Für das 6. Sinfoniekonzert des Staatstheaters Darmstadt hatten sich die Verantwortlichen ein ganz besonderes Programm ausgedacht. Wer die Ankündigung nur überflog, konnte sich als Abonnent gemächlich zurücklehnen, sah er doch zwei Große der abendländischen Musik mit mehr als bekannten Werken: Joseph Haydns Sinfonie Nr. 96 und Ludwig van Beethovens 6. Sinfonie, die „Pastorale“.
Zwischen diesen beiden buchstäblichen Eckpfeilern des europäischen Musikbetriebs hatte sich jedoch ein weiterer Programmpunkt eingeschlichen, der vielen vielleicht nichts sagte: das Klavierkonzert ISIS des Darmstädter Komponisten Cord Meijering, der vielen Darmstädtern nur als Direktor der hiesigen, renommierten Musikakademie bekannt ist. Dass er auch ein – im übertragenen Sinne – schwergewichtiger Komponist ist, wussten wohl nur wenige, den Rezensenten eingeschlossen. Die Uraufführung seines 2013 als Auftragswerk für das Staatstheater entstandenen Klavierkonzerts war also in gewisser Weise auch ein lokalpatriotischer Akt, obwohl diese Selbstreferenz durchaus nicht auf Kosten der Qualitüt dieses Abends ging.
Doch beginnen wir mit den Klassikern. Mit der Sinfonie Nr. 96 startete Joseph Haydn seinen London-Besuch im Jahr 1791. Dabei erhielt die Sinfonie ihren Namen „The Miracle“ („Das Wunder“), weil hier angeblich ein Kronleuchter genau auf die Plätze fiel, die die Besucher gerade verlassen hatten, um sich an die Brüstung des Orchestergrabens zu drängen und Haydn zu bewundern. Die Sinfonie beginnt im typische Haydnschen Stil, langsam und gemächlich voranschreitend. Wenn man berücksichtigt, dass Mozart sich zu dieser Zeit in seinem letzten Lebensjahr befand und seine letzten beiden großen Sinfonien – Nr. 40 in g-Moll und Nr 41 in C-Dur („Jupiter“) – bereits über zwei Jahre hinter ihm lagen, dann wird der Bruch der musikalischen Entwicklungen zwischen diesen beiden Komponisten deutlich.
Bei Haydn vernimmt man immer noch den Nachklang höfischer Musik mit dem latent gravitätischen Art des Voranschreitens und den anmutigen, nie zu expressiven melodischen und harmonischen Figuren. Der erste Satz der Sinfonie 96 – „Adagio – Allegro“ – entwickelt sich aus einem scheinbar trivialen Beginn zu einem sehr abwechslungsreichen und facettenreich instrumentierten Geflecht, das zwar immer wieder für musikalische Überraschungen sorgt, aber die Erwartungshaltung des Publikums nie brüskiert, wie es die Dynamik von Mozarts Spätwerken durchaus tat. Im zweiten Satz, einem „Andante“, fällt vor vor allem das anmutige Zwiegespräch zwischen Flöte und Oboe gegen Ende auf, das dem innigen Satz eine besondere Note verleiht. Der dritte Satz kommt daher wieder höfisch-schreitend – wenn auch im Dreiertakt – daher, und man kann sich zu dieser Musik durchaus den Einzug eines Herrscherpaars vorstellen. Dagegen lebt der Finalsatz von seiner leichten, tänzerischen Art, als wolle der gerade einmarschierte Herrscher gnädig den Tanz freigeben.
Haydns Musik war wohl auch deshalb so beliebt und erfolgreich, weil er der Erwartungshaltung des höfischen Adels in vollem Umfang entsprach. Dirigent und GMD Martin Lukas Meister arbeitete diese Strukturen deutlich heraus. Das verkleinerte und in den Streichern spiegelverkehrt angeordnete Orchester bemühnte sich um einen kammermusikalischen Ton, wie ihn Haydn bei seiner jahrelangen Tätigkeit am Hofe Fürst Esterhazys entwickelt hatte. Bei aller höfischen Tradition achtete Haydn aber auch darauf, soweit möglich seine eigenen musikalischen Vorstellungen durchzusetzen, und tat dies oft auf eine humoristische Weise, die seine Brotgeber nicht verärgern konnten. Dieser Humor zeigt sich in vielen überraschenden Wendungen in den einzelnen melodischen Figuren und ihrer jeweiligen harmonischen und instrumentalen Umsetzung. Gerade Haydn war ein Meister des subtilen musikalischen Humors, und Martin Lukas Meister schälte diese Seite mit der Orchester überzeugend heraus.
Den Solopart für Mejerings Klavierkonzert hatte die junge Amerikanerin chinesischer Abstammung Claire Huangci übernommen, nachdem die Idee eines Klavierkonzerts im Rahmen eines geselligen Abends mit Cord Meijerings und einem Dramaturgen geboren worden war. Meijering, der sich selbst als musikalischer Geschichtenerzähler beschreibt, hat seinem Konzert die Legende der ägyptischen (Halb-)Götter Isis und Osiris zugrunde gelegt. Dabei ist jedoch keine programmatische Musik entstanden, die den alten Mythos nacherzählt, sondern ihm ging es um die Darstellung der dabei mitspielenden Emotionen und existentiellen Ereignisse wie Liebe und Rache, Geburt und Tod. Das Konzert trägt zwar programmatische Satzbezeichnungen wie „The Gods of the intercalated days“ und „Nativity and Vengeance“, man kann die Satzfolge jedoch ebenso mit den klassischen Bezeichnungen „Allegro moderato“, „Adagio“ und „Presto“ versehen, denn diesen Tempi folgt das Konzert weitgehend.
Dabei folgt es in seiner Konstruktion herkömmlichen Mustern. Der Klavierpart ist – wie in der Hochromantik – stark mit dem Orchester verzahnt, das durchaus keine bloße Begleitfunktion spielt sondern sich als eigenständiger musikalischer Partner einbringt. Dynamik und Klangfarben tragen zwar über weite Strecken moderne Züge, wenn auch Experimente mit ungewohnten Instrumenten oder gar elektronischen Quellen nicht dazu gehören, aber dennoch blitzen plötzlich Assoziationen an einen späten Brahms oder andere Komponisten der Hochromantik auf, sei es in kurzen harmonischen Wendungen oder lang gezogenen Motiven in den Streichern. Der Klavierpart zeichnet sich durch hächste Virtuosität aus, wobei perlende Läufe und rhythmisch akzentuierte Akkordfolgen dominieren. Abgesehen von der Harmonik, die bisweilen an modernen Jazz erinnert, vermeidet Meijering extreme pianistische Effekte wie Cluster oder den akustischen Übergriff auf den Rest des Instruments.
Claire Hunagci meisterte die anspruchsvolle Partitur nicht nur souverän, sondern geradezu bravourös. Auch die schnellsten Läufe und Akkordfolgen präsentierte sie messerscharf und doch leichthändig. Man sah ihr die Kraft und Kondition nicht an, die ihr Spiel erforderte, und während des ganzen Konzerts verbreitete sie den Eindruck purer Spielfreude. Martin Lukas Meister war ihr mit dem Orchester ein aufmerksamer Partner, der ihr Spiel minutiös verfolgte und mit dem Orchester angesichts der doch teilweise plötzlichen Wechsel der Dynamik und der Klangfarben sensibel reagierte. Das Publikum zeigte sich derart beeindruckt, dass es noch zwei Zugaben der jungen Pianisten herbeiklatschte: George Gershwins „Embraceable You“ in einer ganz eigenen, virtuosen Interpretation von Claire Huangci, und ein Stück von Frédéric Chopin in geradezu halsbrecherischem Tempo.
Den Schluss des Abends bildete dann die „Pastorale“ des anderen großen Klassikers (der dritte musste diesmal draußen bleiben), Ludwig van Beethoven. Diese Sinfonie fällt in mehrfacher Hinsicht aus dem Rahmen ihrer Vorgänger und Nachfolger. Erstens besteht sie untypisch aus fünf Sätzen, die zweitens auch noch so ungewohnte Bezeichnungen wie „Erwachen heiterer Gefühle bey der Ankunft auf dem Lande“ tragen, und drittens fehlt ihr der typische, vorwarts drängende Impetus Beethovenscher Sinfonien. Man könnte bei dieser Sinfonie fast von früher Programmmusik reden, denn Beethoven beschreibt verschiedene Gefühlslagen eines (Wochenend-)Ausfluges, wobei er sich nicht scheut, Gewitter und Sturm mit eindeutigen klanglichen Mitteln wiederzugeben. Smetana verzeiht man das Gurgeln der Moldau nur zähneknirschend, Beethoven jedoch darf dies ungestraft tun.
Martin Lukas Meister verzichtete auch bei dieser Sinfonie auf die große orchestrale Geste. Statt einen mächtigen, raumfüllenden Klangrausch zu inszenieren, betonte er den kammermusikalischen Aspekt und schaute mehr nach innen. Über alle fünf Sätze hielt er diese fast feinsinnige Interpretation durch, selbst bei „Gewitter und Sturm“ ließ er es nicht krachen, sondern es gelang ihm das Kunststück, die ganz eigene Spannung und Gefahr eines Unwetters auch ohne akustische Exzesse darzustellen. Die Zuhörer erhielten so die Gelegenheit, auf die Feinheiten der Musik zu achten, etwa die sorgfältig herausgearbeiteten Auftritte der Klarinetten, der Flöten und der Oboen. Selbst die Hörner entwickelten einen ganz eigenen, fast melancholischen Klang. Dazu dirigierte Meister ganz ohne Partitur und Dirigierstab aus dem Kopf und setzte stattdessen den Körper mit viel Verve und Begeisterung ein. Das Orchester folgte seinem Dirigat so aufmerksam, dass diese Interpretation noch einmal zu einem Höhepunkt des Abends wurde. Viel Beifall des Publikums, der auch den vielen Solisten galt, die Meister einzeln aus dem Ensemble hervorhob.
Frank Raudszus
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