Das Tanztheater des Staatstheaters Wiesbaden gastiert in Darmstadt.
Im Rahmen des – noch gültigen – Austauschprogramms der beiden Staatstheater stellte die Wiesbadener Tanztruppe am 25. April im Rahmen des Programms „Magisches Kaleidoskop“ drei Choreographien von Johan Inger, Stephan Toss und Jirí Kylián vor.
Johan Inger hat seine Choreographie „Walking Mad“ bereits im Jahr 2001 am „Nederlands Dans Theater“ vorgestellt. Im Mittelpunkt der Produktion steht Maurice Ravels „Boléro“, dessen ostinat vorwärtsdrängende Musik die Tänzer in entsprechende Bewengungsmuster umsetzen. Nun ist es stets gefährlich, ein berühmtes Musikstück tänzerisch zu deuten, da an eine solche Musik zu viele und zu stark vorgeformte Erwartungshaltungen geknüpft sind, die den tänzerischen Ausruck leicht in den Hintergrund drängen. Deshalb hat Johan Inger dieser Musik nicht nur ein eigenes Handlungsmuster des Bühnengeschehens entgegengesetzt, sondern auch bühnentechnisch und choreographisch weitere Elemente hinzugefügt. So spielt eine mit Türen versehene, mannshohe Mauer eine wesentliche Rolle, und diese Mauer verlagert nicht nur ständig ihren Ort auf der Bühne, sondern sie dient auch als – schützende wie zu überwindende – Hürde für die Handlung. In dieser geht es um das Verhältnis von Männern und Frauen. So sieht man anfangs ein einzelnes Mädchen träumend, ängstlich an die Mauer gelehnt, dann verfolgt sie ein Trupp von Männern um die Mauer herum, aber eher in einer Art Balzspiel als auf aggressive Weise. Man verschwindet durch eine Tür, kommt aus einer anderen wieder zum Vorschein, die Mädchen entziehen sich den Männern, nur, um im nächsten Augenblick an einer anderen Stelle sich wieder den Mänenrn zu präsentieren. Das ist ein höchst unterhaltsames und temporeiches Spiel um Annäherung und Distanz, Vorpreschen und Zurückweichen. Das Ganze spielt sich zu dem langsam sich steigernden Rhythmus von Ravels „Boléro“ ab und nimmt dessen wachsende Intensität in sich auf. Zwischenzeitlich verliert sich die Musik im Hintergrund und eröffnet die Möglichkeit zu einem lyrischen Intermezzo auf der Bühne, nur um zum Schluss mit Macht zurückzukehren und alle Tänzer zu einem rauschenden Fest des Tanzes auf die Bühne zurückzuholen.
Dieser Teil der Choreographie lässt sich durchaus als Allegorie auf den Werbungsprozess auffassen, der mit dem großen Fest der Vereinigung endet. Doch während im Film – frei nach Tucholsky – nach dem Happy End gewöhnlich abgeblendet wird, folgt hier noch ein Phase der introvertierten Zweisamkeit, die man durchaus als das Abbild der monogamischen Ehe verstehen kann. Zu distanzierter, frei assozierender Klaviermusik tanzt nur noch ein Paar die Beziehung zwischen den Geschlechtern aus. Doch dabei geht es nicht um die konkreten Probleme einer (jungen) Ehe, sondern – wie schon zu Beginn – um die uralte Geschichte von Anziehung und Abstoßung, Wunsch nach Nähe und Drang nach Freiheit, Einsamkeit und Nähe. Nach dem intensiven Teil der „Boléro“-Umsetzung mit heftigen Emotionen erwachen hier die subtileren Befindlichkeiten und Spannungen zwischen den Geschlechtern. Dabei hütet sich Johan Inger vor jeglichen platten Bildern und lässt zum Beispiel die Sexualität nur in Gestalt der aufeinander bezogenen Spannungen der beiden Protagonisten zum Ausdruck kommen. Die psychologischen Muster sind ihm wichtiger als konkrete Alltagsbilder.
Die zweite Choreographie, „La Chambre Noir“ von Stephan Toss, befasst sich mit der naturwissenschaftlichen Idee des „schwarzen Lochs“, das mit seiner überwältigenden Gravitation nicht nur alle Masse sondern letztlich auch das Licht aufsaugt und alles um sich her dunkel werden lässt. Stephan Toss drückt das dadurch aus, dass er bis auf einen alle Tänzer in schwarze Kleidung steckt und die Bühne weitgehend abdunkelt. Nur das „Licht“ in Gestalt eines einzelnen Tänzers tritt in weißen Hosen auf und wird vom Scheinwerferlicht entsprechend ausgeleuchtet. In verschiedenen Szenen wird die Anziehungskraft des schwarzen Lochs dargestellt, so wenn sich ein Mann gegen den Sog der Gravitation wehrt, dann aber von dunklen Gestalten fast zärtlich in den Schlund der Schwerkraft geleitet wird. Der Kampf gegen die und die Angst vor der alles verschlingenden Macht des schwarzen Lochs bestimmt alle Szenen dieser Choreographie, und es stellt sich bald heraus, das es hier um eine Paraphrase des Todes geht. Das Licht steht für das Leben, die Dunkelheit für den Tod. Niemand kann der Dunkelheit – dem Tod – entgehen, doch der Weg dorthin ist von einem existenziellen Widerstand geprägt. Stephan Toss´ Choreographie lässt sich als stille Aufforderung verstehen, den Tod als letztlich unvermeidliches weil natürliches Ende allen Lebens zu akzeptieren und sich der ewigen Dunkelheit gelassen zu nähern. Dabei verzichtet er auf jegliche religiöse oder gar esoterische Überhöhung, ja, die Metapher des Todes ergibt sich sozusagen erst aus zweiter Hand bei der Interpretation der Dualität aus Licht und Dunkelheit und dem widerstrebenden Verhalten der Protagonisten an der Grenze zwischen den beiden Zuständen.
Die Wiesbadener Tanztruppe präsentiert diese Choreographie mit höchster Intensität, und die dazu gespielte Musik – unter anderem die „Aria“ aus Bachs „Goldberg-Vartiationen“ steigert diese Intensität noch und stellt einen besonderen spirituellen Bezug her.
Nach diesem schweren Stoff war im dritten Teil unbedingt eine Auflockerung vonnöten, um die Zuschauer nicht mit einem endzeitlichen Grübeln ins Wochenende zu schicken. Da war Jirí Kyliáns „“Sechs Tänze“ gerade das Richtige. Zu Beginn sieht man hinter dem nur ein wenig angehobenen Vorhang nur die Beine der Tänzer und Tänzerinnen – im letzten Augenblick kommen noch zwei weibliche Beine in großer Eile herbeigelaufen und postieren sich in der Mitte der ersten Reihe. Der erste Lacher. Wenn sich der Vorhang hebt, sieht man die ganze Truppe in angedeuteten weißen Rokokko-Kostüme, die Herren mit weißen Perücken und Kniebundhosen, die Damen in weißen Röcken. Dazu spielt die Musik Mozarts „Deutsche Tänze“ und die Tänzer deuten diese Musik in sechs Szenen auf völlig neue tänzerische Weise. Dabei nimmt die Truppe das Gezierte und Verspielte des Rokoko genauso auf den Arm wie sie die temperamentvolle und abwechslungsreiche Musik Mozarts tänzerisch deutet. Da werden die Bewegungen des Rokoko-Tanzes gerade in dem Maße übertrieben, dass die Witzig und nicht platt wirken. Immer neue Figuren und witzige Einlagen fallen den Tänzern ein, und vor allem das Spannungsverhältnis zwischen Männern und Frauen wird hier immer wieder lustvoll ausgetanzt. Dazu klopfen sich die Herren bei jeder Gelegenheit weiße Puderwolken aus den Perücken, und zwei Tänzer rollen in starren schwarzen Frauenkostümen auf die Bühne, um dort einige typisch weibliche „Zickentouren“ nachzuahmen. Jeder „Deutsche Tanz“ bringt entsprechend seiner musikalischen Form neue Ideen, die sich entweder in Einzelaktionen oder – zumeist – in originellen Formationstänzen niederschlagen.
Bei dieser Choreographie fanden die Zuschauer ihr Lachen wieder, und anschließend bedachten sie das Ensemble mit ausgiebigem, geradezu begeistertem Beifall. Den konnte man auch durchaus als „demonstrativ“ bezeichnen, hatte doch am selben Tage die Lokalpresse über die angeblich desinteressierte bis boykottierende Haltung der Darmstädter Intendanz gegen die Gastspiele der Wiesbadener Tanztruppe berichtet. Diese hatte nicht nur den Beifall zu Recht verdient, sie hätte auch ein wesentlich besser gefülltes Haus verdient gehabt, aber das ist eine andere Geschichte.
Frank Raudszus
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