Das menschliche Gesicht und dabei vor allem der Blick in all seinen Facetten hat bildende Künstler, vor allem Maler, schon immer fasziniert. Daher die vielen Porträts, die auf die Darstellung des restlichen Körpers verzichten, sich auf die Gesichtszüge und auf den Ausdruck konzentrieren und versuchen, die seelische Befindlichkeit des Porträtierten herauszuarbeiten. Und wenn mal kein Porträt-Modell zur Verfügung stand, haben sich Maler auch gerne selbst abkonterfeit und dabei mehr über sich ausgesagt als viele ihrer anderen Bilder zusammen.
Das Frankfurter Städel-Museum verfügt über eine umfangreiche Graphik-Sammlung mit Zeichnungen, Lithographien, Radierungen und Ergebnissen verwandter Techniken. Aus dieser Sammlung hat die Kuratorin Dr. Jutta Schild für die Ausstellung „Vis-à-vis. Bildnisse in der Graphischen Sammlung“ einhundert Porträts herausgesucht und in chronologischer Anordnung zusammengestellt. Dabei beschränkt sie sich auf den Zeitraum der „Moderne“ vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart.
Dabei widmet sie auch der technischen Weiterentwicklung entsprechende Aufmerksamkeit: im Jahr 1839 kam mit der Daguerreotypie der Vorläufer der heutigen Fotographie mit einer damals bereits erstaunlich hohen Qualität auf den Markt und setzte sich in kurzer Zeit weltweit durch. Das änderte den Markt der kommerziellen und künstlerischen Porträterstellung dramatisch. Für die gewerbsmäßige Erstellung von Porträts war nicht mehr die zeitaufwändige Malerei oder Zeichnung erforderlich, aber auch die nur der Kunst verpflichteten Maler mussten sich mit der Konkurrenz dieser hohen Detailgenauigkeit auseinandersetzen. Die Künstler begannen daher, sich vom puren Realismus abzuwenden und den Schwerpunkt auf die emotionale und soziale Ausdruckskraft zu verlegen und betraten damit den Weg zur ungegenständlichen Moderne. Daher beinhaltet diese Ausstellung bewusst eine Reihe von frühen Fotographien, die den Übergang von der manuellen Zeichnung zu der neuen Technik verdeutlichen.
Unter den hier versammelten Künstlern findet man viele bekannte Namen, unter anderen Francisco de Goya, Édouard Manet, Vincent van Gogh, Edvard Munch, Käthe Kollwitz, Max Beckmann, Ernst Ludwig Kirchner und Olaf Gulbransson. Der Reiz besteht auch darin, dass man so manchen dieser Künstler eher von farbintensiven und ausdrucksstarken Gemälden kennt, nicht aber von der Bleistiftzeichnung oder der Radierung. Dabei entdeckt man auch zum beispiel Vorstudien zu bekannten Gemälden, etwa van Goghs „Dr. Gachet“ oder Monets „Berthe Morisot“. Die Fotografie ist nicht nur implizit in Gestalt ihrer Auswirkungen auf die bildnerische Gestaltung präsent sondern auch in Gestalt mehrerer früher fotografischer Aufnahmen, die als reizvoller Kontrast zu den herkömmlichen graphischen Werken präsentiert werden.
Bei den Porträts kommt es auch zu delikaten oder humoristischen Nachbarschaften. So hängt Karl Marx ausgerechnet neben dem US-Präsidenten William Howard Toft, und Lovis Corint schaut auf seinen Sohn Thomas. Außerdem sind eine Reihe eindrucksvoller Selbstporträts zu sehen: Max Beckmann schaut mit dem leeren Blick des vom Ersten Weltkrieg Traumatisierten aus dem Bild heraus, ein anderes Porträt zeigt Ernst Ludwig Kirchner mit harten Zügen in kontrastreichem Schwarz-Weiß, und Käthe Kollwitz ist gleich in multiplen Selbstdarstellungen unterschiedlicher Machart vertreten.
Diese Ausstellung versammelt nicht die Werke der großen Geste, sondern eher in sich gekehrte graphische Arbeiten, die jedoch über den Weg der Physiognomie viel aussagen über die seelische Konstitution der jeweils Porträtierten. Der Besucher tritt bei fast jedem Bild in ein Zwiegespräch mit der dargestellten Person, das wegen der Abwesenheit weiterer Figuren geradezu intimen Charakter annimmt. Man sollte die Tatsache nutzen, dass solche Kleinode wieder einmal Freigang aus den Archiven haben.
Die Ausstellung ist vom 19. Februar bis zum 11. Mai dienstags, mittwochs, samstags und sonntags von 10 bis 18 Uhr sowie donnerstags und freitags von 10 bis 21 Uhr geöffnet.
Weitere Informationen sind auf der Webseite des Städel-Museums zu finden
Frank Raudszus
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