und die damit verbundene Wertschätzung lieterarischer Werke in Frage und trifft nicht immer auf Zustimmung. In seinem neuesten Buch hat Bayard diese Sicht des „Als ob“ nicht nur auf das Reisen und die Orte der Welt ausgedehnt, sondern erhebt sie auch in den Rang einer ernsthaften Philosophie, ganz ohne satirische Seitenhiebe. Dazu bedient er sich der Beispiele einiger berühmter Reiseschriftsteller, die nachweislich die beschriebenen Orte nie gesehen haben.
Marco Polo ist der erste seiner Kronzeugen. Der Venezianer ist laut Bayard 1274 geboren (laut Wikipedia 1254!) und hat sein großes Werk über China und andere asiatische Länder, in denen er sich nach eigenen Aussagen zwanzig Jahre lang aufgehalten hatte, angeblich 1298 im Gefängnis verfasst. Nimmt man diese Zahlen als Grundlage, so ergibt sich der literarische Betrug von selbst: in 24 Jahren kann man nicht als Erwachsener bereits zwanzig Jahre lang herumgereist sein. Geht man allerdings vom korrekten Geburtsjahr 1254 aus, so verflüchtigen sich die harten Widersprüche und man kann die Behauptung einer nur virtuellen Reisetätigkeit nur aus dem Inhalt der Reiseberichte selbst ableiten. Für Pierre Bayard sind jedoch die in der wissenschaftlichen Welt immer noch geäußerten Zweifel an Marco Polos Reisen längst zur Gewissheit geworden. Die Berichte über Menschen, Fauna und Flora sind zwar tatsächlich ziemlich unwahrscheinlich, und die Berichte über die erotische Freizügigkeit der chinesischen Gesellschaft klingen ebenfalls eher nach einem Zugeständnis an die Erwartungshaltung der Leser – „Sex and Crime“ -, sind aber noch kein Beweis dafür, dass er diese Länder überhaupt nicht besucht hat. Gerade zu Zeiten, als (Welt-)Reisen Seltenheit und nur wenigen Privilegierten vorbehalten waren, dürfte sich so mancher Reisende mit Übertreibungen interessant gemacht haben. Schwerer wiegt da schon die von Bayard zu Recht gestellte Frage, warum Marco Polo bei aller Detailfreude weder die doch so berühmte – und real existierende! – chinesische Mauer noch die eingeschnürten Füße der Frauen oder das chinesische Ritual des Teetrinkens erwähnt. Laut Bayard hat Marco Polo der Imagination das Feld überlassen und hat ein Land – China – erschaffen, das die Erwartungshaltungen seines Publikums – märchenhafte Gestalten und Ereignisse – bediente und damit seinen Ruhm beförderte. Bayard sieht in dieser Schaffung einer virtuellen Welt jedoch eine große schriftstellerische Leistung, wobei die Übereinstimmung mit der Realität keine Rolle spielt.
Das nächste Beispiel ist mit Phileas Fogg aus Jules Vernes´ „In 80 Tagen um die Welt“ eine fiktive Gestalt. Abgesehen davon, dass eine Romanfigur sowieso keine physischen Reisen unternehmen kann, hat der Autor die Wette über die Reisedauer in den Mittelpunkt seines Romans gestellt und nicht eine Enzyklopädie der besuchten Länder verfassen wollen. Von daher trägt das Argument, Phileas Fogg sei der typische Intellektuelle oder gar Philosoph, der das Wesentliche der Welt nicht aus eigener Anschauung sondern aus der Literatur nimmt (woher haben es die Literaten?) erfasst, nicht sehr weit.
Da passt Èdouard Glissant schon eher in Bayards Bild. Glissant verfasste ein umfangreiches Werk über die Osterinseln an seinem heimischen Schreibtisch und überließ die Erkundung der Inseln vor Ort seiner Lebensgefährtin, die er dafür gnädigerweise als Mitautorin nannte. Auch hier wird allerdings der angebliche Vorzug der Distanz zum Objekt der Beschreibung nicht deutlich, weil ja Glissants Partnerin „vor Ort“ war und alles recherchiert hat. Eher trifft Bayards Sicht für den französischen Dichter Chateaubrand zu, der sich selbst ein Idealbild Griechenlands erschuf, dies zu einem weiten Panorama ausbaute und bei einem Besuch in dem Land seiner Träume keine der Ausgrabungen sehen wollte. Hier stand die Imagination tatsächlich im Vordergrund und entwickelte ein Eigenleben unabhängig von der physischen Realiät des Objekts. Doch im Extremfall würden Menschen wie Chateaubriand dann über ihre Traumbilder reden und nicht über „Orte, an denen sie nicht gewesen sind“. Wenn ich mir ein imaginäres (Wunsch-)Bild des Himalaya erschaffe, rede ich im zweifelsfall über dieses Bild, aber nicht über das konkrete Gebirge.
Im weiteren Verlauf kommt Bayard auf das Gespräch als eine Variante der freien Imagination zu sprechen. Dazu zitiert er die Anthropologin Margaret Mead, die sich von den Einwohnern Samoas Geschichten über die angebliche sexuelle Freizügigkeit erzählen ließ, die zwar nichts mit der Realität zu tun hatten, aber die Erwartungshaltung und das Wunschdenken einer die puritanischen westlichen (Sexual-)Sitten kritisierenden Schicht bedienten. Er sieht zwar Margaret Meads „Reinfall“ nicht als Beispiel einer positivien Imagination, kann ihm aber einen gewissen gesellschaftlichen Wert nicht absprechen, frei nach dem Motto „gut gemeint“. Auch im Journalismus gibt es Fälle der „Scharlatanerie“, so einen amerikansichen Reporter der new York Times, der jahrelang Berichte über angebliche Besuche bei Opfern von Unglücken oder brisante Ereignisse schrieb, ohne seinen heimischen Schreibtisch zu verlassen. Stress und schlechtes Gewissen führten bei ihm zu schweren psychischen Störungen, die schließlich auch zur Enttarnung und Kündigung führten. Bayard rechtfertigt zwar nicht die journalistische Unredlichkeit, betont aber, dass alle Berichte außergewöhnlich gut recherchiert gewesen seien, besser als so mancher schnell verfasste Bericht „vor Ort“. Der logische Fehlschluss bei diesem stillen Lob im Sinne seiner allgemeinen Theorie liegt jedoch darin, dass irgendjemand das Recherchematerial vorher „vor Ort“ hatte gewinnen müssen. Zwar redete dieser Journalist tatsächlich über „Orte, an denen er nicht gewesen war“, doch war dies lediglich eine sekundäre Fleißleistung und keine sinnliche Erfahrung. Aus dem Sport erwähnt Bayard noch eine Marathonläuferin, die in erstaunlicher Zeit den Boston-Marathon gewann, wobei sich später herausstellte, dass sie einen Teil der Strecke mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurückgelegt hatte. Für Bayard hat sich diese Läuferin kurzfristig eine eigene Welt mit einem hohen Potential an Lustgewinn geschaffen, ist sozusagen aus der hässlichen realen Welt geflohen. Auch hier kann er – verständlicherweise – menschliches Mitgefühl nicht verleugnen, stilisiert diesen simplen Betrug jedoch – fragwürdigerweise – zu einer kreativen Leistung sui generis empor. Dass die Frau nach der Aufdeckung des Betrugs der Lächerlichkeit und (sportlichen) Ächtung ausgeliefert war, unterschlägt er.
Zum Schluss empfiehlt Bayard verschiedene Haltungen beim Erzählen über nicht besuchte Orte, wobei diese Empfehlungen jedoch wiederum Schilderungen berühmter Beispiele sind. So erweiterte der Weltreisende Psalmanazar, angeblich aus Formosa stammend, in seinen Erzählungen die räumlichen Grenzen, indem er Fauna und Flora verschiedenser Weltrelígionen in dem von ihm imaginierten Formosa zusammenbrachte. Wie Marco Polo erfüllte er damit die Sucht seiner Zeitgenossen nach exotischen Geschichten. Karl May dagegen übersprang die Grenzen der Zeit, indem er in seinen Indianergeschichten die kritische Haltung zur Ausrottung der Indianer aus einer anderen Epoche – spätes 20. Jahrhundert – vorwegnahm und auch gleich in seine Geschichten einbaute. Auch hier tauchten edle Wilde – nicht ganz zu Unrecht – und weitsichtige Weiße – wohl eher unwahrscheinlich – auf, die Nächstenliebe und Güte predigten, gegen den Wahnsinn ihrer Zeit aber nicht ankamen. Bayard sieht Karl May zu Recht als einen frühen Wegbereiter einer völlig neuen Sicht der Kolonisation Amerikaners und als einen scharfen Kritiker der Weißen in Amerika und Europa. Ob diese Kritik aus einer profunden Kenntnis der Ereignisse oder aus einer reinen Wunschvorstellung erwuchs, bleibt dahingestellt. Zumindest hat Karl May aber mit seiner Winnetou-Saga dem Bild des hässlichen, blutrünstigen Wilden entgegengewirkt. Am Schluss kommt Bayard noch auf den Schweizer Schriftsteller Blaise Cendrars zu sprechen, der unter anderem eine Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn beschreibt, ohne jemals mit ihr gefahren zu sein, und auf die russische Schriftstellerin Nina Berberova, die ihren Helden immer wieder von der imaginierten Wunschstadt Chicago reden und dort Freunde wie Verwandte ansiedeln lässt, die es nicht gibt. Hier steht jedoch Chicago offensichtlich als Metapher für ein unerreichbares Ziel und nicht für die realen Straßen und Häuser der Stadt. Insofern liegt Bayard mit dem letzten Beispiel wohl etwas daneben.
Bayard hat aus einer anfangs wohl satirischen Überlegung zum Schwadronieren der Angeber und Selbstdarsteller über nie besuchte Orte eine Philosophie entwickelt, die sich beim ersten Anhören originell anhört, sich aber letztlich gegen einfache logische Einwände und Widersprüche nicht behaupten kann. Dafür erhält der Leser aber eine unterhaltsame Übersicht über verschiedene Erfinder von Orten und Zeiten und lernt ihre Werke einmal von einer anderen Seite kennen.
Das Buch „Wie man über Orte spricht, an denen man nicht gewesen ist“ ist im Kunstmann-Verlag unter der ISBN 978-3-88897-825-8 erschienen, umfasst 215 Seiten und kostet 18,95 €.
Frank Raudszus
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