Am 13. Februar stand ein musikalischer Leckerbissen auf der „Speisekarte“ der Kammermusik-Abende des Staatstheaters Darmstadt. Wie es jedoch bei Spezialialitäten der Fall ist, konnten nur Kenner des Geigenspiels den Stellenwert dieses Konzerts in vollem Umfang erkennen – und genießen. Die Laien auf diesem Instrument – wie der Rezensent – mussten sich auf die Ausführungen im Programmheft verlassen und die Beurteilung ansonsten ihrem intuitiven Musikgefühl überlassen. Bei genauem Hinhören und -schauen ließen sich jedoch die virtuosen Anforderungen erahnen und die Qualität des Konzertes erkennen.
Auf dem Programm standen zwölf der sechzehn „Rosenkranz-Sonaten“ des Barock-Komponisten Ignaz Franz von Biber (1644-1704), gespielt von dem auf alte Musik spezialisierten Geiger Daniel Sepec aus Hamburg. Ihm zur Seite standen in diesem Konzert Hille Perl an der Viola da Gamba, Michael Behringer an Cembalo und Orgel sowie Michael Freimuth an der Erzlaute bzw. Theorbe, der kurzfristig für den erkrankten Lee Santana eingesprungen war.
Ignaz Franz Biber wurde am Ende des Dreißigjährigen Krieges geboren. Wenn man davon ausgeht, dass dieser schrecklichste Krieg vor dem 20. Jahrhundert zwei Generationen traumatisierte – die Zeitgenossen und deren Kinder -, versteht man die klagende, weltabgewandte Musik des 17. Jahrhunderts. Was Gryphius in der Literatur, war Biber in der Musik. Seine Rosenkranz-Sonaten sind dafür ein gutes Beispiel. Sie entstanden zwar erst 1670, also über zwanzig Jahre nach dem Westfälischen Frieden, spiegeln jedoch das Leid des großen Krieges wider, das sich in die kollektive Seele des deutschsprachigen Raumes hineingefressen hatte. Die Hinwendung zu Gott als Tröster in einem erhofften jenseitigen Leben und die tiefe Versenkung in die Religion prägen diese Sonaten.
Inhaltlich vertonen die Sonaten Leben und Sterben Jesu Christi. Der Zyklus beginnt mit der Verkündigung Mariae in der ersten Sonate, setzt sich fort mit dem Leben Jesu, der Gefangennahme (Jesus am Ölberg), der Kreuzigung und der Auferstehung und endet mit der Himmelfahrt Jesu und Mariae. Allen Sonaten ist ein klagender, schmerzlicher Grundton eigen, der sich zeitweise zu einem Aufschrei verdichtet. Demütige Unterwerfung unter das unerforschliche Walten der göttlichen Macht und eine sehnsüchtige Hoffnung auf ein besseres Jenseits prägen die Sonaten auf je eigene Weise.
Das bedeutet jedoch nicht, dass die Sonaten austauschbar sind. Jede weist ihren eigenen Charakter auf, je nachdem, welche Phase in der Lebens- und Leidensgeschichte Jesu sie beschreibt. Dabei hat sich Biber einer besonderen Technik bedient, die man so in einem Werkzyklus sonst nicht kennt, der sogenannten „Skordatur“. Dabei wird die Geige für jedes Stück – hier Sonate – unterschiedlich gestimmt, je nachdem, welche Klangwirkung erzielt und welche Doppelgriffe ermöglicht werden wollen. In den sechzehn Rosenkranzsonaten sind nur zwei Stimmungen identisch: die erste und die letzte. Damit schließt sich in diesem Zyklus auch der Kreis der Stimmungen.
Im Solopart auf der Violine war Daniel Sepec von Anfang bis Ende gefordert. Für ihn gab es keine Erholungspause, da er nicht nur in jede Sonate das Solo-Instrument spielte, sondern auch innerhalb jeder Sonate bis auf ganz wenige, kurze Stellen durchgängig führte. Dabei laufen die meisten Sonaten nach einem ähnlichen Schema ab. Am Anfang steht das Thema, zum Beispiel in Gestalt eines Präludiums, einer Chaconne oder einer Allemande, danach folgen oft Variationen oder auch einmal ein Adagio. Die Variationen verarbeiten dabei das harmonische und motivische Material entsprechend dem Ausdruckscharakter des Stücks.
Wegen der unterschiedlichen Stimmlagen der einzelnen Sonaten hätte die permanente Umstimmung der Geige zu einer Ermüdung der Saiten und damit zu Qualitätseinbußen geführt. Deshalb kam Daniel Sepec mit sechs Violinen, die alle auf einem Tisch neben dem Quartett lagen und dort auf ihren Einsatz warteten. Doch auch der Geigenwechsel ging nicht ohne Einstimmung vonstatten, schon allein, weil bei zwölf verschiedenen Stimmlagen statistisch jede Violine zweimal an der Reihe war. So ging jeder Sonate ein kurzer Einstimmvorgang voraus, an den sich das Publikum aber schnell gewöhnte. Jedesmal schaute Daniel Sepec dann einige Augenblicke lang still ins Publikum, um seine Aufmerksamkeit auf das neue Stück zu fokussieren – und wohl auch, um das Publikum unterschwellig zur Ruhe aufzufordern. Denn bei diesem intimen Konzert der leisen und klagenden Töne fiel jeder Huster doppelt ins Gewicht. Leider konnten einige Besucher auch hier nicht an sich halten oder zumindest bis zu einer „Forte“-Stelle warten, von denen es auch einige gab.
Doch abgesehen von diesen kleinen akustischen Unschönheiten verhielt sich das Publikum ausgesprochen diszipliniert und gab dem Solisten die Stille, die er für eine konzentrierte Interpretation der Sonaten benötigte. Diese Ruhe kostetet er denn auch aus und bedankte sich mit einem einzigartigen Vortrag. Nicht nur zeigte er dabei höchstes technisches Können, so bei einer Vielzahl von Doppelgriffen oder schnellen Läufen, sondern seine die Interpretation eröffnete einen geschlossenen musikalischen Raum, der von Sonate zu Sonate das Publikum mental weiter in die Barockzeit zurückführte. Glücklicherweise verzichteten die Zuhörer zwischen den einzelnen Sonaten auf Beifall, um diese besondere Atmosphäre nicht zu zerstören. Nur einmal, nach einer besonders schwierigen und expressiven Sonate, kam spontaner Szenenbeifall auf.
Im Programmheft hatte Sepec vorher einen Beitrag mit Anmerkungen über die einzelnen Sonaten und ihren musikalischen Bezug zum Thema „Leben Jesu“ verfasst. Das erlaubte dem Publikum, Leben und Leiden Jesu sozusagen am dramatischen Duktus der Musik nachzuempfinden. So konnte man die Peitschenschläge der Geißelung ebenso nachvollziehen wie die Mühsal beim Tragen des eigenen Kreuzes, das tiefe Leiden beim Tod am Kreuz oder den Jubel bei der Auferstehung und der Himmelfahrt, wenn auch der Jubel in der Barockzeit selten ausgelassen ausfällt, sondern sich eher als kontrollierte religiöse Ekstase und seelische Erleichterung äußert. Daniel Sepec brachte seine sechs Geigen in verschiedenen Stimmlagen derart zum Klingen, dass all die beschriebenen Gemütslagen geradezu körperlich zum Ausdruck kamen. Von tiefster Klage bis zur erlösenden Freude entlockte er seinen Instrumenten jedes Gefühl und hielt die Zuhörer bis zum letzten Augenblick des Konzerts in seinem Bann.
Dabei sollte man jedoch seine Mitspieler nicht vergessen. Sie traten freiwillig hinter den Solisten zurück, lieferten ihm dafür jedoch ein harmonisches und rhythmisches Umfeld, das den jeweiligen musikalischen Ausdruck verstärkte oder ergänzte. Die richtige Dosierung dieser Nebenstimmen – zwischen konkurrierend und verschwindend – zu finden ist eine Kunst, die Hille Perl, Michael Behringer und Michael Freimuth an diesem Abend perfekt beherrschten.
Das fachkundige Publikum – man hörte es an den Pausengesprächen – war begeistert und dankte vor allem Daniel Sepec mit begeistertem Beifall, in den übrigens auch die anderen Musiker einstimmten. Daraufhin spielte er als Zugabe noch eine Passacaglia von Ignaz Franz von Biber.
Frank Raudszus
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