Im Jahr 1898 verfasste der US-amerikanische Schriftsteller Henry James den Roman „The Turn of the Screw“, in dem es um Halluzinationen und die zeittypische Besessenheit von Geistern geht. Eine junge Frau tritt ihren Dienst als Erzieherin zweier Waisenkinder auf einem englischen Landgut an. Der Auftraggeber erscheint nur in der Erzählung der Gouvernante, und auf dem Landgut lebt außer den beiden Kindern nur eine körperlich behinderte Haushälterin. Schon bald nach ihrem Einzug meint die junge Frau, die schemenhafte Figuren eines Mannes und einer Frau zu sehen, die offensichtlich den Kindern nachschleichen. Die Haushälterin bricht auf diese Mitteilung in Entsetzen aus und berichtet von dem ehemaligen Hausdiener Peter Quint und der vorigen Gouvernante Miss Jessel, die beide wohl etwas miteinander hatten und eines ungeklärten Todes starben. Für sie sind die schemenhaften Gestalten die Geister der Toten. Die junge Gouvernante glaubt fest daran, dass auch die Kinder die Geister sehen und unter ihnen leiden, ja, unmittelbar von ihnen bedroht werden. Ihr Drang, die Kinder, vor allem den kleinen Miles, vor den beiden Gespenstern zu schützen, wächst sich geradezu zur Besessenheit aus, und jede ungewöhnliche Verhaltensweise der Kinder legt sie den vermeintlichen Wiedergängern zur Last. Am Ende erstickt sie Miles unabsichtlich bei dem Versuch, ihn vor dem wieder einmal mit blutrünstigen Absichten erscheinenden Peter Quint zu retten.
Die Sekundärliteratur hat diese hintergründige Geschichte auf unterschiedliche Weise interpretiert, von der reinen – hochromantischen – Geistergeschichte über freudianische Tiefenpsychologie bis hin zu einer abenteuerlichen marxistischen Klassentheorie, hat sich jedoch bis heute nicht auf eine eindeutige Linie einigen können. Zwar spielten vor allem bei der freudianischen Variante auch sexuelle Anspielungen – die Gefährdung kindlicher Unschuld durch tief verborgene irrationale Wünsche – eine gewisse Rolle, die Pädophilie als eindeutig definierte gesellschaftliches Phänomen gehört jedoch nicht dazu. Das nur als Randbemerkung angesichts der Darmstädter Inszenierung.
Benjamin Britten hat diesen Roman ein halbes Jahrhundert später – genauer im Jahr 1954 – als Vorlage seiner Oper gleichen Namens gewählt. Henry James erzählt die Geschichte eindeutig aus der Perspektive der Ich-Erzählerin. Dadurch bleibt bis zum Schluss offen, ob die Geister tatsächlich existieren – man glaubte damals durchaus daran! – oder ob sie nur in der Einbildung einer überspannten oder gar geistig kranken Frau erscheinen. Die Umsetzung in eine Bühnenhandlung steht damit vor einem Problem: will sie den Roman nicht durch eine Erzählerin vorlesen lassen, was den Sinn einer Bühnenfassung konterkarieren würde, muss sie die Geister im Kontext der Erzählerin und der Kinder darstellen, auch wenn sich die Erscheinungen nur im Kopf der Erzählerin abspielen sollten. Ob man die Mehrdeutigkeit auf der Bühne überhaupt darstellen kann (und will) und wie man dies bewerkstelligen könnte, ist eine Frage, die sich jeder Regisseur grundsätzlich beantworten muss. Natürlich kann ein Regisseur davon ausgehen, dass die Kinder ebenfalls unter der Obsession der Geister leiden, sei es nur aus ihrer Erinnerung an real verhasste Lebende oder sei es aus Angst vor vermeintlichen Gespenstern, in deren Existenz sie sich hineinsteigern. Er kann die Geschichte natürlich auch als bloße Halluzinationen einer Verrückten denunzieren, was allerdings der Geschichte ihre Doppelbödigkeit und ihren transzendentalen Charakter rauben würde.
Man kann die Geschichte nämlich auch aus religiöser oder philosophisch-ontologischer Sicht deuten und ihr damit eine transzendentale Bedeutung zumessen. Die Anonymität des Auftraggebers verweist dann wahlweise auf die göttliche Instanz oder auf ein imaginäres Ziel der Menschheit. Die Kinder stehen für die Chancen und die „Unschuld“ zukünftiger Generationen, die beiden Frauen für die gegenwärtige, überforderte oder gar moralisch(?) gebrechliche Generation, kurz: für die Menschheit, wie sie ist. Die Geister der Toten repräsentieren dann wiederum je nach Auslegung das „Böse“ – der gefallene Engel, Luzifer – oder die verdrängten Triebe und Sehnsüchte des Menschen, die sich rational nicht beherrschen lassen und eine tödliche Bedrohung für die individuelle und gesellschaftliche Stabilität oder gar Existenz darstellen. Das Ende ließe sich dann kulturpessimistisch so deuten, dass die Rettung vor dem Bösen unmöglich ist, oder als Apotheose in dem Sinne, dass die Erlösung nur im Tod erfolgen kann, wie etwa in Wagners „Tristan“.
Lothar Krause wählt in seiner Inszenierung in Darmstadt den Weg, der die Kinder einbezieht und den Geistererscheinungen auch in den Köpfen der Kinder eine reale Existenz einräumt. Durch diese „Entindividualisierung“ aus den Vorstellungen der Erzählerin erreicht er die transzendentale Ebene wie oben ausgeführt. Zwar führt auch er anfangs kurz die Rahmenerzählung ein, in der ein Gutsherr zufällig den vergilbten Bericht der Gouvernante findet – ein weiterer Kunstgriff, um die Mehrdeutigkeit und die Subjektivität des Erzählten zu steigern -, doch die eigentliche Handlung enthält keinen Verweis auf diese Rahmenhandlung mehr. Stattdessen erzählt er die Geschichte als spannendes Vexierspiel über Realität und Vorstellung. Die Hauptrolle der Gouvernante (Susanne Serfling) legt er von Anfang an nicht als nervlich angeschlagene, zu Halluzinationen neigende Person, sondern als pragmatisch-vernünftige und verantwortungsvolle junge Frau an. Außerdem reagieren bei ihm die Kinder eindeutig auf die Geister der Toten, die sich ihnen nähern, sie umschmeicheln und sie für sich gewinnen wollen. Dabei kommt zum Ausdruck, dass die Toten in der Bemächtigung der Kinder Erlösung finden. Krause deutet jedoch noch eine andere Interpretation an: bei ihm ist die tote Miss Jessel hochschwanger. Der kleine Miles könnte also ihr Kind sein und Peter Quint der Vater. Indem sie sich das Kind ins Totenreich holen, erlösen sie sich selbst von einem Fluch, der auf ihnen lastet. Da die Handlung jedoch keinerlei konkreten Hinweise auf solche Deutung gibt, bleibt sie nur als latente Möglichkeit im Raum, eine durchaus legitime Möglichkeit, den Deutungsraum zu erweitern.
Peter Quint (Lasse Penttinen) und Miss Jessel (Anja Vincken) greifen in dieser Inszenierung auf signifikante Weise ins Geschehen ein, nicht nur als Schrecken verbreitende Geister aus dem Hintergrund, sondern in direkten verbalen Interaktionen mit den Kindern. Mit Locken, Klagen, Drohen und Schmeicheln versuchen beide, die Kinder an sich zu binden und in ihr Reich hinüberzuziehen. Peter Quint und Miss Jessel sind nahezu realer Bestandteil des Lebens der beiden Kinder, während die Gouvernante, die den Kindern nahesteht(!), die Geister nur schemenhaft wahrnimmt, sie aber spürt. Einen deutlichen Hinweis auf eine religiöse Interpretation lässt Lothar Krause den Geist des Peter Quint geben. In einer bedrängenden Szene zwischen Peter Quint und Miles kurz vor dem Ende bietet Peter dem kleinen Jungen auf insistierende Weise einen Apfel an, den dieser schließlich annimmt und isst. Kurz drauf stirbt Miles.
Der Titel der Geschichte beruht auf der Vorstellung, dass sich die Schraube der Obsessionen von Szene zu Szene um eine Windung weiterdreht und sich dabei jedesmal ein Stück in Richtung des tödlichen Endes vorwärts bewegt. Der Tod tritt jedoch erst dann ein, wenn die Schraube überdreht wird, ein Effekt, den jeder Heimwerker kennt und zu vermeiden trachtet. Britten hat dieses tödliche Vorwärtsschrauben der Geschichte in seiner Musik abgebildet. Von Szene zu Szene ähneln sich die Motive, variieren jedoch in der Ausführung, und die Musik schraubt sich immer tiefer hinein in eine existenzielle Dramatik. Die Tonalität streift dabei mehr als einmal die Grenzen des Herkömmlichen, und auch Rhythmik und Harmonik entfernen sich von den üblichen Metriken und Akkorden des frühen 20. Jahrhunderts. Diese Musik, obwohl mit herkömmlichen Orchester-Instrumenten interpretiert, verweist deutlich auf die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts und bricht mit allen melodischen und harmonischen Konventionen des 19. Jahrhunderts. Nur hin und wieder blitzen Reminiszenzen an eine ältere musikalische Epoche auf, wenn im Klavier plötzlich Figuren und Läufe auftauchen, die auch in der Romantik oder gar der Klassik nicht aufgefallen wären. Das lässt sich dann als musikalische Bebilderung der vergangenen Welt der Toten deuten. Zwischen den einzelnen Szenen verstärken instrumentale Zwischenmusiken den Eindruck des „Immer-weiter-Drehens“ der psychischen Schraube. Wenn die Handlung kurz ruht, übernimmt die Musik deren Aufgabe, auf dass die Zuschauer stets im Bann der Geschichte gehalten werden.
Lothar Krause lässt die Deutung weitgehend offen. Wenn sich dann allerdings Peter Quint alias Lasse Penttinen mit Miles (Aki Hashimoto) in dem Flügel versteckt und halb nackt wieder herauskommt (Aki Hashimoto nur in T-Shirt und Boxer-Shorts), dann ist das ein Aktualisierung angesichts pädophiler Skandale der Gegenwart, die allerdings etwas aufgesetzt wirkt, da die Geschichte diese konkreten Anhaltspunkte nicht hergibt. Bis auf diese Episode wirkt die Inszenierung jedoch wie aus einem Guss, in sich geschlossen und konsequent. Manch händeringendes Flehen der toten Miss Jessel alias Anja Vincken grenzt zwar schon an die Klischees der Stummfilmzeit, aber das sind Übertreibungen, die angesichts des Gruselthemas noch akzeptabel erscheinen. Positiv ist auf jeden Fall, dass Lothar Krause die Ambiguität der Romanvorlage erhält und keine Deutung ausschließt. Durch seinen Verzicht auf vordergründige Aktualisierungen eröffnet Krause den Blick auf die transzendentale Seite der Geschichte.
Die Darsteller glänzen durch überzeugende Leistungen, die in den kleinen Kammerspielen noch besonders zur Wirkung kommen. Susanne Serfling spielt und singt eine hoch motivierte, am Ende jedoch verzweifelte junge Frau, die mit den Erscheinungen und Ereignissen überfordert ist. Sie modelliert stimmlich und darstellerisch gleichermaßen überzeugend die frische und tatendurstige wie die besorgte und schließlich verzweifelte und in schrecken erstarrte Frau heraus. Übrigens lässt Lothar Krause sie den kleinen Miles am Schluss nicht aus Panik ersticken, sondern dieser wird von den an ihm zerrenden Kräften im bildlichen Sinne zerrissen. Anja Vincken überzieht zwar bisweilen das Händeringen der klagenden Miss Jessel im durchsichtigen Nachthemd, kann das aber dem irrationalen Charakter dieser Rolle zuschreiben. Sängerisch überzeugt auch sie mit Präsenz und Ausdrucksstärke. Auch die Nebenrollen der Haushälterin und dem Mädchen Flora sind stark besetzt. Elisabeth Auerbach verleiht der Haushälterin anfangs selbstbewusste Züge, wandelt sich dann jedoch zunehmend zur verstörten, angstbesetzten Frau. Stimmlich wahrt sie mit Susanne Serfling in den verschiedenen Zweierszenen die Augenhöhe. Samantha Gaul gelingt es, der Flora einerseits kindliche Züge zu verleihen, ohne deswegen stimmlich in kindliche Schemata zu verfallen. Besonders hervorzuheben ist Aki Hashimoto, die nicht nur durch ihre zarte Figur dafür prädestiniert ist, den kleinen Miles zu spielen, sondern die dies auch mit viel Spaß an der Darstellung eines kleinen Jungen und mit der entsprechenden Bewegungsfreude und Schalkhaftigkeit tut. Dennoch bringt sie auch die Angst des Kindes überzeugend zum Ausdruck und singt noch in den abwegigsten körperlichen Positionen ohne Qualitätseinbußen. Lasse Penttinen vertritt als einziger die Männerwelt und hat es da gleich mit einem ausgemacht unsympathischen Exemplar der Gattung zu tun. Er spielt und singt den Peter Quint jedoch mit der Lässigkeit des ausgebufften Bösewichts, der genau weiß, wie er sich seinem Opfer nähert. Die Möglichkeiten der einzigen Männerstimme nutzt er gekonnt aus, ohne deshalb das Bühnengeschehen zu dominieren.
Alln Sänger meistern ihre schwierigen Gesangspartien mit Bravour. Auch in dieser durchkomponierten Oper gibt es keine enge Orchesterführung der Sänger; oft müssen sie in den stillen Raum hineinsingen und erhalten nur kurze Orchesterkommentare, die noch nicht einmal auf wichtige Gesangsstellen im Sinne einer melodiösen oder harmonischen Unterstützung fallen müssen. Ein besonderes Kompliment hat auch das zwölfköpfige Orchester unter der Leitung von Michael Cook verdient, das den musikalischen Part halb sichtbar in einem Seitenraum der Bühne präsentiert. Die metrisch und harmonisch anspruchsvolle Partitur findet in diesem Ensemble eine präzise und stets transparente Interpretation, die auf den dramatischen Duktus des Bühnengeschehens sensibel reagiert und den Sängern stets genügend akustischen Raum für die stimmliche Entfaltung lässt.
Das Premierenpublikum bedachte diese anspruchsvolle und für alle Beteiligten anstrengende Inszenierung mit begeistertem Beifall und Bravo-Rufen für die Hauptrollen – und für das Orchester und die Regie.
Frank Raudszus
No comments yet.