Das Staatstheater Darmstadt inszeniert Jacques Offenbachs „Die Großherzogin von Gerolstein“ neu.
Operetten des 19. Jahrhunderts und die ihnen nahe stehenden Musikgattungen sind tendenziell eine zum Aussterben verurteilte Gattung. In ihnen geht es meist um mehr oder minder leichte Gesellschaftskritik, die vornehmlich die (Un-)Sitten der jeweiligen Gesellschaft aufs Korn nehmen. Die Musik lehnt sich meist an die der großen Schwester „Oper“ an, ist jedoch bewusst leichter, humoristischer und oft karikierend gehalten. Der deutschstämmige Jacques Offenbach feierte seine größten Erfolge in Frankreich und hinterließ eine Reihe von fast „unsterblichen“ Operetten, die sich alle durch satirischen Witz und eingängige Musik auszeichneten und deshalb, zur Unterscheidung von der Wiener Operette, die Gattungsbezeichnung „Offenbachiade“ erhielten.
„Die Großherzogin von Gerolstein“ beschreibt einen fiktiven deutschen Kleinstaat um die Mitte des 19. Jahrhunderts, in der die unverheiratete und gelangweilte Großherzogin für Trubel bei Politikern und Militärs sorgt, weil sie sich überall einmischt. Also beschließt man, ihr ersten einen Mann zu besorgen und zweitens einen Krieg zu inszenieren, um sie abzulenken. Der Bräutigam Prinz Paul erweist sich jedoch als ziemlich dümmlich, und die Herzogin ist mehr an dem einfachen aber kräftigen Soldaten Fritz interessiert, der wiederum nur Augen für das Mädchen Wanda hat. Um ihn zu ködern, befördert sie ihn kurzerhand zum General, und düpiert damit sowohl General Bumm als auch Baron Pück, der die politischen Fäden zieht. Nach dem kurzen Krieg, den Fritz gewinnt, weil er den Gegner betrunken gemacht hat, will die Großherzogin ihn für sich gewinnen, doch Fritz bittet um die Erlaubnis, Wanda zu heiraten. Darauf genehmigt die enttäuschte Großherzogin das Komplott, das Bumm, Pück und der tumbe Paul gegen Fritz planen. Doch statt eines Meuchelmordes entscheidet sie nach einem längeren Monolog zur Enttäuschung der potentiellen Mörder, ihm nur einen Denkzettel zu verpassen. Der wieder zum einfachen Soldaten degradierte Fritz wird schwer vermöbelt und erhält seinen Abschied, um Wanda zu heiraten.
Mit einer solchen Geschichte aus dem 19. Jahrhundert kann man heute natürlich kaum noch einen Hund hinter dem Ofen vorlocken. Das hat auch Michael Quast, einer der führenden deutschen Musik-Komiker, erkannt, und zusammen mit dem Theaterautor Rainer Dachselt eine neue Übersetzung erarbeitet, die erstens die Sprache auf das heutige Alltagsniveau bringt (wir wollen nicht sagen: hebt) und zweitens lokale Idiome (Hessisch) hineinwebt. Diese neue Version stärkt natürlich das Identifikationspotential des Stücks, und vor allem die Quastschen Sprachschöpfungen sind immer für einen Lacher gut.
Regisseur Axel Richter hat das Stück in seiner Inszenierung noch um einige Zutaten angereichert. Die Bühne (Klaus Noack) lässt er als Shopping Mall gestalten, deren Mitte ein überdimensionierter Rundbrunnen samt zentraler Fontäne bildet. Der tiefere Sinn dieses die Bühne dominierenden Brunnens erschließt sich nicht, denn es fällt keiner hinein (auch kein Kind), das Wasser spielt auch keine wesentliche Rolle, und der Springbrunnen tritt auch nur zwei Mal kurz in Aktion. An den Seiten stapeln sich Kartons mit Sonderangeboten – Sale! -, und eine Bar lädt zu Bier und Würstchen ein. Der Konsumpalast des 21. Jahrhunderts ersetzt den Pomp eines zwergstaatlichen Herrscherhauses des 19. Jahrhunderts, und das Ziel der Satire wechselt damit vom Feudalsystem zur freien Marktwirtschaft. Das bringt natürlich einige Detailprobleme mit dem Text mit sich, denn dieser spricht dauernd von mehr oder minder ernsten Kriegsspielen, von Standesdünkel und von arrangierten Hochzeiten, Themen, die nicht unbedingt der deutschen Realität im frühen 21. Jahrhundert entsprechen. Doch ein Thema überdauert alle Zeitläufte: der Kampf um die Macht; und die spielt Axel Richter denn auch genüsslich aus. Seine Figuren, vor allem die Politiker, sind Machtmenschen par excellence in heutiger Berufskleidung – Anzug, Krawatte. Da ist einmal General Bumm (Thomas Dehler), dessen Figur und Bass-Stimme sich ideal eignen, um einen Wiedergänger des frühen Helmut Kohl zu formen. Dazu lässt Richter diesen Bumm im ersten Teil stets im dunklen Zivilanzug und mit schwarzem Koffer(!) auftreten. Alles klar? Bei dieser – natürlich rein zufälligen – Ähnlichkeit mit der Realität fragt man sich natürlich, ob sich die Analogien durch das ganze Ensemble ziehen. Mit einiger Phantasie kann man in dem energischen Baron Pück (Stefan Schuster) den jüngeren Helmut Schmidt sehen, doch drängt sich hier die Ähnlichkeit nicht unbedingt auf. Bei Prinz Paul (István Vincze) braucht man gar nicht erst nach einem realen Pendant zu suchen, weil er von Anfang an als Trottel angelegt ist, und die Großherzogin (Diana Wolf) nimmt Richter bewusst heraus, wahrscheinlich, weil ihre Figur – emotional, spontan, ein wenig verrückt – sich politisch kaum instrumentalisieren lässt.
Den Soldaten Fritz verwandelt Richter in einen Müllwerker, der frühmorgens in der Shopping Mall die Mülleimer leert, seinen raschen Aufstieg zum General nicht begreift und mit einer gewissen Bauernschläue nicht nur alle Unbill über sich ergehen lässt sondern auch dem Schicksal ein Schnippchen schlägt. Hier lässt Richter den pragmatisch-progressiven Bediensteten der Molière-Stücke wieder aufleben. Auch Zitate verschiedener Art findet man in dieser Inszenierung. So lagert sich Fritz alias Tom Wild bei der versteckten Werbung der Großherzogin wie Adam in Michelangelos Deckengemälde „Die Erschaffung Adams“ auf dem Brunnenrand und streckt Diana Wolfs Zeigefinger die große Zehe entgegen. Dann inszeniert Richter zu Beginn des zweiten Teil das Interview einer etwas untersetzten Politikerin mit kurzem Haar und Hosenanzug, deren Gesicht auf die Bühnenrückwand projiziert wird, und lässt sie zu dem gerade gewonnenen Krieg bedeutende aber inhaltsleere Worte sagen, bevor sie auf zwei Krücken die Bühne verlässt. Diese Szene benötigt keinen Kommentar. An anderer Stelle wiederum beantwortet General Bumm die Frage, woher er die neuesten Informationen zum Kriegsverlauf habe, mit dem kurzen Wort „Griesheim“. Nur Darmstädter wissen, dass hier eine geheime Abhörstation der Amerikaner seit Snowden für Diskussionen sorgt.
Für die Musik dieser Inszenierung ist Michael Erhard verantwortlich, der auch selber am Klavier dirigiert. Die ursprüngliche Besetzung wurde zwecks Transparenz reduziert und mit dem Klavier angereichert. Dadurch erhält die Musik eher den Charakter eines Vaudevilles, wie es in einfachen Établissments des 19. Jahrhunderts gespielt wurde, und verzichtet bewusst auf den satten Klang eines Orchesters. Ein wenig erinnert die Musik durch die sparsame aber akzentuierte Intonation an die musikalische Untermalung Brechtscher Werke wie die „Dreigroschenoper“. Das Ensemble begleitet das Bühnengeschehen nicht nur sehr präzise sondern verleiht der Musik gerade durch die kontrollierte Klangreduktion ein eigenes Gewicht.
Die Darsteller übernehmen das Konzept der farcenhaften Satire und setzen es überzeugend um. Tom Wilds Fritz ist in seiner urwüchsigen Naivität ein verkappter Revolutionär, der es nur nicht weiß. Er geht seinen Weg, indem er sich mit einer gewissen Schlitzohrigkeit und einem unerschütterlichen Optimismus aus allen Schlingen befreit. Diana Wolf spielt eine schillernde, mal mondäne, mal machtbewusste, mal männermordende Frau, die versucht, in dem machtbesessenen Männerladen ihr persönliches Glück zu finden, am Schluss aber mit dem ungeliebten Prinzgemahl dasteht. Sie findet auch die richtige Balance zwischen Witz und Rührseligkeit, denn die Großherzogin ist durchaus eine Frau mit Skrupeln, die in sich den Kampf zwischen der Rachsucht der verschmähten und der Empathie der liebenden Frau auskämpft.
Thomas Dehler gibt den Kohl-Verschnitt General Bumm mit viel chauvinistischer Bonhomie und rumpelnder Empörung, Stefan Schuster den Baron Pück mit der kompromisslosen Schärfe des Ehrgeizlings, und István Vincze ist ein herrlich verpeilter Prinz Paul mit Blumenstrauß und roten Bäckchen. Harald Schneider gibt den Brautwerber Baron Grog als leicht verwirrten Biedermann und Isabell Dachsteiner schließlich verleiht Fritzens Freundin Wanda viel Selbstbewusstsein und Zielstrebigkeit. Auch bei ihr kommt wieder Molières „Bediensteten-Schema“ zum Vorschein. Der Chor kommt in dieser Inszenierung viel zum Einsatz und tritt in den verschiedensten Volksszenen mit viel Beweglichkeit und stimmlicher Präsenz auf.
Für alle Darsteller gilt, dass sie sich – im Hauptberuf Schauspieler und keine Opernsänger – gesanglich wacker schlagen. Am eindrucksvollsten beweist Diana Wolf ihr Sanges- und Unterhaltungstalent. Tom Wild hielt trotz gesundheitlicher Schwierigkeiten bravourös durch und zeigte keine hörbaren stimmlichen Schwächen. Auch die anderen Darsteller fügten sich in das musikalische Konzept nahtlos ein und zeigten musikalischen Gespür und auch Stimme.
Bleibt noch eine Szene zu erwähnen, wenn Tom Wild nach dem zweiten angeblichen Kampfeinsatz seiner Figur auf die Bühne zurückkommt, plötzlich in unverkennbarem Pfälzer Dialekt als Schauspieler Wild über seine Befindlichkeit angesichts des bevorstehenden Intendantenwechsels spricht und auch die eigenen Existenzängste erwähnt. Das kommt nicht etwa wehleidig daher, sondern eher im Stil der Offenbach-Inszenierung, wirkt aber gerade dadurch authentisch und berührend. Plötzlich wird dem Zuschauer klar, dass zwischen dem herumgeschubsten Fritz bei Offenbach und dem gekündigten Wild (und anderen) beim Theater kein großer Unterschied besteht. Nur kann Tom Wild nicht schnell mal einen Krieg gewinnen……
Diese Inszenierung von Offenbachs „opéra bouffe“ kann man im weitesten Sinne als alte Späße in neuen Kleidern betrachten; deshalb ist sie jedoch nicht weniger amüsant und erlaubt doch einige treffende Anspielungen an heutige Verhältnisse. Den Besuchern der Premiere hat es auf jeden Fall gefallen, was sie durch kräftigen Beifall unterstrichen.
Weitere Aufführungen am 15., 20. und 27. März sowie am 6., 10., 19. und 30. April.
Frank Raudszus
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