Gerhard Hess inszeniert in Darmstadt Giuseppe Verdis Oper „Otello“.
William Shakespeare stellt in seiner Tragödie „Othello“ den Intriganten Jago in den Mittelpunkt, der aus enttäuschten Karrierehoffnungen eine Intrige gegen Otello, den ihm vorgesetzten erfolgreichen Feldherrn, anzettelt. Aus dem Wissen um die Zuneigung des ihm von Otello vorgezogenen Cassio zu Otellos Gattin Desdemona konstruiert er ein angebliches Liebesverhältnis, das er dem sowieso misstrauischen Otello wie ein langsam wirkendes Gift einflößt. So geschickt wie skrupellos beschaffte – angebliche – Beweisstücke überzeugen Otello von der Untreue seiner Frau, so dass er sie aus Eifersucht erwürgt. Als er angesichts der sterbenden Desdemona den wahren Sachverhalt erfährt, tötet er sich selbst.
Shakespeare hat diese Geschichte mit mehreren Handlungssträngen unterlegt, die sowohl Handlung als auch Protagonisten in ihren Facetten ausleuchten. So sperrt sich Desdemonas Vater aus den üblichen Vorurteilen lange, seine Tochter einem Farbigen („Mohr“) zur Frau zu geben, und auch die anderen Dogen halten an dem ungeliebten Otello nur wegen dessen militärischer Erfolge fest. Shakespeares Ot(h)ello ist sich von Anfang an der Tatsache bewusst, dass er nur geduldet ist und bei der ersten Schwäche buchstäblich in die Wüste geschickt werden wird. Das macht ihn misstrauisch und lässt ihn überall Verrat und Untreue wittern, selbst seiner eigenen Frau gegenüber. Jago erfasst diese psychische Situation intuitiv und nutzt sie skrupellos für sich aus, indem er den Verdacht nur verhalten andeutet. Er weiß, dass Otello in einer Art selbsterfüllender Prophezeiung auf jedes Gerücht sofort anspringen wird.
Verdis Librettist Arrigo Boito hat die Handlung konsequent zusammengestrichen und mehr oder minder auf die vier Hauptpersonen reduziert. Dadurch kommt Otellos inhärente Außenseiter-Rolle nicht zum Ausdruck, und seine sprunghafte Reaktion auf kleinste Gerüchte wirkt unverständlich. Verdis Oper geht daher einfach davon aus, dass Jagos Lügen per se wirken (müssen) und das Schicksal der beiden Hauptpersonen damit von der Handlung und nicht vom Kontext der gesellschaftlichen Situation bestimmt ist. Nicht das gesellschaftliche „Sein“ Otellos und seiner Umwelt bestimmt sein Schicksal, sondern die individuelle Boshaftigkeit des Jago, die damit in gewisser Weise zum „deus ex machina“ der Handlung wird.
Trotz eines fulminanten Auftakts – Seeschlacht und Sturm – gerät die Oper dadurch zumindest in den ersten beiden Akten ein wenig ins Stottern, da die Ereignisse nicht psychologisch oder aus zwingenden Konflikten abgeleitet sondern einfach von einer einzelnen Figur – Jago – angestoßen werden. Erst, wenn sich die Ereignisse im dritten und vierten Akt zuspitzen und heftige Emotionen auslösen, gewinnt die Oper an Tempo und Dichte. Hess versucht, die psychologische Situation auf anderem Wege zu verdeutlichen, jedoch mit fragwürdigem Erfolg. In dem Liebesduett am Ende des ersten Aktes erwartet zwei einander zugewandte Liebende, die sich ihre Zuneigung mit großer Innigkeit gestehen. Doch Hess lässt die beiden Protagonisten in einem deutlichen Abstand und zudem noch in unterschiedlicher Ausrichtung singen. Otello singt rechts in die Weite des Zuschauerraums hinein, Desdemona dreht ihm den Rücken zu und singt zur anderen Seite des Publikums. Wenn man nicht einen Anfänger-Fehler der Regie unterstellt, bleibt nur die INterpretation,d ass Hess mit dieser Personenanordnung das tiefe Misstrauen ausdrücken will, das Otello von Beginn an gegen seine Umgebung hegt. Das wäre schlüssig, lässt sich aber dem Publikum nur schwer vermitteln, weil dazu die anderen Indizien fehlen.
Ein Regisseur hat bei dieser Oper auch noch mit anderen Schwierigkeiten zu kämpfen. Heute verlangt man von jedem Opernsänger, auch schauspielerisch zu glänzen. Dazu gehören Körpersprache genauso wie Nutzung des Bühnenraums. Im Idealfall bewegt sich ein Sänger während seines Gesangs so auf der Bühne, wie es die jeweilige Handlung verlangt: streitend, liebend, fliehend oder angreifend. Das lässt sich in der Oper des 18. und frühen 19. Jahrhunderts auch gut umsetzen, da dort die Arien einem festen metrischen Maß folgen und aus mehreren Strophen mit wiederkehrendem Refrain bestehen. Die Sänger können innerhalb dieses vorgegebenen Rahmens, der auch meist vom Orchester entsprechend unterstützt wird, ihre Arien ohne große Einschränkungen hinsichtlich der Abstimmung mit Dirigent und Orchester vortragen. Der späte Verdi folgt jedoch – vor allem im „Otello“ – zunehmend Wagners Konzept der durchkomponierten Oper, die keine klar strukturierten Arien – „Ohrwürmer“ – mit wiederkehrenden Elementen mehr enthält, sondern den Gesang am emotionalen Gehalt der Texte ausrichtet. Das führt zu wesentlich komplexeren musikalischen Konstrukten, die nicht mehr einem erkennbaren Liedschema sondern den Anforderungen des jeweiligen emotionalen Ausdrucks folgen. Dies erfordert wiederum wesentlich mehr Abstimmung mit dem Dirigenten, was mit sich führt, dass die Sänger eben nicht mehr die Bühne frei nutzen können. Wie auch bei Wagner stehen die Sänger mehr mit – vielleicht verstecktem -Blick zum Dirigenten. Dazu kommt noch, dass die komplexere und expressivere Musik auch mehr Stimmvolumen verlangt, das man nicht in jeder körperlichen Haltung aktivieren kann. Gesang im Liegen gibt es dann eben auch nur in Sterbezenen – so auch im „Otello“ -, die sowieso nur noch die leisen Töne verlangen.
Mit diesen Randbedingungen hatte auch Gerhard Hess in seiner Inszenierung zu kämpfen, und er tut sich in den ersten beiden Akten damit etwas schwer. Bühnenbildner Matthias Nebel hat zudem ein fast puristisches Bühnenbild aufgebaut: etwa ein Dutzend bühnenhoher weißer Pfeiler mit quadratischem Querschnitt stehen zu Beginn für die Masten der mit Türken und Sturm kämpfenden Schiffe und fallen auch um – von Kanonenkugeln oder Böen getroffen. Später stehen sie für das tönerne Fundament von Otellos Leben in Venedig. Die unsauberen oberen Bruchkanten deuten den Verlust des schützenden Daches an, Zeichen von Otellos existenzieller Obdachlosigkeit. Die einförmig weiße Farbgebung und der weitgehende Verzicht auf besondere Lichteffekte verleihen dem Bühnenraum über fast die gesamte Spieldauer den Charme einer Klinik. Das war vielleicht auch die Intention des Regisseurs, denn hier wird krankhafte Eifersucht diagnostiziert, aber nicht therapiert. Der Patient vertraut sich sozusagen einem kriminellen Pfleger an und wird von diesem zielgerichtet zu Tode gepflegt. Dass am Schluss doch noch die Wahrheit herauskommt, ist dann nur ein Apercu.
Die Kostüme – ebenfalls Matthias Nebel und Charlotte Pistorius – siedeln das Stück etwa um die Zeit der Entstehung der Oper an, durchaus ein übliches Verfahren. Hess verzichtet also auf jegliche Aktualisierung des Stoffes, was bei der zeitlosen Art des Konflikts – Eifersucht und Intrige – einleuchtet. Die weißen Paradeuniformen der männlichen Protagonisten – alle Soldaten – mögen zwar etwas pompös erscheinen, stören aber nicht weiter.
Der eigentliche Hauptdarsteller in Verdis vorletzter Oper ist jedoch weder Otello noch Desdemona sondern die Musik. Verdi hat für diese Oper ein überaus dichtes Geflecht aus musikalischen Elementen geschaffen, das jede Situation des Bühnengeschehens musikalisch nachbildet und jede Emotion in all ihren Facetten zum Vorschein bringt. Es gibt in diesem musikalischen Strom kaum eine Pause und keine nur begleitende orchestrale Funktion. Jeder Takt ist gestaltet, und die Instrumentierung erzeugt für jede Situation die passende Klangfarbe, von grellen Blechbläsern bei einbrechendem Unheil über das Rauschen des Sturms in den Streichern und die lyrischen Flöten der Liebesszenen bis zu den Paukenschlägen der jeweiligen seelischen Nackenschläge. Der Orchesterpart zu dieser Oper reicht allein schon für eine konzertante Aufführung. Das macht es für die Sänger natürlich nicht unbedingt leichter, da sie stets der Konkurrenz dieser eindringlichen und außerordentlich präsenten orchestralen Musik ausgesetzt sind. Da kann es dann schon einmal vorkommen, dass das Orchester die Bühnenhandlung zwar nicht an Lautstärke sondern an Eindringlichkeit übertrifft. Ein Beispiel dafür ist der Auftritt des Abgesandten Lodovico (Kyung-Il Ko), dem gegenüber dem Orchester die stimmliche Präsenz fehlt.
In den Hauptrollen zeigten die Sänger jedoch ansprechende bis hervorragende Leistungen. An erster Stelle ist Susanne Serfling zu nennen, die der Desdemona nicht nur als Person ein durch und durch überzeugendes Profil verleiht, sondern auch stimmlich brilliert, dieses Mal vor allem in den lyrischen Passagen einer liebenden Frau, die ihren Ehemann nicht mehr versteht. Sie setzt einen wirkungsvollen Kontrast gegen die vor allem von Kampf und Erregung geprägten Männerrollen. Joel Montero als Otello begegnet ihr auf Augenhöhe, wenn er auch – bedingt durch die stimmlichen Anforderungen – schauspielerisch nicht immer so agieren kann, wie es die Situation verlangt. Die leisen Töne kann man eben leichter mit dem Darstellerischen verbinden als die lauten. Enrico Marrucci ist als Jago zwar stets präsent, auch stimmlich, man hätte sich von ihm aber ein wenig mehr das Ausspielen der Verschlagenheit seiner Figur gewünscht. Zeitweise wirken seine Intrigen ein wenig wie Pennälerstreiche, die kein Entsetzen auslösen. Allerdings steigerte er sich mit zunehmender Spieldauer. Doch zum Schluss, nach der Aufdeckung seiner Machenschaften, läuft er buchstäblich davon wie ein ertappter Grundschüler. Ein professioneller Intrigant macht sich anders aus dem Staub. Ein fast humoristischer Nebeneffekt ist Marruccis Physiognomie, die derart verblüffend an den Fernsehintriganten Stromberg erinnert, dass man anfangs an einen absichtlichen Maskentrick glaubt. Erst bei der anschließenden Premierenfeier stellte sich das natürliche Doppelgängertum heraus. Arturo Martin füllt die Rolle des Cassio ebenso solide aus wie Peter Koppelmann die des Rodrigo. Erica Brookhyser ist in der Rolle der Emilia in den entscheidenden Momenten sehr präsent. In weiteren Rollen treten Werner Volker Meyer (Herold) und Thomas Mehnert (Montano) auf.
Der Chor des Staatstheaters hat gleich zu Beginn in der Sturm- und Schlachtenszene einen großen Auftritt, wobei er das Wogen der See sowohl optisch als auch stimmlich überzeugend wiedergibt. Später sorgt er in mehreren Volksszenen für die Belebung des bisweilen etwas statischen Bühnengeschehens.
Ein besonderes Kompliment hat sich bei dieser Inszenierung das Orchester unter der Leitung von Anna Skryleva verdient. Von Beginn an zeigt es höchste Konzentration und Präsenz. Verdis dichte, expressive Musik zu diesem Libretto intoniert das Ensemble mit durchgehender, klarer Transparenz und viel Aufmerksamkeit für die jeweiligen emotionalen Ausprägungen der Handlung. Das Orchester steht in dieser Inszenierung sozusagen als weiterer stimmstarker „Sänger“ wenn nicht auf der Bühne dann aber vor ihr.
Das Premierenpublikum spendete den Darstellern und dem Orchester kräftigen bis begeisterten – Susanne Serfling! -, der Regie und dem Bühnenbild eher gemäßigten Beifall.
Weitere Aufführungen finden am 21. März sowie am 4., 20. und 26. April statt.
Frank Raudszus
No comments yet.