Mehr als ein Ersatz….

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Beim 4. Kammerkonzert des Staatstheaters Darmstadt interpretiert Hans Christoph Begemann Schuberts „Winterreise“

In der Theatersaison 1997/98 präsentierte der damals gerade frisch am Staatstheater Darmstadt engagierte Bass-Bariton Hans Christoph Begemann Franz Schubers Liederzyklus „Winterreise“. Wir haben seinerzeit über dieses Konzert berichtet. Für diese Saison hatte das Staatstheater wiederum die „Winterreise“ vorgesehen, jedoch gesungen von dem Tenor Christoph Prégardien, der trotz seines französischen Namens Deutscher ist. Am Morgen des Konzerttages sagte Prégardien jedoch krankheitshalber ab, und das Theater stand vor dem Problem, innerhalb eines halben Tages Ersatz zu schaffen. Bei wem wurde man schließlich innerhalb dieser kurzen Zeit fündig? Ausgerechnet bei Hans Christoph Begemann, der im Jahr 2005 sein Engagement am Staatstheater Darmstadt sicherlich gerne verlängert hätte. Da er im nahen Mainz lebt und an diesem Abend offensichtlich frei war, gelang es tatsächlich, ihn für dieses Konzert zu verpflichten. Sogar sein fester Begleiter Thomas Seyboldt war an diesem Abend verfügbar. So konnte das Staatstheater nicht nur das geplante Programm anbieten, sondern auch noch mit einem erfahrenen, aufeinander eingespielten Duo.

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Franz Schubert

Es wäre natürlich reizvoll gewesen, Begemanns Interpretation mit der vor sechzehn Jahren zu vergleichen, doch die Erinnerung an jenen Abend wollte sich nicht mehr einstellen. Die Lektüre der damaligen Rezension führte jedoch zu dem überraschenden Ergebnis, dass eben dieser Bericht weitgehend auch auf das Konzert am 16. Januar 2014 passte. Das soll nicht bedeuten, dass wir hier auf eine Rezension des Abends verzichten wollen, sondern es ist ein Zeichen für die Kontinuität der künstlerischen Leistung der Interpreten, wenn auch davon auszugehen ist, dass nach so langer Zeit eine Reifung und Verfeinerung der Gesangskultur anzunehmen ist. Doch wie gesagt – ein direkter Vergleich ist nicht mehr möglich.

Hans Christoph Begemann schien sich zu freuen, an seiner alten Wirkungsstätte vor einem Publikum aufzutreten, das ihn großenteils noch aus verschiedenen Aufführungen kannte, denn er erschien mit einem verschmitzten Lächeln auf der Bühne. Das Publikum dankte es ihm mit einem langen Begrüßungsapplaus, den man fast schon demonstrativ nennen konnte. Viele Abonnenten hatten es im Jahr 2005 außerordentlich bedauert, dass Begemanns Vertrag beim Intendantenwechsel nicht verlängert worden war.

In Wilhelm Müllers Gedichtzyklus „Winterreise“ geht es vordergründig um eine verlorene Liebe. Der Wanderbursche verlässt den Ort seiner unglücklichen Liebe, kann sich aber innerlich nicht davon lösen. In zwei Zyklen von jeweils zwölf Gedichten schwankt er zwischen frohen Erinnerungen, Wehmut, Verzweiflung, unsinniger Hoffnung, trotzigem Aufbegehren, Todessehnsucht und Resignation. Ein Hauch von Abschied und Lebensüberdruss durchzieht den gesamten Zyklus. Sekundärinterpreten haben diese Gedichte als Metapher auf die Restauration verstanden, die nach den napoleonischen Befreiungskriegen jegliche freiheitlich-demokratischen Hoffnungen im Keim erstickte. Das mag für Müller bis zu einem gewissen Grad stimmen, da er als Freigeist bekannt war. Bei Franz Schuberts Vertonung kann man aber davon ausgehen, dass der Schwerpunkt auf dem Liebesleid liegt, denn einerseits ist Schubert nicht als verkappter Revolutionär bekannt, andererseits aber durchaus als ein von Liebesproblemen geplagter junger Mann. Müllers Texte dürften ihn mitten ins Herz getroffen haben, so dass sich eine Vertonung geradezu aufdrängte. Die Tatsache, dass der Müllersche Gedichtband auf dem Index der Zensur stand, sollte dabei hinsichtlich Schuberts Motivation nicht überbewertet werden.

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Hans Christoph Begemann

Auffallend sind bei den Vertonungen der einzelnen Gedichte die Metriken, die sich dem Inhalt nahtlos anschmiegen. Bereits die „Gute Nacht“ („Fremd bin ich eingezogen…“) wird von einem gleichmäßig, aber fest schreitenden Grundrhythmus getragen, der die Situation eines dumpf vor sich hinbrütenden Wanderers unterstreicht. Die Tonart d-Moll verstärkt die düstere Stimmung noch. Die „Gefror´ne Tränen“ verdeutlicht das Klavier mit einem akzentuierten Tropfenmuster, bei dem man förmlich die Tränen fallen hört.  Die „Erstarrung“ dann wieder kommt als eine alle Bewegung hemmende Verzweiflung daher, während der „Lindenbaum“ noch einmal die schönen Tage der Liebe ins Gedächtnis ruft. „Auf dem Flusse“ ist eine langsame, fast stockende Elegie, der „Rückblick“ klagt mit höchster Wehmut über den Verlust der Liebe, und das „Irrlicht“ wirkt in seinem abgründigen h-Moll geradezu beklemmend. Während die „Rast“ noch einmal eine langsam daherschreitende Ruhephase einlegt, lebt der „Frühlingstraum“ von dem abrupten rhythmischen und melodischen Kontrast von Traum und Realität.

Der zweite Teil beginnt mit der hoffnungsvollen Erwartung der „Post“, die „Der greise Kopf“ mit seiner Todessehnsucht sofort konterkariert, und „Die Krähe“ setzt noch eine ahnungsvolle Metapher des nahenden Todes hinzu. Eine „Letzte Hoffnung“ glimmt auf, doch „Im Dorfe“ zeigt sich wieder die Wirklichkeit auf bittere Weise. Die „Täuschung“  beeindruckt durch ihre ostinaten Tonfolgen, vor allem in der Klavierbegleitung, und „Der Wegweiser“ enthält längere Solopassagen des Klaviers, bei denen der Sänger beredt schweigt. Während im „Mut“ noch einmal eine trotzige Lebensbejahung durchbricht, nimmt in „Die Nebensonnen“ wieder die düstere Seelenlage überhand, und „Der Leiermann“ schließlich, als Sinnbild des Todes, führt in einen fast schon transzendenten Abgesang auf das Leben.

Hans Christoph Begemann deckte dieses breite Spektrum von emotionalen Befindlichkeiten mit hoher Feinfühligkeit im Gesang und in der Wortbildung ab. Dabei hütete er sich vor Übertreibungen in beiden Richtungen. Die leise, dunkle Verzweiflung, das trotzige Aufbegehren und die bittere Resignation kamen ihm nie als klischierte Gefühle sondern als ein facettenreiches Ton- und Textgebilde aus den feinsten Gemütsschwankungen über die Lippen. Innerhalb einer Strophe konnte er sich vom düsteren Flüstern zum bedrängten Aufbegehren aufschwingen oder emotional plötzlich in sich zusammensinken, je nachdem, was der Text verlangte. Thomas Seyboldt war ihm dabei ein so unauffälliger wie effizienter Begleiter. Seine körperliche Ruhe ließ die Aufmerksamkeit auf dem Sänger ruhen; sein Spiel versuchte nie, den Sänger zu überflügeln, unterstützte und verstärkte ihn jedoch da, wo es angeraten war. Gerade durch sein zurückgenommenes Spiel trug Seyboldt entscheidend zu dem dichten Gesamteindruck bei.

Ein Maßstab für die Intensität und Qualität eines Gesangsvortrags ist stets der Grad der Ruhe im Publikum. Bei diesem Konzert hörte man lange Zeit nicht einmal einen Huster, und wenn, dann sehr unterdrückt. Über längere Strecken des auf Pausen verzichtenden Vortrags herrschte vollständige Stille im Saal. Nach dem Verklingen der letzten Töne des „Leiermann“ verharrten Begemann und Seyboldt in ihrer Vortragshaltung, und das Publikum folgte ihnen in absoluter Stille für nahezu eine ganze Minute, bevor der erste Beifall einsetzte. Dann aber zeigten die Zuhörer mit begeistertem Applaus, dass sie Hans Christoph Begemanns Auftritt für alles andere als einen Ersatz hielten. Wie auch immer Christoph Prégardien sich hier präsentiert hätte – er wurde am Ende dieses Abends nicht vermisst.

Frank Raudszus

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