Jürgen Wiebicke: „Dürfen wir so bleiben, wie wir sind?“

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Eine „philosophische Intervention“ gegen die künstliche Selbstverbesserung des Menschen

Seit Jahrtausenden hat sich die Menschheit in der Kunst der Selbstverbesserung geübt. Peter Sloterdijk hat dies in seinem Buch „Du musst dein Leben ändern“ anschaulich dargestellt. Der Philosoph und Journalist Jürgen Wiebicke geht dasselbe Thema aus einer speziellen Perspektive an. Bei ihm geht es nicht mehr um das „Üben“ eines physisch und psychisch „authentischen“ Menschen, sondern um die Änderung oder Manipulation der biologischen Grundausstattung des Menschen zum Zwecke größeren individuellen Erfolgs, wie immer sich dieser auch niederschlagen mag.

Wiebicke deckt in seinem Buch ein weites Feld „autoplastischer“ Veränderungen ab und kann daher zwangsläufig jedem Thema nur einen begrenzten analytischen Tiefgang widmen. Er beginnt mit der Dualität „Mensch – Tier“ und der anthropozentrischen Sicht des Menschen auf das Tier, das seinen Wert nur durch die „Nutzbarkeit“ für den Menschen erhält. Dabei diskutiert er eingehend das Problem der Tierversuche und greift die Argumente der Befürworter einzeln auf und an, ohne deswegen die Gegenargumente in Bausch und Bogen zu übernehmen. Hier zeigt er zwar eine deutliche Tendenz „Pro Tier“, nimmt jedoch die Argumente der Befürworter durchaus ernst und räumt ihnen auch eine gewisse Berechtigung ein.

Ein Kapitel widmet er dem Thema „Sterben“, dem Freitod und der Sterbehilfe. Auch hier lehnt er selbst aktive Sterbehilfe nicht rundweg ab sondern diskutiert die Problematik durchaus im Detail. Die große Gefahr sieht er jedoch darin, dass nach dem anfänglichen „Dammbruch“, der seiner Meinung nach mit der grundsätzlichen Erlaubnis der passiven Sterbehilfe längst erfolgt ist, eine nicht mehr aufzuhaltende Entwicklung einsetzen wird, die gerade im Zeichen der demographischen Entwicklung die grundsätzliche Frage eines „lebenswerten“ Lebens irgendwann aus einem finanziellen Gesichtspunkt beantworten könnte. In diesem Zusammenhang diskutiert Wiebicke auch das Thema der Organtransplantation und die damit zusammenhängende Definition des „Hirntods“. Wurde früher der Tod Stunden nach Aussetzen des Herzschlags und nach Einsetzen der Totenstarre festgestellt, wird er heute am pulsierenden und atmenden Körper aufgrund der fehlenden Hirnströme definiert. Diese „freihändige“ Definition von Leben und Tod erfolgt nicht mehr aufgrund einer existenziellen Betrachtung des Sterbenden sondern aus der utilitaristischen Perspektive der Organtransplantation. „Cui bono?“. Auch hier sieht Wiebicke den „Dammbruch“ als längst vollzogen an und erwartet künftig eher aufgeweichte als strengere Kriterien. Als Argument dafür zieht er die Tatsache heran, dass erste Zweifel an der Gültigkeit der Hirntod-Hypothese weder bei führenden medizinischen Einrichtungen noch bei Politikern irgendwelche Reaktionen hervorgerufen haben. Die lebenden Kranken haben halt eine größere Lobby (und mehr Wählerstimmen) als Komapatienten.

Ein weiteres Kapitel widmet Wiebicke der Bio-Ethik, die derzeit Hochkonjunktur hat. Unter dem vermeintlich ethischen Mantel verbergen sich für Wiebicke handfeste Interessen. Ein Indiz sieht er darin, dass die allerorten neu entstandenen bio-ethischen Gremien entweder von Vertretern der Pharmaindustrie oder dieser nahe stehenden Experten besetzt werden und – zumindest teilweise – von der Pharmaindustrie gefördert werden. Diese hat längst eine Reihe von Medikamenten für die Steigerung von Intelligenz, Wachheit und Leistungsfähigkeit entwickelt und bietet damit dem potentiellen Kunden die Möglichkeit, sich im Konkurrenzkampf der Leistungsgesellschaft einen Vorteil zu verschaffen. Für die Gegner dieser Art von „Selbststeigerung“ sieht Wiebicke ein Dilemma heraufziehen. Machen sie nicht mit, verlieren sie das Rennen um die ersten Plätze, machen sie mit, riskieren sie die – bis heute unbekannten – Nebenwirkungen dieser leistungsverstärkenden „Drogen“. Wiebicke nimmt hier klar Stellung gegen diesen neuen Trend, wobei er die Leistungsgesellschaft selbst mit als Ursache sieht. Obwohl er es nicht offen ausspricht, schimmert zwischen den Zeilen die Aufforderung durch, das Leistungs- und Konkurrenzdenken zu überwinden. Da er dies nur implizit andeutet, entgeht er der Fragestellung, wie eine Gesellschaft ohne Konkurrenzdruck vernünftig funktionieren könnte. Die Geschichte bietet hier keine hoffnungsvollen Ansätze.

Gerade bei den „Gehirn-Enhancements“, wie die Vertreter der Pharmaindustrie die letztlich bewusstseinsverändernden Leistungsverstärker euphemistisch umschreiben, sieht er eine schleichende Akzeptanz unter der Fahne der individuellen Freiheit, die jedem zugestehe, mit seinem Körper nach Belieben umzugehen. Dass dies jedoch erhebliche Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft haben könne, übersähen die Verteidiger der „schönen neuen Welt“ geflissentlich. In diesem Zusammenhang verweist er auch auf Versuche, die Moral nicht nur für Kriminelle und andere Problemfälle durch bewusstseinsverändernde Medikamente zu steuern, sondern letztlich breite Bevölkerungskreise, angefangen bei den Kindern, per Medizin moralisch aufzurüsten. Der Mensch sei bei diesen Konzepten kein autonomes Individuum mit Entscheidungsfreiheit mehr sondern nur noch eine Maschine, die man pharmazeutisch beliebig steuern könne. George Orwell lässt grüßen.

Wiebicke kreiert nebenbei den Begriff des „Gefühlskapitalismus“, den er in dem „immer mehr“ und „immer schneller“ des heutigen Lebensstils sieht. Die Gier betrifft nicht (nur) das Geld, sondern alle vermeintlich wichtigen Fähigkeiten und Erlebnisse, die man sich unter dem Druck einer individualistischen Ideologie aneignen müsse. Die Autonomie des Ichs sei längst vom Segen der Aufklärung zum Fluch des Leistungsterrors verkommen. Der heutigen Gesellschaft sei der Zwang zum individuellen Erfolg gegen konkurrierenden Mitmenschen inhärent geworden. Das führe letztlich dazu, dass die Menschen alle Optionen für die Verbesserung der eigenen Position in Erwägung zögen und letztlich auch nutzten. Auch hier kommt wieder Wiebickes Zweifel an unserem – westlichen – Lebensstil zum Ausdruck.

Diese Kritik führt dann zwangsläufig zur „Naturethik“, d.h. der Frage, wie der Mensch sich zur Natur stellt. Neben der herkömmlichen – und naiven! – anthropozentrischen Sicht, die die Natur als Ressource für die Menschen betrachtet, unterscheidet er im Rückgriff auf den Philosophen und Biologen Martin Gorke die „Mitleidsethik“. die allen des Leidens fähigen Lebewesen besonderen Schutz angedeihen lassen will, die bio-zentrische Ethik, die unterschiedslos alle Lebewesen schützen will, und schließlich die „holistische“ Ethik, die die gesamte Natur (vor dem Menschen) schützen will. Dass die Befolgung der beiden letzteren Varianten zur mehr oder weniger freiwilligen Selbstauslöschung der Menschheit führen würde, ist ihm klar, und deshalb führt er sie auch nur der Vollständigkeit halber auf. Das „weiter so“ einschließlich der gnadenlosen Ausbeutung der Natur bei weiterhin wachsender Weltbevölkerung führt für ihn jedoch zwangsläufig in die Katastrophe einschließlich schwerster Naturkatastrophen und weltweiter Kriege um die letzten Ressourcen.

Aus diesem Grund plädiert Wiebicke für ein möglichst schnelles Umschalten auf einen umweltverträglicheren Lebensstil vor allem in den Industrieländern, da jede bewusste Einschränkung immer noch – materiell und ideell  – preiswerter sei als der aufgezwungene Zusammenbruch aller zivilisatorischen Ordnung.

Wiebickes Buch legt den Finger in die offenen Wunden der Zeit, und der Autor nimmt bei der Beschwörung der heraufdämmernden oder bereits präsenten Gefahren kein Blatt vor den Mund. Die einzige Schwäche dieses Buches besteht vielleicht darin, dass er zu viele Teilgebiete abdecken will, was dazu führt, dass er das jeweilige Thema nur anreißen, einige konträre Ansichten präsentieren und seine eigene Sicht äußern kann. Tiefer gehende Analysen sind im Rahmen dieses Buches und angesichts der Vielfalt nicht möglich. Außerdem fehlen – ein gravierender Mangel! – ein Literaturverzeichnis sowie ein Register, die ein schnelles Auffinden bestimmter Themen und Begriffe erleichtern würden.

Das Buch „Können wir so bleiben, wie wir sind“ ist im Verlag Kiepenheuer & Witsch unter der ISBN 978-3-462-04584-0 erschienen, umfasst 238 Seiten und kostet 14,99 €.

Frank Raudszus

 

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