Johannes Brahms stand im Mittelpunkt des 5. Sinfoniekonzertes des Staatstheaters Darmstadt. Das ging zwar aus dem Programm nicht unmittelbar hervor, zeigte sich jedoch im Laufe des Abends an den einzelnen Kompositionen und ihrer jeweiligen Nähe zu dem Hamburger Komponisten. Am Anfang stand das Orchesterwerk „Nähe fern 3“ des zeitgenössischen Komponisten Wolfgang Rihm. In dem vierteiligen Zyklus hat sich Rihm vor allem mit Brahms´vier Sinfonien auseinandergesetzt, in Teil 3 also mit der 3. Sinfonie, die als letztes Werk auf dem Konzertprogramm stand. Das Solokonzert, wie üblich in der Mitte des Abend angesiedelt, stammte zwar aus der Feder des russischen Komponisten Sergej Prokofjew, der weder als Brahms-„Fan“ noch als dessen Schüler gilt, doch dieses Konzert weist deutliche Parallelen zu Brahms´ Klavierkonzerten auf, vor allem zum ersten. So war die Planung dieses Konzertes also sorgsam auf Johannes Brahms oder zumindest auf die Musik zugeschnitten, für die er steht. Für die Präsentation dieses Programms hatte man die griechische Dirigentin Stamatia Karampini eingeladen, die sich in den letzten Jahren internationales Renommé erarbeitet hat.
Wolfgang Rihm hat sich nicht nur intensiv mit Johannes Brahms beschäftigt, er bekennt sich auch als Verehrer des Komponisten. In seinem Zyklus „Nähe fern“ hat er sich die schwierige Aufgabe gestellt, den musikalischen Kern der Musik Brahms´ mit den musikalischen Mitteln des späten 20. Jahrhunderts nachzubilden, ohne dabei ins Epigonale zu verfallen. Dabei ging Rihm von einem klassischen Orchester aus; instrumentale Experimente und elektronische Effekte kamen – jedenfalls für diese Komposition – nicht in Frage. Während bereits die ersten Takte harmonisch und metrisch auf die Moderne verweisen und damit verdeutlichen, dass Rihm nicht Brahms´ Musik nachkomponieren will – etwa wie bei Prokofjews „Symphonie Classique“ -, erinnert der weitere Verlauf des Werks immer deutlicher an Johannes Brahms, speziell sein sinfonisches Werk. Duktus und Klangfarben folgen dem Vorbild, jedoch eingebettet in eine zeitgenössische Harmonik mit ihren ausgeprägten Dissonanzen und geschärfter Dynamik. Einmal blitzt sogar ein ganz kurzes Zitat aus der 3. Sinfonie auf, doch dabei belässt es Rihm. Wichtig ist ihm der „Fluss“ der musikalischen Ideen, wie er bei Brahms endlos dahinzuströmen scheint. Auch die Metrik lehnt sich zwischenzeitlich in ihrem getragenen Maß an Brahms an, um dann wieder eruptiv in die Neuzeit überzugehen. Deutlich tonale Passagen, die an das späte 19. Jahrhundert erinnern, wechseln sich mit anderen an der Nähe zur Atonalität ab. Dabei erinnern die Klangfarben zeitweilig an Richard Strauss, wenn sie von der satten Harmonik eines Johannes Brahms ins Schillernde späterer harmonischer Ansätze übergehen.
Dank der Aufmerksamkeit des Orchesters und der konzentrierten Leitung der Dirigentin kam die Gratwanderung dieser „Brahms-Hommage“ treffend zum Ausdruck. Es gelang vorzüglich, das Wesen der Musik des norddeutschen Spätromantikers herauszuarbeiten und zugleich die künstlerische Eigenart des zeitgenössichen Komponisten Rihm zu bewahren und zu gestalten.
Für den Solopart von Sergei Prokofjews Klavierkonzert Nr. 2 in g-Moll hatte man den chilenischen Pianisten Alfredo Perl gewinnen können, den man dem erfahrenen Publikum nicht mehr gesondert vorstellen muss. Prokofjew hat das Konzert im Alter von etwa 21 Jahren komponiert und zehn Jahre danach überarbeitet. Das Konzert lässt sich auch als „Sinfonie mit obligatem Klavier“ bezeichnen, denn das Orchester beschränkt sich nicht auf eine begleitende Funktion, sondern spielt einen ganz eigenen, gewichtigen Part. Dabei wechseln sich Solist und Klavier nicht – wie bei anderen Solokonzerten üblich – in einem „Frage-Antwort“-Spiel ab, sondern verzahnen sich eng miteinander, ohne dass deswegen das Klavier im Orchesterklang verschwindet. Das erreicht Prokofjew durch eine akkordische Struktur, bei der beide Hände Akkordketten mit Verve, ja Wucht präsentieren. Das Konzert beginnt mit einer langsamen Introduktion (Andantino), die sich zum leichten Allegretto entwickelt und schließlich in eine ausgedehnte Kadenz des Klaviers mündet, in der der Solist nicht nur sein ganzes pianistisches Können – technisch wie interpretatorisch – zeigen, sondern auch die ganze spätromantische Fülle dieses Werkes auskosten kann. Der zweite Satz kommt als lebhaftes Scherzo („vivace“) daher und zeigt die andere Seite von Prokofjews pianistischem Credo: filigrane Strukturen in schnell wechselnden Lagen und raffinierte Klangfarben prägen diesen Satz. Der dritte Satz beginnt geradezu düster-drohend, und der fast archaisch kompromisslose Ausdruck bleibt bis zum Ende des Satzes erhalten. Der Finalsatz schließlich zeigt sich als ein temperamentvolles Allegro, das die gedrückte Stimmung des dritten Satzes wieder aufhebt, ohne deswegen heiter zu wirken. Scharfe Kontraste und dissonante Klänge prägen auch diesen Satz, der trotz seiner Länge nie langatmig wirkt und immer wieder harmonische und melodische Überraschungen bietet.
Alfredo Perl zeigte sich als souveräner, zupackender Solist, der sich auch gegenüber dem sehr präsenten Orchester durchsetzen konnte, ohne deswegen einen Wettstreit um die Führungsrolle aufzunehmen. Wo nötig, ließ er dem Orchester den führenden Part, um an den vom Komponisten vorgesehenen Stellen wieder in den Vordergrund zu treten. Die Kadenzen – vor allem die lange im ersten Satz – sind jedoch nicht die einzigen Stellen, an denen das Klavier die Führung übernimmt. Auch in anderen musikalischen Situationen spielt sich das Klavier bewusst in den Vordergrund, und dann wiederum tritt das Orchester etwas zurück. Dieses fein dosierte Zusammenspiel zwischen Solist und Orchester funktionierte dank der aufmerksamen Leitung von Stamatia Karampini hervorragend, und Alfredo Perl achtete sehr genau auf die Zeichen der Dirigentin und richtete sein Spiel danach aus. Dabei hatte er im wahrsten Sinne des Wortes alle Hände voll zu tun, um den fülligen Klavierpart zu präsentieren. Er tat dies mit hoher Souveränität und viel Gespür für die feinen Nuancen und die kräftigen Akzente von Prokofjews Harmonik und Metrik. Das Publikum zeigte sich von Alfredo Perls Interpretation derart angetan, dass dieser noch ein Stück von Isaac Albeniz als Zugabe spielte.
Der zweite Teil bot dann schließlich das „Original“ zu Rihms Vorspiel und die sinfonische Parallele zu Prokofjews Klavierkonzert. Und hier schloss sich der Kreis zum Beginn. Mit Rihms Musik noch im Gehör, hörte man Brahms´3. Sinfonie mit ganz anderen Ohren als üblich. Plötzlich erkannte man die für die damalige Zeit bereits moderne Harmonik, die eigenwillige Metrik und das komplexe Zusammenspiel der einzelnen Instrumentengruppen. Rihm hatte dem Publikum die Ohren geöffnet für eine aufgefrischte, wenn nicht gar neue Brahms-Rezeption. Fast könnte man das Bonmot „Rihm rahmt Bahms“ prägen, um auszudrücken, wie Rihms Musik sozusagen als Ankündigung die rhythmische und harmonische Vielfalt der Brahms-Sinfonie(n) zum Ausdruck bringt. Stamatia Karampini verzichtete auf besondere Effekte und konzentrierte sich darauf, die Komplexität der Partitur zu verdeutlichen. Um dies zu erreichen, musste sie in erster Linie vermeiden, dass sich der Orchesterklang zu einem „bräsigen Brei“ entwickelte, der bei Brahms-Sinfonien wegen ihrer lang gezogenenen und getragenen Themen stets latent im Hintergrund als Gefahr lauert. Stamatia Karampini gelang dies, indem sie in erster Linie auf die Transparenz der Interpretation achtete, die teilweise sogar zu einer gewissen Trockenheit der Interpretation führte. Aber das ist auf jeden Fall besser als breite, gefühlige Klangseligkeit. Dabei profilierten sich wieder einmal die Bläser, die dem Klangbild Schärfe und Präzision, jedoch nie schrille Härte verliehen.
Das Publikum bedankte sich bei dem Ensemble mit anhaltendem Beifall, und GMD Martin Lukas Meister sorgte mit der herzlichen Verabschiedung des langjährigen Orchestermitglieds Tsukasa Hatsukana (Violine) noch für den abschließenden Höhepunkt.
Frank Raudszus
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